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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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verzwickten Gesichter der Frauen, die engbrüstigen, krummen, verkümmerten
Männer, man merke sich die frischen Gesichter und derben Gestalten der Lehr¬
jungen und Dienstmädchen von Lande und sehe nach zehn, zwanzig Jahren
"ach, was in der Stadt, in der Fabrik aus ihnen geworden ist, da erfährt
man mehr, als aus Einkommensteuerliste". Man wandle zu Fuß den herr¬
lichen Weg von Gablonz durch Tannwald zum Elbfall hinauf, und beim An¬
blick der reizenden Villen nud der über die Maßen elend aussehenden Fabrik¬
bevölkerung wird man ausrufen: Wahrhaftig, die englische Wirtschaftsgeschichte,
wie sie leibt und lebt! Gegenden im deutscheu Reiche herauszufinden, wo
ähnliche Beobachtungen gemacht werden könne", wie in den industriellen Teilen
Böhmens, überlassen wir dem Leser.

Nun wird uns der Leser vielleicht mit Wolf zwei Einwände machen.
Erstens, daß es den Armen doch nicht so schlecht gehen könne, da sie ja ein
Heidengeld aus Schnaps, Bier und Tabak vergeudeten Nun, wenn einmal
das Leben nicht mehr menschlich ist, so kommt es nicht darauf an, ob es noch
um einige Grad unmenschlicher wird, und das ist allerdings überall der Fall,
wo ein Teil des Einkommens dem notwendigen entzogen und auf jene Stimu-
lantien verwendet wird. Leider aber sind diese selbst eine Notwendigkeit. Wer
das nicht glaubt, der prvbire es einmal, ein Jahr lang von Kartoffeln, Zichorien-
brühe und Schwarzmehlsuppe zu leben; wenn er sich da"n noch ohne den Ge¬
brauch von Erregniigsmitteln thatendurstig und arbeitslustig fühlt, so wollen
wir unsrerseits ihm glauben, daß Schnaps und Tabak auch bei der heutige"
Art der Volksernährung überflüssig seien. Wie mögen sich wohl übrigens,
um das nebenbei zu fragen, die Mäßigkeitsapostel unsre Reichsfinanzen und
namentlich den Militäretat denken für den Fall, daß sie mit ihre" Bestrebungen
Erfolg habe"? Wo das Elend einmal eingerissen ist, da kommt das Volk aus
dem Zirkel nicht mehr heraus, daß es Schnaps trinkt, weil es ihm schlecht
geht, und daß es ihm um so schlechter geht, je mehr es Schnaps trinkt. Be¬
gründeter ist die andre Einwendung, daß in den Prvletarierfmnilien Weib und
Binder gewöhnlich mitverdiene", daß also eine solche Familie unter Umständen
zweitausend und mehr Mark jährlich einnehmen kann, wenn anch der Vater
nnr achthundert Mark verdient. Das bedeutet allerdings in taufenden von
Fälle" eine weit günstigere Lage, als die vorhin ermittelte; doch darf man die
damit gegebne Veränderung des Gesamtbildes nicht überschätzen. Ehe die Kinder
mit verdiene", sind sie vorher zwölf bis vierzehn Jahre hindurch bloße Ver¬
zehrer, und der Beitrag zu den Kosten des Haushalts, den sie später liefern,
reicht oft nur eben hin, die in der vorhergehenden Periode gemachten Schulden
abzuzahlen und den dnrch Verpfändung oder Verkauf zusammengeschwnndnen
Hausrat wieder zu ergänzen. Dann wird der Fall, daß die heranwachsenden
Söhne nud Töchter in der Familie bleiben und ihren Verdienst in die gemein-
same Kasse legen, immer seltner. Man mag das beklage", aber unter den be-


verzwickten Gesichter der Frauen, die engbrüstigen, krummen, verkümmerten
Männer, man merke sich die frischen Gesichter und derben Gestalten der Lehr¬
jungen und Dienstmädchen von Lande und sehe nach zehn, zwanzig Jahren
»ach, was in der Stadt, in der Fabrik aus ihnen geworden ist, da erfährt
man mehr, als aus Einkommensteuerliste». Man wandle zu Fuß den herr¬
lichen Weg von Gablonz durch Tannwald zum Elbfall hinauf, und beim An¬
blick der reizenden Villen nud der über die Maßen elend aussehenden Fabrik¬
bevölkerung wird man ausrufen: Wahrhaftig, die englische Wirtschaftsgeschichte,
wie sie leibt und lebt! Gegenden im deutscheu Reiche herauszufinden, wo
ähnliche Beobachtungen gemacht werden könne», wie in den industriellen Teilen
Böhmens, überlassen wir dem Leser.

Nun wird uns der Leser vielleicht mit Wolf zwei Einwände machen.
Erstens, daß es den Armen doch nicht so schlecht gehen könne, da sie ja ein
Heidengeld aus Schnaps, Bier und Tabak vergeudeten Nun, wenn einmal
das Leben nicht mehr menschlich ist, so kommt es nicht darauf an, ob es noch
um einige Grad unmenschlicher wird, und das ist allerdings überall der Fall,
wo ein Teil des Einkommens dem notwendigen entzogen und auf jene Stimu-
lantien verwendet wird. Leider aber sind diese selbst eine Notwendigkeit. Wer
das nicht glaubt, der prvbire es einmal, ein Jahr lang von Kartoffeln, Zichorien-
brühe und Schwarzmehlsuppe zu leben; wenn er sich da»n noch ohne den Ge¬
brauch von Erregniigsmitteln thatendurstig und arbeitslustig fühlt, so wollen
wir unsrerseits ihm glauben, daß Schnaps und Tabak auch bei der heutige»
Art der Volksernährung überflüssig seien. Wie mögen sich wohl übrigens,
um das nebenbei zu fragen, die Mäßigkeitsapostel unsre Reichsfinanzen und
namentlich den Militäretat denken für den Fall, daß sie mit ihre» Bestrebungen
Erfolg habe»? Wo das Elend einmal eingerissen ist, da kommt das Volk aus
dem Zirkel nicht mehr heraus, daß es Schnaps trinkt, weil es ihm schlecht
geht, und daß es ihm um so schlechter geht, je mehr es Schnaps trinkt. Be¬
gründeter ist die andre Einwendung, daß in den Prvletarierfmnilien Weib und
Binder gewöhnlich mitverdiene», daß also eine solche Familie unter Umständen
zweitausend und mehr Mark jährlich einnehmen kann, wenn anch der Vater
nnr achthundert Mark verdient. Das bedeutet allerdings in taufenden von
Fälle» eine weit günstigere Lage, als die vorhin ermittelte; doch darf man die
damit gegebne Veränderung des Gesamtbildes nicht überschätzen. Ehe die Kinder
mit verdiene», sind sie vorher zwölf bis vierzehn Jahre hindurch bloße Ver¬
zehrer, und der Beitrag zu den Kosten des Haushalts, den sie später liefern,
reicht oft nur eben hin, die in der vorhergehenden Periode gemachten Schulden
abzuzahlen und den dnrch Verpfändung oder Verkauf zusammengeschwnndnen
Hausrat wieder zu ergänzen. Dann wird der Fall, daß die heranwachsenden
Söhne nud Töchter in der Familie bleiben und ihren Verdienst in die gemein-
same Kasse legen, immer seltner. Man mag das beklage», aber unter den be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/135>, abgerufen am 28.05.2024.