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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Der Militarismus der Sozialdemokratie

Unglück, daß die junge Königin Viktoria über zwei hadernde Nationen statt einer
einigen regierte. Das ist also die diametral entgegengesetzte Ansicht von der eines
anscheinend französischen Anonymus, der in einer Zuschrift an den "Vorwärts"
vom 29. September dieses Jahres es für verdienstlich hält, nötigenfalls den
nationalen Krieg durch den Bürgerkrieg zu verhindern. Shbil schließt mit dem
patriotischen Wunsch, daß England eine freie Monarchie und ein gutregiertcs
und wohlhabendes Volk haben möge, und sein Verfasser hofft für die Erfüllung
dieses Wunsches auf die Jugend seiner englischen Nation. Dieser Roman ist
ein Loblied auf den Staatssozialismus. Liebknecht kann das Zitat aus Dis-
raeli für seine Zwecke gar nicht gebrauchen, er thäte besser, es aus dem Spiele
zu lassen. Kommt einmal ein neuer Natioualitätenkampf, wenn man so sagen
will, von reich und arm, zu dem alten, der nicht erstorben ist, hinzu, treffen
sie beide vielleicht in demselben Augenblick zusammen, versuchen sich etwa die
Menschen neben dem Völkerkrieg im Vvlksstreik oder gar neben dem Weltkrieg
zugleich auch im Wettstreit, so werden wir mehr Krieg und Brand und Elend
haben als je zuvor.

Trotz alledem ist die Sozialdemokratie immerhin wenigstens so vernünftig
und ehrlich, die Thatsache, daß wir in einer durchaus kriegerischen Zeit leben,
nicht zu bestreikn, in einer Zeit, wo man nur durch eine Rüstung von Kopf
zu Fuß den Frieden zu erzwingen hoffen könne. Bezeichnend ist die Antwort,
die der "Vorwärts" Herrn Professor v. Gizhcki auf eine Berichtigung über
die Zwecke der deutschen Gesellschaft für ethische Kultur hat zu teil werden
lassen. Der "Vorwärts" meinte, daß der Boden für die ethische Kultur, die
v. Gizhcki gepflegt wünsche, "erst im harten Kampfe errungen sein" wolle;
jener antizipire als gegenwärtig vorhanden, was höchstens ein frommer Wunsch
sei. Die Sozialdemokratie stellt sich dreist vor die Regierungen hin, wie jener
Römer vor die Karthager, und bittet sie zu wählen: Frieden oder Krieg?
Aber die Schwärmer für die allgemeine Abrüstung bilden sich ein, sie hätten
nur nötig, Beschlüsse zu fassen lind geharnischte Proteste zu erlassen, damit sich
alle zu dem Nus vereinigen: Die Waffen nieder! Wenn sie wirklich die ernst¬
liche Absicht Hütten, den Krieg für immer zu verhindern, die freilich ebenso
unmöglich durchzuführen ist, wie die Absicht der Sozialdemokratie, die "Knecht¬
schaft" in jeder Form zu beseitigen, so müßten sie sich nicht nur gegen die
Völkertricge, sondern auch gegen den Klassenkampf und gegen den Geistcrkcnnpf
mit seinen kriegerischen Worten und Gedanken erklären, so müßten sie sich,
wie Björnstjerne Björnson ganz folgerichtig schließt, gegen alle Kriegsgedanken
des menschlichen Herzens erklären. Sie sollten sich aber doch nicht den Wahn
in den Kopf setzen, daß sie bei Experimenten dieser kindlichen Art die Sozial¬
demokratie auf ihrer Seite hätten. Alle die Vorwürfe, die Frau von Suttner
gegen die nationalen Kriege erhebt, lassen sich auch auf die sozialen Kämpfe
beziehen; auch hier ist "immer der andre" der kriegwünschende. Immer dem


Der Militarismus der Sozialdemokratie

Unglück, daß die junge Königin Viktoria über zwei hadernde Nationen statt einer
einigen regierte. Das ist also die diametral entgegengesetzte Ansicht von der eines
anscheinend französischen Anonymus, der in einer Zuschrift an den „Vorwärts"
vom 29. September dieses Jahres es für verdienstlich hält, nötigenfalls den
nationalen Krieg durch den Bürgerkrieg zu verhindern. Shbil schließt mit dem
patriotischen Wunsch, daß England eine freie Monarchie und ein gutregiertcs
und wohlhabendes Volk haben möge, und sein Verfasser hofft für die Erfüllung
dieses Wunsches auf die Jugend seiner englischen Nation. Dieser Roman ist
ein Loblied auf den Staatssozialismus. Liebknecht kann das Zitat aus Dis-
raeli für seine Zwecke gar nicht gebrauchen, er thäte besser, es aus dem Spiele
zu lassen. Kommt einmal ein neuer Natioualitätenkampf, wenn man so sagen
will, von reich und arm, zu dem alten, der nicht erstorben ist, hinzu, treffen
sie beide vielleicht in demselben Augenblick zusammen, versuchen sich etwa die
Menschen neben dem Völkerkrieg im Vvlksstreik oder gar neben dem Weltkrieg
zugleich auch im Wettstreit, so werden wir mehr Krieg und Brand und Elend
haben als je zuvor.

Trotz alledem ist die Sozialdemokratie immerhin wenigstens so vernünftig
und ehrlich, die Thatsache, daß wir in einer durchaus kriegerischen Zeit leben,
nicht zu bestreikn, in einer Zeit, wo man nur durch eine Rüstung von Kopf
zu Fuß den Frieden zu erzwingen hoffen könne. Bezeichnend ist die Antwort,
die der „Vorwärts" Herrn Professor v. Gizhcki auf eine Berichtigung über
die Zwecke der deutschen Gesellschaft für ethische Kultur hat zu teil werden
lassen. Der „Vorwärts" meinte, daß der Boden für die ethische Kultur, die
v. Gizhcki gepflegt wünsche, „erst im harten Kampfe errungen sein" wolle;
jener antizipire als gegenwärtig vorhanden, was höchstens ein frommer Wunsch
sei. Die Sozialdemokratie stellt sich dreist vor die Regierungen hin, wie jener
Römer vor die Karthager, und bittet sie zu wählen: Frieden oder Krieg?
Aber die Schwärmer für die allgemeine Abrüstung bilden sich ein, sie hätten
nur nötig, Beschlüsse zu fassen lind geharnischte Proteste zu erlassen, damit sich
alle zu dem Nus vereinigen: Die Waffen nieder! Wenn sie wirklich die ernst¬
liche Absicht Hütten, den Krieg für immer zu verhindern, die freilich ebenso
unmöglich durchzuführen ist, wie die Absicht der Sozialdemokratie, die „Knecht¬
schaft" in jeder Form zu beseitigen, so müßten sie sich nicht nur gegen die
Völkertricge, sondern auch gegen den Klassenkampf und gegen den Geistcrkcnnpf
mit seinen kriegerischen Worten und Gedanken erklären, so müßten sie sich,
wie Björnstjerne Björnson ganz folgerichtig schließt, gegen alle Kriegsgedanken
des menschlichen Herzens erklären. Sie sollten sich aber doch nicht den Wahn
in den Kopf setzen, daß sie bei Experimenten dieser kindlichen Art die Sozial¬
demokratie auf ihrer Seite hätten. Alle die Vorwürfe, die Frau von Suttner
gegen die nationalen Kriege erhebt, lassen sich auch auf die sozialen Kämpfe
beziehen; auch hier ist „immer der andre" der kriegwünschende. Immer dem


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[0415] Der Militarismus der Sozialdemokratie Unglück, daß die junge Königin Viktoria über zwei hadernde Nationen statt einer einigen regierte. Das ist also die diametral entgegengesetzte Ansicht von der eines anscheinend französischen Anonymus, der in einer Zuschrift an den „Vorwärts" vom 29. September dieses Jahres es für verdienstlich hält, nötigenfalls den nationalen Krieg durch den Bürgerkrieg zu verhindern. Shbil schließt mit dem patriotischen Wunsch, daß England eine freie Monarchie und ein gutregiertcs und wohlhabendes Volk haben möge, und sein Verfasser hofft für die Erfüllung dieses Wunsches auf die Jugend seiner englischen Nation. Dieser Roman ist ein Loblied auf den Staatssozialismus. Liebknecht kann das Zitat aus Dis- raeli für seine Zwecke gar nicht gebrauchen, er thäte besser, es aus dem Spiele zu lassen. Kommt einmal ein neuer Natioualitätenkampf, wenn man so sagen will, von reich und arm, zu dem alten, der nicht erstorben ist, hinzu, treffen sie beide vielleicht in demselben Augenblick zusammen, versuchen sich etwa die Menschen neben dem Völkerkrieg im Vvlksstreik oder gar neben dem Weltkrieg zugleich auch im Wettstreit, so werden wir mehr Krieg und Brand und Elend haben als je zuvor. Trotz alledem ist die Sozialdemokratie immerhin wenigstens so vernünftig und ehrlich, die Thatsache, daß wir in einer durchaus kriegerischen Zeit leben, nicht zu bestreikn, in einer Zeit, wo man nur durch eine Rüstung von Kopf zu Fuß den Frieden zu erzwingen hoffen könne. Bezeichnend ist die Antwort, die der „Vorwärts" Herrn Professor v. Gizhcki auf eine Berichtigung über die Zwecke der deutschen Gesellschaft für ethische Kultur hat zu teil werden lassen. Der „Vorwärts" meinte, daß der Boden für die ethische Kultur, die v. Gizhcki gepflegt wünsche, „erst im harten Kampfe errungen sein" wolle; jener antizipire als gegenwärtig vorhanden, was höchstens ein frommer Wunsch sei. Die Sozialdemokratie stellt sich dreist vor die Regierungen hin, wie jener Römer vor die Karthager, und bittet sie zu wählen: Frieden oder Krieg? Aber die Schwärmer für die allgemeine Abrüstung bilden sich ein, sie hätten nur nötig, Beschlüsse zu fassen lind geharnischte Proteste zu erlassen, damit sich alle zu dem Nus vereinigen: Die Waffen nieder! Wenn sie wirklich die ernst¬ liche Absicht Hütten, den Krieg für immer zu verhindern, die freilich ebenso unmöglich durchzuführen ist, wie die Absicht der Sozialdemokratie, die „Knecht¬ schaft" in jeder Form zu beseitigen, so müßten sie sich nicht nur gegen die Völkertricge, sondern auch gegen den Klassenkampf und gegen den Geistcrkcnnpf mit seinen kriegerischen Worten und Gedanken erklären, so müßten sie sich, wie Björnstjerne Björnson ganz folgerichtig schließt, gegen alle Kriegsgedanken des menschlichen Herzens erklären. Sie sollten sich aber doch nicht den Wahn in den Kopf setzen, daß sie bei Experimenten dieser kindlichen Art die Sozial¬ demokratie auf ihrer Seite hätten. Alle die Vorwürfe, die Frau von Suttner gegen die nationalen Kriege erhebt, lassen sich auch auf die sozialen Kämpfe beziehen; auch hier ist „immer der andre" der kriegwünschende. Immer dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/415>, abgerufen am 26.04.2024.