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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Folgen sein werden, sondern man fragt, wie das in Deutschland her¬
kömmlicherweise geschieht, wohin das überhaupt, wohin das auf die Dauer
führen soll. Es ist neben der Socialdemokratie besonders das Zentrum,
das seine Blicke über die nächstliegenden Dinge in die weitere Zukunft hinaus¬
schweifen läßt. Wenn nun durch die Steigerung der Militärlasten die wirt¬
schaftlichen Kräfte des Volkes völlig aufgebraucht werden, was dann? Und
wenn die Unzufriedenheit mit den bestehenden Zustanden immer größer wird
und wie eine ansteckende Krankheit um sich greift, was dann? Die Ger¬
mania fragt: "Was kann es dem Lande und auch der Regierung nützen, wenn
die militärischen Dinge selbst zur allerhöchsten Vollendung empvrgeschrnubt
werden, dabei aber die Hälfte der Soldaten und noch mehr schon als Sozial-
demokrat in die Armee eintritt? Und wie soll das Land regierungsfähig bleiben,
wenn die Sozialdemokraten und die sonstigen Radikalen die Mehrheit der Wühler
bilden und die Parlamente besetzen?" Der Neichstagsabgeordnete Fritzen von
der Zentrumspartei erkennt drei Auswege: die allgemeine Abrüstung und
die Einsetzung europäischer Schiedsgerichte, wozu er aber noch nicht die Zeit
für gekommen hält, oder den Krieg, oder die Herrschaft der Sozialdemokratie,
die aber wahrscheinlich von dem Anarchismus abgelöst werden würde. Die
allgemeine Abrüstung und die Einsetzung europäischer Schiedsgerichte find vor¬
läufig und vielleicht für immer fromme Wünsche. Wer soll der oberste Schieds¬
richter sein? Vielleicht das Oberhaupt der katholischen Kirche? Kirche nebst
Zentrum müßten dann zunächst aufhören, Partei zu sein. Der Ausgang
eines Kriegs, der alles auf den Kopf stellt, ist unberechenbar, mau kann auch
nicht wissen, ob der neue Krieg dein Verlaufe der Geschichte eine andre Wen¬
dung gäbe, ob er der sogenannte "letzte" wäre. Die Herrschaft der Sozial¬
demokratie ist kein "Ausweg," sie ist keineswegs gleich dem Frieden unter den
Nationen. Jedenfalls wünscht das Zentrum dringend, daß dieser Ausweg ver¬
mieden werde; man sollte also erwarten, daß es alles zu thun bereit wäre,
uns davon zurückzuhalten. Ist es aber richtig von einer Partei, die der
schärfste Gegner der Sozialdemokratie sein will, die die Angst vor der Sozial¬
demokratie so hervorkehrt, die betont, daß wir auf einer schiefen Ebne abwärts¬
gehn, so lebhaft für die Gewährung einer kurzen Dienstzeit einzutreten? Je mehr
wir allmählich die Dienstzeit verkürzen, desto mehr nähern wir uns der immer
allgemeinern, der allgemeinsten Wehrpflicht, desto eher gelangen wir zur "Miliz,"
gelangen wir dahin, wohin uns die sozialdemokratischen Volksfreunde haben
möchten. Abnahme der Dienstzeit und Zunahme der Zahl der Soldaten sind
durchaus von einander abhängig. Es wäre folgerichtig, einerseits für das
wegfallende dritte Dienstjahr eine Verstärkung des stehenden Heeres gutzuheißen,
andrerseits für die Zukunft festzustellen, daß man weder für eine weitere Ver¬
kürzung der Dienstzeit, noch für eine weitere Verstärkung zu haben ist. Nun
aber erwärmt man sich nur für die kürzere Dienstzeit, weil man zu wissen


Folgen sein werden, sondern man fragt, wie das in Deutschland her¬
kömmlicherweise geschieht, wohin das überhaupt, wohin das auf die Dauer
führen soll. Es ist neben der Socialdemokratie besonders das Zentrum,
das seine Blicke über die nächstliegenden Dinge in die weitere Zukunft hinaus¬
schweifen läßt. Wenn nun durch die Steigerung der Militärlasten die wirt¬
schaftlichen Kräfte des Volkes völlig aufgebraucht werden, was dann? Und
wenn die Unzufriedenheit mit den bestehenden Zustanden immer größer wird
und wie eine ansteckende Krankheit um sich greift, was dann? Die Ger¬
mania fragt: „Was kann es dem Lande und auch der Regierung nützen, wenn
die militärischen Dinge selbst zur allerhöchsten Vollendung empvrgeschrnubt
werden, dabei aber die Hälfte der Soldaten und noch mehr schon als Sozial-
demokrat in die Armee eintritt? Und wie soll das Land regierungsfähig bleiben,
wenn die Sozialdemokraten und die sonstigen Radikalen die Mehrheit der Wühler
bilden und die Parlamente besetzen?" Der Neichstagsabgeordnete Fritzen von
der Zentrumspartei erkennt drei Auswege: die allgemeine Abrüstung und
die Einsetzung europäischer Schiedsgerichte, wozu er aber noch nicht die Zeit
für gekommen hält, oder den Krieg, oder die Herrschaft der Sozialdemokratie,
die aber wahrscheinlich von dem Anarchismus abgelöst werden würde. Die
allgemeine Abrüstung und die Einsetzung europäischer Schiedsgerichte find vor¬
läufig und vielleicht für immer fromme Wünsche. Wer soll der oberste Schieds¬
richter sein? Vielleicht das Oberhaupt der katholischen Kirche? Kirche nebst
Zentrum müßten dann zunächst aufhören, Partei zu sein. Der Ausgang
eines Kriegs, der alles auf den Kopf stellt, ist unberechenbar, mau kann auch
nicht wissen, ob der neue Krieg dein Verlaufe der Geschichte eine andre Wen¬
dung gäbe, ob er der sogenannte „letzte" wäre. Die Herrschaft der Sozial¬
demokratie ist kein „Ausweg," sie ist keineswegs gleich dem Frieden unter den
Nationen. Jedenfalls wünscht das Zentrum dringend, daß dieser Ausweg ver¬
mieden werde; man sollte also erwarten, daß es alles zu thun bereit wäre,
uns davon zurückzuhalten. Ist es aber richtig von einer Partei, die der
schärfste Gegner der Sozialdemokratie sein will, die die Angst vor der Sozial¬
demokratie so hervorkehrt, die betont, daß wir auf einer schiefen Ebne abwärts¬
gehn, so lebhaft für die Gewährung einer kurzen Dienstzeit einzutreten? Je mehr
wir allmählich die Dienstzeit verkürzen, desto mehr nähern wir uns der immer
allgemeinern, der allgemeinsten Wehrpflicht, desto eher gelangen wir zur „Miliz,"
gelangen wir dahin, wohin uns die sozialdemokratischen Volksfreunde haben
möchten. Abnahme der Dienstzeit und Zunahme der Zahl der Soldaten sind
durchaus von einander abhängig. Es wäre folgerichtig, einerseits für das
wegfallende dritte Dienstjahr eine Verstärkung des stehenden Heeres gutzuheißen,
andrerseits für die Zukunft festzustellen, daß man weder für eine weitere Ver¬
kürzung der Dienstzeit, noch für eine weitere Verstärkung zu haben ist. Nun
aber erwärmt man sich nur für die kürzere Dienstzeit, weil man zu wissen


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[0168] Folgen sein werden, sondern man fragt, wie das in Deutschland her¬ kömmlicherweise geschieht, wohin das überhaupt, wohin das auf die Dauer führen soll. Es ist neben der Socialdemokratie besonders das Zentrum, das seine Blicke über die nächstliegenden Dinge in die weitere Zukunft hinaus¬ schweifen läßt. Wenn nun durch die Steigerung der Militärlasten die wirt¬ schaftlichen Kräfte des Volkes völlig aufgebraucht werden, was dann? Und wenn die Unzufriedenheit mit den bestehenden Zustanden immer größer wird und wie eine ansteckende Krankheit um sich greift, was dann? Die Ger¬ mania fragt: „Was kann es dem Lande und auch der Regierung nützen, wenn die militärischen Dinge selbst zur allerhöchsten Vollendung empvrgeschrnubt werden, dabei aber die Hälfte der Soldaten und noch mehr schon als Sozial- demokrat in die Armee eintritt? Und wie soll das Land regierungsfähig bleiben, wenn die Sozialdemokraten und die sonstigen Radikalen die Mehrheit der Wühler bilden und die Parlamente besetzen?" Der Neichstagsabgeordnete Fritzen von der Zentrumspartei erkennt drei Auswege: die allgemeine Abrüstung und die Einsetzung europäischer Schiedsgerichte, wozu er aber noch nicht die Zeit für gekommen hält, oder den Krieg, oder die Herrschaft der Sozialdemokratie, die aber wahrscheinlich von dem Anarchismus abgelöst werden würde. Die allgemeine Abrüstung und die Einsetzung europäischer Schiedsgerichte find vor¬ läufig und vielleicht für immer fromme Wünsche. Wer soll der oberste Schieds¬ richter sein? Vielleicht das Oberhaupt der katholischen Kirche? Kirche nebst Zentrum müßten dann zunächst aufhören, Partei zu sein. Der Ausgang eines Kriegs, der alles auf den Kopf stellt, ist unberechenbar, mau kann auch nicht wissen, ob der neue Krieg dein Verlaufe der Geschichte eine andre Wen¬ dung gäbe, ob er der sogenannte „letzte" wäre. Die Herrschaft der Sozial¬ demokratie ist kein „Ausweg," sie ist keineswegs gleich dem Frieden unter den Nationen. Jedenfalls wünscht das Zentrum dringend, daß dieser Ausweg ver¬ mieden werde; man sollte also erwarten, daß es alles zu thun bereit wäre, uns davon zurückzuhalten. Ist es aber richtig von einer Partei, die der schärfste Gegner der Sozialdemokratie sein will, die die Angst vor der Sozial¬ demokratie so hervorkehrt, die betont, daß wir auf einer schiefen Ebne abwärts¬ gehn, so lebhaft für die Gewährung einer kurzen Dienstzeit einzutreten? Je mehr wir allmählich die Dienstzeit verkürzen, desto mehr nähern wir uns der immer allgemeinern, der allgemeinsten Wehrpflicht, desto eher gelangen wir zur „Miliz," gelangen wir dahin, wohin uns die sozialdemokratischen Volksfreunde haben möchten. Abnahme der Dienstzeit und Zunahme der Zahl der Soldaten sind durchaus von einander abhängig. Es wäre folgerichtig, einerseits für das wegfallende dritte Dienstjahr eine Verstärkung des stehenden Heeres gutzuheißen, andrerseits für die Zukunft festzustellen, daß man weder für eine weitere Ver¬ kürzung der Dienstzeit, noch für eine weitere Verstärkung zu haben ist. Nun aber erwärmt man sich nur für die kürzere Dienstzeit, weil man zu wissen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/168>, abgerufen am 27.05.2024.