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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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!t?eder Kommunismus noch Kapitalismus

kannten gegenwärtigen Verhältnissen wird es sich kaum ändern lassen. Der
Broterwerb der Frau sodann ist in den meisten Fällen das Gegenteil eines
wirtschaftlichen Borteils. Wir kennen Frauen des ärmern Standes, die mit
einem Wirtschaftsgelde von acht- bis neunhundert Mark einen Haushalt von
sechs bis sieben Personen, die sämtlich über zehn Jahre alt sind, sehr anständig
bestreikn. Da wird das Brotkorn ans dem Markte eingekauft und in eine
Landmühle zum Mahlen geschickt; aus dem Mehl wird ein Brot hergestellt,
das billiger und nahrhafter ist als Bäckerbrot. Die Kleien werden im Herbst,
mit Schwarzmehl oder Kartoffeln gemischt, dazu verwendet, Gänse zu mästen,
und von diesen allernützlichsten Tierchen bleibt auch kein Blutströpfchen, kein
Knöchelchen und kein Federchen unbenutzt. Jede geschlachtete Gans wird auf
eine halbe, unter Umständen ans eine ganze Woche eingeteilt. Andres Fleisch
wird in großen Stücken billig von Landfleischern gekauft, was allerdings heute,
wo fast alle größern Städte mit einem Schlachthos und strenger Fleischpolizei
beglückt siud, nur noch mit listiger Hintergehung der Polizei durchzuführen ist.
Die Pflege und Einteilung dieser Fleischstücke, das Aufspüren günstiger Ge-
legenheitstause von Fleisch und andern Waren, das Einlegen und Dörren von
Obst und Gemüse im Sommer und Herbst, das Einsammeln von allerlei Thee
u. s. w. erfordern viel Zeit. Dazu kommt dann noch die sorgsame Behandlung
der Wäsche, das öftere Mustern von Wäsche, Kleidern und andern Sachen,
das Ausbessern und Ergänzen nebst vielen andern Arbeiten, die der Wandel
der Zeiten nötig macht, und die sich gar nicht voraussehen lassen. Eine solche
Frau hat alle 365 Tage des Jahres vollauf zu thun und kaum je eine Stunde
für Vrotvcrdienst übrig, dafür richtet sie auch mit achthundert Mark soviel
aus, wie eine Frau, die in die Fabrik geht, kaum mit sechzehnhundert Mark
ausrichten würde. Daß die Frauenarbeit in ihrer heutigen Form -- mit der
altmodischen Arbeit in Landwirtschaft und Hausindustrie verhält sichs vielfach
anders -- zusammen mit den langen Arbeitszeiten vieler Männer das "Ehe¬
ideal" des sozialdemokratischen Zukunftsstaats nicht etwa bloß rechtfertigt,
sondern längst verwirklicht hat, und daß jenes "Ideal" weiter nichts ist, als
eine von der alltäglichen Wirklichkeit abgezogne Vorstellung, mag nur nebenbei
angemerkt werden. Wo die Frau aufgehört hat, einen ordentlichen Haushalt
zu führen und die Kinder zu pflegen, wo Mann und Weib einander nur auf
ein paar Nachtstunden zu sehe" oder vielmehr nicht zu sehen bekommen, dn
ist ihr Zusammenleben keine Ehe mehr im Sinne der alten und neuen Kultur¬
völker, sondern nur noch ein polizeilich gestaltetes Koukubiuat. Standesamt
und Kirche können daran nichts ändern; sie können zwar auf den Inhalt, wo
er vorhanden ist, einen gesetzlichen Stempel drücken, aber den fehlenden Inhalt
schaffen oder ersetzen, das können sie nicht.

Trotz alledem ist das Gesamtbild der wirtschaftlichen Lage jener 95 Hnn-
dertstel des preußischen Volks, die weniger als dreitausend Mark jährlich ein-


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kannten gegenwärtigen Verhältnissen wird es sich kaum ändern lassen. Der
Broterwerb der Frau sodann ist in den meisten Fällen das Gegenteil eines
wirtschaftlichen Borteils. Wir kennen Frauen des ärmern Standes, die mit
einem Wirtschaftsgelde von acht- bis neunhundert Mark einen Haushalt von
sechs bis sieben Personen, die sämtlich über zehn Jahre alt sind, sehr anständig
bestreikn. Da wird das Brotkorn ans dem Markte eingekauft und in eine
Landmühle zum Mahlen geschickt; aus dem Mehl wird ein Brot hergestellt,
das billiger und nahrhafter ist als Bäckerbrot. Die Kleien werden im Herbst,
mit Schwarzmehl oder Kartoffeln gemischt, dazu verwendet, Gänse zu mästen,
und von diesen allernützlichsten Tierchen bleibt auch kein Blutströpfchen, kein
Knöchelchen und kein Federchen unbenutzt. Jede geschlachtete Gans wird auf
eine halbe, unter Umständen ans eine ganze Woche eingeteilt. Andres Fleisch
wird in großen Stücken billig von Landfleischern gekauft, was allerdings heute,
wo fast alle größern Städte mit einem Schlachthos und strenger Fleischpolizei
beglückt siud, nur noch mit listiger Hintergehung der Polizei durchzuführen ist.
Die Pflege und Einteilung dieser Fleischstücke, das Aufspüren günstiger Ge-
legenheitstause von Fleisch und andern Waren, das Einlegen und Dörren von
Obst und Gemüse im Sommer und Herbst, das Einsammeln von allerlei Thee
u. s. w. erfordern viel Zeit. Dazu kommt dann noch die sorgsame Behandlung
der Wäsche, das öftere Mustern von Wäsche, Kleidern und andern Sachen,
das Ausbessern und Ergänzen nebst vielen andern Arbeiten, die der Wandel
der Zeiten nötig macht, und die sich gar nicht voraussehen lassen. Eine solche
Frau hat alle 365 Tage des Jahres vollauf zu thun und kaum je eine Stunde
für Vrotvcrdienst übrig, dafür richtet sie auch mit achthundert Mark soviel
aus, wie eine Frau, die in die Fabrik geht, kaum mit sechzehnhundert Mark
ausrichten würde. Daß die Frauenarbeit in ihrer heutigen Form — mit der
altmodischen Arbeit in Landwirtschaft und Hausindustrie verhält sichs vielfach
anders — zusammen mit den langen Arbeitszeiten vieler Männer das „Ehe¬
ideal" des sozialdemokratischen Zukunftsstaats nicht etwa bloß rechtfertigt,
sondern längst verwirklicht hat, und daß jenes „Ideal" weiter nichts ist, als
eine von der alltäglichen Wirklichkeit abgezogne Vorstellung, mag nur nebenbei
angemerkt werden. Wo die Frau aufgehört hat, einen ordentlichen Haushalt
zu führen und die Kinder zu pflegen, wo Mann und Weib einander nur auf
ein paar Nachtstunden zu sehe» oder vielmehr nicht zu sehen bekommen, dn
ist ihr Zusammenleben keine Ehe mehr im Sinne der alten und neuen Kultur¬
völker, sondern nur noch ein polizeilich gestaltetes Koukubiuat. Standesamt
und Kirche können daran nichts ändern; sie können zwar auf den Inhalt, wo
er vorhanden ist, einen gesetzlichen Stempel drücken, aber den fehlenden Inhalt
schaffen oder ersetzen, das können sie nicht.

Trotz alledem ist das Gesamtbild der wirtschaftlichen Lage jener 95 Hnn-
dertstel des preußischen Volks, die weniger als dreitausend Mark jährlich ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/136>, abgerufen am 28.05.2024.