Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutschland und Rußland

wenigstens verdeckt, Fürst Bismarck wurde Sündenbock und Gortschakow-Jsnal
war gerettet, DaS war nicht eben liebenswürdig gegen den alten Freund,
aber eine ebenso praktische Taktik, als die spätere Tändelei und'zFrankreich,
Auch hatte sich Alexander der Zweite doch zu lange und zu stark von Mei¬
nungen und Neigungen der politisirenden Menge tragen lassen, um nach 1878
die alte dynastische Freundschaft zu dem Hofe von Berlin völlig ungetrübt
erhalten zu können. Der wachsende Unwille über den schlechten Frieden von
1878, die verhaltnen, aber heftigen Vorwürfe wegen der russischen Haltung
in deu Jahren 1870 und 1871, die immer deutlicher deu Mißerfolg von 1878
aus das Konto der falschen Politik von 1870 setzten, dann die um sich fressenden
Wühlereien der Nihilisten, das alles floß zu einem Strome von öffentlicher
Stimmung zusammen, der gegen alle europäische und besonders gegen die
deutsche Freundschaft gerichtet war. Und dem Drängen dieses Stromes ver¬
mochte sich auch der Wille des Zaren nicht zu entziehen, trotz seiner Ver¬
ehrung für Kaiser Wilhelm den Alten und trotz seines Vertrauens zu dem
eisernen Kanzler. Das Verhältnis Rußlands war in den letzten Regieruugs-
jahreu Alexanders des Zweiten bei weitem nicht mehr so freundschaftlich wie
in der Zeit bis 187".

Mit dem Tode Alexanders des Zweiten endete die traditionelle dynastische
Freundschaft; sein Nachfolger machte Slawismus und Orthodoxie zu den
Grundpfeilern des Staatsbaues und nahm damit die Leitung jenes gegen
Europa gerichteten, besonders Deutschland treffenden Stromes in die Hand.
Unter dieser Leitung wuchsen das nationale Selbstgefühl und der kirchliche
Anspruch offen empor, gepflegt vo" Leuten wie Tolstoi, Pobjedonoszew,
Jgnatjew n, s, w., die man gewiß nicht polnischer, jüdischer oder nihilistischer
Neigungen anklagen wird, lind mit den nationalen und kirchlichen Ansprüchen
ergab sich die Verschärfung des Gegellsatzes zu Deutschland von selbst, die
den Fürsten Bismarck zum Abschluß des Dreibundes trieb, noch ehe der Gegen¬
satz seine offne Sanktion vom Zarenthrone her erfuhren hatte. Diese erfolgte
erst nach dem Tode Wilhelms des Alten. Und zwar nnter der Mithilfe und
dem Beifall der großen Mehrheit des politischen Russentums, Die Erschei¬
nung ist im Grnnde so einfach und natürlich, daß sie durchaus nicht der Er¬
klärung durch polnisch-jiidisch-nihilistische Pläne bedarf; ein Rückblick auf die
Geschichte dieses Jahrhunderts genügt, zu verstehen, wie sich Nußland durch
eine Stellung in Europa, die seine innere Bedeutuug weit überragte, ver¬
wöhnt, in nationaler und liberaler Gährung begriffen, in seinem Innern einer
im Schnee steckenden und keuchend, aber vergeblich arbeitenden Lokomotive
gleichend, wie sich dieses Rußland voll politischer Leidenschaft und ohne po¬
litische Arbeit mit aller Wucht in die einzigen Bahnen warf, die ihm offen
gelnsfen wurden' in das Streben, seine Kräfte gegen andre, uicht für sich,
zu gebrauchen. Seit zehn und mehr Jahren währt der internationale und


Deutschland und Rußland

wenigstens verdeckt, Fürst Bismarck wurde Sündenbock und Gortschakow-Jsnal
war gerettet, DaS war nicht eben liebenswürdig gegen den alten Freund,
aber eine ebenso praktische Taktik, als die spätere Tändelei und'zFrankreich,
Auch hatte sich Alexander der Zweite doch zu lange und zu stark von Mei¬
nungen und Neigungen der politisirenden Menge tragen lassen, um nach 1878
die alte dynastische Freundschaft zu dem Hofe von Berlin völlig ungetrübt
erhalten zu können. Der wachsende Unwille über den schlechten Frieden von
1878, die verhaltnen, aber heftigen Vorwürfe wegen der russischen Haltung
in deu Jahren 1870 und 1871, die immer deutlicher deu Mißerfolg von 1878
aus das Konto der falschen Politik von 1870 setzten, dann die um sich fressenden
Wühlereien der Nihilisten, das alles floß zu einem Strome von öffentlicher
Stimmung zusammen, der gegen alle europäische und besonders gegen die
deutsche Freundschaft gerichtet war. Und dem Drängen dieses Stromes ver¬
mochte sich auch der Wille des Zaren nicht zu entziehen, trotz seiner Ver¬
ehrung für Kaiser Wilhelm den Alten und trotz seines Vertrauens zu dem
eisernen Kanzler. Das Verhältnis Rußlands war in den letzten Regieruugs-
jahreu Alexanders des Zweiten bei weitem nicht mehr so freundschaftlich wie
in der Zeit bis 187».

Mit dem Tode Alexanders des Zweiten endete die traditionelle dynastische
Freundschaft; sein Nachfolger machte Slawismus und Orthodoxie zu den
Grundpfeilern des Staatsbaues und nahm damit die Leitung jenes gegen
Europa gerichteten, besonders Deutschland treffenden Stromes in die Hand.
Unter dieser Leitung wuchsen das nationale Selbstgefühl und der kirchliche
Anspruch offen empor, gepflegt vo» Leuten wie Tolstoi, Pobjedonoszew,
Jgnatjew n, s, w., die man gewiß nicht polnischer, jüdischer oder nihilistischer
Neigungen anklagen wird, lind mit den nationalen und kirchlichen Ansprüchen
ergab sich die Verschärfung des Gegellsatzes zu Deutschland von selbst, die
den Fürsten Bismarck zum Abschluß des Dreibundes trieb, noch ehe der Gegen¬
satz seine offne Sanktion vom Zarenthrone her erfuhren hatte. Diese erfolgte
erst nach dem Tode Wilhelms des Alten. Und zwar nnter der Mithilfe und
dem Beifall der großen Mehrheit des politischen Russentums, Die Erschei¬
nung ist im Grnnde so einfach und natürlich, daß sie durchaus nicht der Er¬
klärung durch polnisch-jiidisch-nihilistische Pläne bedarf; ein Rückblick auf die
Geschichte dieses Jahrhunderts genügt, zu verstehen, wie sich Nußland durch
eine Stellung in Europa, die seine innere Bedeutuug weit überragte, ver¬
wöhnt, in nationaler und liberaler Gährung begriffen, in seinem Innern einer
im Schnee steckenden und keuchend, aber vergeblich arbeitenden Lokomotive
gleichend, wie sich dieses Rußland voll politischer Leidenschaft und ohne po¬
litische Arbeit mit aller Wucht in die einzigen Bahnen warf, die ihm offen
gelnsfen wurden' in das Streben, seine Kräfte gegen andre, uicht für sich,
zu gebrauchen. Seit zehn und mehr Jahren währt der internationale und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0013" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213805"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutschland und Rußland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_9" prev="#ID_8"> wenigstens verdeckt, Fürst Bismarck wurde Sündenbock und Gortschakow-Jsnal<lb/>
war gerettet, DaS war nicht eben liebenswürdig gegen den alten Freund,<lb/>
aber eine ebenso praktische Taktik, als die spätere Tändelei und'zFrankreich,<lb/>
Auch hatte sich Alexander der Zweite doch zu lange und zu stark von Mei¬<lb/>
nungen und Neigungen der politisirenden Menge tragen lassen, um nach 1878<lb/>
die alte dynastische Freundschaft zu dem Hofe von Berlin völlig ungetrübt<lb/>
erhalten zu können. Der wachsende Unwille über den schlechten Frieden von<lb/>
1878, die verhaltnen, aber heftigen Vorwürfe wegen der russischen Haltung<lb/>
in deu Jahren 1870 und 1871, die immer deutlicher deu Mißerfolg von 1878<lb/>
aus das Konto der falschen Politik von 1870 setzten, dann die um sich fressenden<lb/>
Wühlereien der Nihilisten, das alles floß zu einem Strome von öffentlicher<lb/>
Stimmung zusammen, der gegen alle europäische und besonders gegen die<lb/>
deutsche Freundschaft gerichtet war. Und dem Drängen dieses Stromes ver¬<lb/>
mochte sich auch der Wille des Zaren nicht zu entziehen, trotz seiner Ver¬<lb/>
ehrung für Kaiser Wilhelm den Alten und trotz seines Vertrauens zu dem<lb/>
eisernen Kanzler. Das Verhältnis Rußlands war in den letzten Regieruugs-<lb/>
jahreu Alexanders des Zweiten bei weitem nicht mehr so freundschaftlich wie<lb/>
in der Zeit bis 187».</p><lb/>
          <p xml:id="ID_10" next="#ID_11"> Mit dem Tode Alexanders des Zweiten endete die traditionelle dynastische<lb/>
Freundschaft; sein Nachfolger machte Slawismus und Orthodoxie zu den<lb/>
Grundpfeilern des Staatsbaues und nahm damit die Leitung jenes gegen<lb/>
Europa gerichteten, besonders Deutschland treffenden Stromes in die Hand.<lb/>
Unter dieser Leitung wuchsen das nationale Selbstgefühl und der kirchliche<lb/>
Anspruch offen empor, gepflegt vo» Leuten wie Tolstoi, Pobjedonoszew,<lb/>
Jgnatjew n, s, w., die man gewiß nicht polnischer, jüdischer oder nihilistischer<lb/>
Neigungen anklagen wird, lind mit den nationalen und kirchlichen Ansprüchen<lb/>
ergab sich die Verschärfung des Gegellsatzes zu Deutschland von selbst, die<lb/>
den Fürsten Bismarck zum Abschluß des Dreibundes trieb, noch ehe der Gegen¬<lb/>
satz seine offne Sanktion vom Zarenthrone her erfuhren hatte. Diese erfolgte<lb/>
erst nach dem Tode Wilhelms des Alten. Und zwar nnter der Mithilfe und<lb/>
dem Beifall der großen Mehrheit des politischen Russentums, Die Erschei¬<lb/>
nung ist im Grnnde so einfach und natürlich, daß sie durchaus nicht der Er¬<lb/>
klärung durch polnisch-jiidisch-nihilistische Pläne bedarf; ein Rückblick auf die<lb/>
Geschichte dieses Jahrhunderts genügt, zu verstehen, wie sich Nußland durch<lb/>
eine Stellung in Europa, die seine innere Bedeutuug weit überragte, ver¬<lb/>
wöhnt, in nationaler und liberaler Gährung begriffen, in seinem Innern einer<lb/>
im Schnee steckenden und keuchend, aber vergeblich arbeitenden Lokomotive<lb/>
gleichend, wie sich dieses Rußland voll politischer Leidenschaft und ohne po¬<lb/>
litische Arbeit mit aller Wucht in die einzigen Bahnen warf, die ihm offen<lb/>
gelnsfen wurden' in das Streben, seine Kräfte gegen andre, uicht für sich,<lb/>
zu gebrauchen.  Seit zehn und mehr Jahren währt der internationale und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0013] Deutschland und Rußland wenigstens verdeckt, Fürst Bismarck wurde Sündenbock und Gortschakow-Jsnal war gerettet, DaS war nicht eben liebenswürdig gegen den alten Freund, aber eine ebenso praktische Taktik, als die spätere Tändelei und'zFrankreich, Auch hatte sich Alexander der Zweite doch zu lange und zu stark von Mei¬ nungen und Neigungen der politisirenden Menge tragen lassen, um nach 1878 die alte dynastische Freundschaft zu dem Hofe von Berlin völlig ungetrübt erhalten zu können. Der wachsende Unwille über den schlechten Frieden von 1878, die verhaltnen, aber heftigen Vorwürfe wegen der russischen Haltung in deu Jahren 1870 und 1871, die immer deutlicher deu Mißerfolg von 1878 aus das Konto der falschen Politik von 1870 setzten, dann die um sich fressenden Wühlereien der Nihilisten, das alles floß zu einem Strome von öffentlicher Stimmung zusammen, der gegen alle europäische und besonders gegen die deutsche Freundschaft gerichtet war. Und dem Drängen dieses Stromes ver¬ mochte sich auch der Wille des Zaren nicht zu entziehen, trotz seiner Ver¬ ehrung für Kaiser Wilhelm den Alten und trotz seines Vertrauens zu dem eisernen Kanzler. Das Verhältnis Rußlands war in den letzten Regieruugs- jahreu Alexanders des Zweiten bei weitem nicht mehr so freundschaftlich wie in der Zeit bis 187». Mit dem Tode Alexanders des Zweiten endete die traditionelle dynastische Freundschaft; sein Nachfolger machte Slawismus und Orthodoxie zu den Grundpfeilern des Staatsbaues und nahm damit die Leitung jenes gegen Europa gerichteten, besonders Deutschland treffenden Stromes in die Hand. Unter dieser Leitung wuchsen das nationale Selbstgefühl und der kirchliche Anspruch offen empor, gepflegt vo» Leuten wie Tolstoi, Pobjedonoszew, Jgnatjew n, s, w., die man gewiß nicht polnischer, jüdischer oder nihilistischer Neigungen anklagen wird, lind mit den nationalen und kirchlichen Ansprüchen ergab sich die Verschärfung des Gegellsatzes zu Deutschland von selbst, die den Fürsten Bismarck zum Abschluß des Dreibundes trieb, noch ehe der Gegen¬ satz seine offne Sanktion vom Zarenthrone her erfuhren hatte. Diese erfolgte erst nach dem Tode Wilhelms des Alten. Und zwar nnter der Mithilfe und dem Beifall der großen Mehrheit des politischen Russentums, Die Erschei¬ nung ist im Grnnde so einfach und natürlich, daß sie durchaus nicht der Er¬ klärung durch polnisch-jiidisch-nihilistische Pläne bedarf; ein Rückblick auf die Geschichte dieses Jahrhunderts genügt, zu verstehen, wie sich Nußland durch eine Stellung in Europa, die seine innere Bedeutuug weit überragte, ver¬ wöhnt, in nationaler und liberaler Gährung begriffen, in seinem Innern einer im Schnee steckenden und keuchend, aber vergeblich arbeitenden Lokomotive gleichend, wie sich dieses Rußland voll politischer Leidenschaft und ohne po¬ litische Arbeit mit aller Wucht in die einzigen Bahnen warf, die ihm offen gelnsfen wurden' in das Streben, seine Kräfte gegen andre, uicht für sich, zu gebrauchen. Seit zehn und mehr Jahren währt der internationale und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/13
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/13>, abgerufen am 12.05.2024.