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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Ratholische Schnlkalender

Was den Inhalt des Kalenders betrifft, so können wir absehen von dein
üblichen Bestand solcher Kalender: dem Kalendarium, Papier für allerlei Notizen,
einem alphabetischen (!) Geschichtskalender, der in seinem ungegliederten Chaos
deutlich vor Augen stellt, wie man Geschichte den Schülern nicht vorführen
soll. Genug, daß in dieser Beziehung nichts, auch gnr nichts vorhanden
ist, was sich durch Neuheit oder zweckmäßige Anlage von dem Allergewöhn-
lichsten unterschiede. Auffällig ist, wie sehr dieser eigentlich kalendarische Teil
gegenüber dem Textteil in den neuern Auflagen immer mehr zurücktritt. Der
Textteil, in den beiden letzten Jahrgängen je sechzig bis siebzig Seiten um¬
fassend, wird jedesmal eröffnet durch ein ansprechendes "Studiengebet" des
Thomas von Aquino in lateinischer, in den frühern Auflagen auch in grie¬
chischer Sprache, von dem wir vermuten möchten, daß es zu den wenigst-
gelesenen Abschnitten des Buches gehören wird. Denselben religiösen Charakter
trägt eine lateinische Ode des bekannten neulntcinischen Dichters Jakob Bälde 8.^.
an die Jungfrau Maria. Wir können wohl hundert gegen eins wetten, daß
nur selten ein "Student" das frostige Mosaik des von Herder und Albert
Knapp jedenfalls nicht oder mit Unrecht wegen dieses Gedichtes gepriesenen
Dichters verstehen wird. Schon nicht mehr unter den Begriff des Religiösen,
sondern unter den des Schein- und teilweise auch Pseudoreligiösen müssen wir
die Lebensskizzen einiger Männer rechnen, die dem "Studenten" vom "reli¬
giösen" Standpunkt aus vorgeführt werden. Man läßt sichs ja gefallen,
wenn Thomas von Aquino, der, wenn er auch dem Gymnasialnnterricht sern
genug steht, doch an sich eine bedeutende Persönlichkeit ist, noch in einer bio¬
graphischen Skizze behandelt wird. Aber wozu den Gymnasiasten, der doch
wahrscheinlich nötigeres zu thun hat, mit der Biographie des Gabriel Garcia
Mareno, des verflossenen Präsidenten der Republik Ecuador, behelligen, der
am 10. August 1878 von niemand anders als von der "ruchlosen Bande
der Freimaurer" ermordet wurde? Doch wohl nur deswegen, weil -- wie
wir aus dem Inclsx librorum xr0pg.Ag.näoruin des Einbandes und aus dem
Schlüsse des Aussätzchens erfahren -- Fran Amara George-Kaufmann bei
Herder in Freiburg eine Biographie besagten Gabriels hat erscheinen lassen,
die nun hier gleich in usum clslMni ausgeschlachtet wird. Auch ein an sich
harmloses und -- wenn es authentisch ist -- nicht uninteressantes Stück dient
lediglich der pseudoreligiösen, in Wahrheit parteipolitischer Agitation unter der
unreifen Jugend: der Abiturientenaufsatz Windthorsts. Denn die einzige Lehre,
die sich allenfalls aus ihm ergiebt: daß man sich als Abiturient in ganz kor¬
rekten Trivialitäten pflichtgemäß bewegen und später doch ein geistreicher, ori¬
gineller und bedeutender Mann werden kann, die kann und soll doch der "Student"
nicht aus ihm schöpfen.

In eigentümlichem Gegensatz zu dieser Betonung des religiösen Elements
steht ein dem Umfange nach allerdings sehr zurücktretender humoristischer Teil,


Ratholische Schnlkalender

Was den Inhalt des Kalenders betrifft, so können wir absehen von dein
üblichen Bestand solcher Kalender: dem Kalendarium, Papier für allerlei Notizen,
einem alphabetischen (!) Geschichtskalender, der in seinem ungegliederten Chaos
deutlich vor Augen stellt, wie man Geschichte den Schülern nicht vorführen
soll. Genug, daß in dieser Beziehung nichts, auch gnr nichts vorhanden
ist, was sich durch Neuheit oder zweckmäßige Anlage von dem Allergewöhn-
lichsten unterschiede. Auffällig ist, wie sehr dieser eigentlich kalendarische Teil
gegenüber dem Textteil in den neuern Auflagen immer mehr zurücktritt. Der
Textteil, in den beiden letzten Jahrgängen je sechzig bis siebzig Seiten um¬
fassend, wird jedesmal eröffnet durch ein ansprechendes „Studiengebet" des
Thomas von Aquino in lateinischer, in den frühern Auflagen auch in grie¬
chischer Sprache, von dem wir vermuten möchten, daß es zu den wenigst-
gelesenen Abschnitten des Buches gehören wird. Denselben religiösen Charakter
trägt eine lateinische Ode des bekannten neulntcinischen Dichters Jakob Bälde 8.^.
an die Jungfrau Maria. Wir können wohl hundert gegen eins wetten, daß
nur selten ein „Student" das frostige Mosaik des von Herder und Albert
Knapp jedenfalls nicht oder mit Unrecht wegen dieses Gedichtes gepriesenen
Dichters verstehen wird. Schon nicht mehr unter den Begriff des Religiösen,
sondern unter den des Schein- und teilweise auch Pseudoreligiösen müssen wir
die Lebensskizzen einiger Männer rechnen, die dem „Studenten" vom „reli¬
giösen" Standpunkt aus vorgeführt werden. Man läßt sichs ja gefallen,
wenn Thomas von Aquino, der, wenn er auch dem Gymnasialnnterricht sern
genug steht, doch an sich eine bedeutende Persönlichkeit ist, noch in einer bio¬
graphischen Skizze behandelt wird. Aber wozu den Gymnasiasten, der doch
wahrscheinlich nötigeres zu thun hat, mit der Biographie des Gabriel Garcia
Mareno, des verflossenen Präsidenten der Republik Ecuador, behelligen, der
am 10. August 1878 von niemand anders als von der „ruchlosen Bande
der Freimaurer" ermordet wurde? Doch wohl nur deswegen, weil — wie
wir aus dem Inclsx librorum xr0pg.Ag.näoruin des Einbandes und aus dem
Schlüsse des Aussätzchens erfahren — Fran Amara George-Kaufmann bei
Herder in Freiburg eine Biographie besagten Gabriels hat erscheinen lassen,
die nun hier gleich in usum clslMni ausgeschlachtet wird. Auch ein an sich
harmloses und — wenn es authentisch ist — nicht uninteressantes Stück dient
lediglich der pseudoreligiösen, in Wahrheit parteipolitischer Agitation unter der
unreifen Jugend: der Abiturientenaufsatz Windthorsts. Denn die einzige Lehre,
die sich allenfalls aus ihm ergiebt: daß man sich als Abiturient in ganz kor¬
rekten Trivialitäten pflichtgemäß bewegen und später doch ein geistreicher, ori¬
gineller und bedeutender Mann werden kann, die kann und soll doch der „Student"
nicht aus ihm schöpfen.

In eigentümlichem Gegensatz zu dieser Betonung des religiösen Elements
steht ein dem Umfange nach allerdings sehr zurücktretender humoristischer Teil,


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[0143] Ratholische Schnlkalender Was den Inhalt des Kalenders betrifft, so können wir absehen von dein üblichen Bestand solcher Kalender: dem Kalendarium, Papier für allerlei Notizen, einem alphabetischen (!) Geschichtskalender, der in seinem ungegliederten Chaos deutlich vor Augen stellt, wie man Geschichte den Schülern nicht vorführen soll. Genug, daß in dieser Beziehung nichts, auch gnr nichts vorhanden ist, was sich durch Neuheit oder zweckmäßige Anlage von dem Allergewöhn- lichsten unterschiede. Auffällig ist, wie sehr dieser eigentlich kalendarische Teil gegenüber dem Textteil in den neuern Auflagen immer mehr zurücktritt. Der Textteil, in den beiden letzten Jahrgängen je sechzig bis siebzig Seiten um¬ fassend, wird jedesmal eröffnet durch ein ansprechendes „Studiengebet" des Thomas von Aquino in lateinischer, in den frühern Auflagen auch in grie¬ chischer Sprache, von dem wir vermuten möchten, daß es zu den wenigst- gelesenen Abschnitten des Buches gehören wird. Denselben religiösen Charakter trägt eine lateinische Ode des bekannten neulntcinischen Dichters Jakob Bälde 8.^. an die Jungfrau Maria. Wir können wohl hundert gegen eins wetten, daß nur selten ein „Student" das frostige Mosaik des von Herder und Albert Knapp jedenfalls nicht oder mit Unrecht wegen dieses Gedichtes gepriesenen Dichters verstehen wird. Schon nicht mehr unter den Begriff des Religiösen, sondern unter den des Schein- und teilweise auch Pseudoreligiösen müssen wir die Lebensskizzen einiger Männer rechnen, die dem „Studenten" vom „reli¬ giösen" Standpunkt aus vorgeführt werden. Man läßt sichs ja gefallen, wenn Thomas von Aquino, der, wenn er auch dem Gymnasialnnterricht sern genug steht, doch an sich eine bedeutende Persönlichkeit ist, noch in einer bio¬ graphischen Skizze behandelt wird. Aber wozu den Gymnasiasten, der doch wahrscheinlich nötigeres zu thun hat, mit der Biographie des Gabriel Garcia Mareno, des verflossenen Präsidenten der Republik Ecuador, behelligen, der am 10. August 1878 von niemand anders als von der „ruchlosen Bande der Freimaurer" ermordet wurde? Doch wohl nur deswegen, weil — wie wir aus dem Inclsx librorum xr0pg.Ag.näoruin des Einbandes und aus dem Schlüsse des Aussätzchens erfahren — Fran Amara George-Kaufmann bei Herder in Freiburg eine Biographie besagten Gabriels hat erscheinen lassen, die nun hier gleich in usum clslMni ausgeschlachtet wird. Auch ein an sich harmloses und — wenn es authentisch ist — nicht uninteressantes Stück dient lediglich der pseudoreligiösen, in Wahrheit parteipolitischer Agitation unter der unreifen Jugend: der Abiturientenaufsatz Windthorsts. Denn die einzige Lehre, die sich allenfalls aus ihm ergiebt: daß man sich als Abiturient in ganz kor¬ rekten Trivialitäten pflichtgemäß bewegen und später doch ein geistreicher, ori¬ gineller und bedeutender Mann werden kann, die kann und soll doch der „Student" nicht aus ihm schöpfen. In eigentümlichem Gegensatz zu dieser Betonung des religiösen Elements steht ein dem Umfange nach allerdings sehr zurücktretender humoristischer Teil,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/143>, abgerufen am 28.05.2024.