Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

glaubt, daß das eine sehr "populäre" Forderung sei, geeignet, Tausende von
Stimmen bei einer Wahl für die Partei zu erhalten und zu gewinnen. Die
Partei strebt vor allem uach Selbsterhaltung und will sich von dem roten
Mitbewerber um die Gunst des abstimmenden Volks, der den "Turm des
Zentrums" zu erschüttern droht, nicht deu Rang ablaufen lassen, sie möchte
gern bei einer Neuwahl ihre "Sitze" zu behaupten imstande sein.

Wie denkt sich nun die Sozialdemokratie selbst die fernere Entwicklung!
Gegen die Abrüstung, wenn sie nicht unmöglich wäre, hätte sie wahrscheinlich
schon deshalb nichts einzuwenden, weil die massenhafte Entlassung von Sol¬
daten die industrielle Reservearmee ganz außerordentlich vermehren und da¬
durch die inner!: Schwierigkeiten der Staaten auf eiuen so hohen Grad steigern
würde, daß sich die eignen Aussichten der Partei sehr verbessern würden.
Daß sich ihr allerlei Aussichten für deu Fall eines europäische-, für Deutsch¬
land glücklichen oder unglücklichen Kriegs eröffnen würden, hat namentlich
Herr Engels zu zeigen gesucht. Sonst aber würde, solange der bewaffnete
Friede fortdauert, meint die Sozialdemokratie, alles seinen Gang so weiter¬
gehen wie bisher, auch die Weltgeschichte keunt ja ein Gesetz des Beharrungs¬
vermögens, der Militarismus würde nicht ruhen, bis er immer mehr und
schließlich sämtliche Waffenfähige des Landes zu Soldaten gemacht hätte, und
bis er seine jährlichen Ansprüche vielleicht auf eine Milliarde emporgeschraubt
und damit zugleich die Verarmung der Massen auf den Gipfel getrieben hätte.
Und dann, nun dann würde -- der Sozialismus die Gesellschaft "retten."
Wenn die Sozialdemokratie schon vorher, ehe es zur Äußersten kommt,
ehe die Explosion unvermeidlich geworden ist, die "Rettung" zu vollziehen
Gelegenheit findet, so wird sie es natürlich schon vorher thun, so wird
sie sich beeilen, die Ventile zu öffnen. Schon hat, sagt der Vorwärts, "der
Militarismus Italien zu Grunde gerichtet. MlitMg. IrMg.in xsräiäöi'ö. In
Deutschland sind wir noch nicht ganz so weit, aber wir sind auf dem besten
Wege." Das sind die Ansichten der Sozialdemokratie über die Entwicklung,
der wir entgegengehn.

Gesetzt, daß die Sozialdemokratie Recht hätte, daß die "Zukunft" dem
"Sozialismus" gehörte, womit vielleicht manche Mitglieder der Zentrumspartei
und sehr viele andre, die nicht Sozialdemokraten sind, übereinstimmen, so fragt
es sich immer noch, sogar nach der eignen Ansicht der Sozialdemokratie,
welchem Sozialismus die "Rettung" der Gesellschaft glücken wird. Welcher
Sozialismus wird Sieger sein? Wird der kirchliche, der staatliche oder
der demokratische den Sieg davontragen? Nach den ans dem Berliner
Parteitage der Sozialdemokratie vorgetragnen Anschauungen spitzt sich die
Frage immer mehr dahin zu, ob der Staatssozialismus, der vielmehr
Staatskapitalismus wäre, oder der demokratische Sozialismus das Feld
behaupten würde. Der Stantssozialismus wäre nur ein sogenannter


glaubt, daß das eine sehr „populäre" Forderung sei, geeignet, Tausende von
Stimmen bei einer Wahl für die Partei zu erhalten und zu gewinnen. Die
Partei strebt vor allem uach Selbsterhaltung und will sich von dem roten
Mitbewerber um die Gunst des abstimmenden Volks, der den „Turm des
Zentrums" zu erschüttern droht, nicht deu Rang ablaufen lassen, sie möchte
gern bei einer Neuwahl ihre „Sitze" zu behaupten imstande sein.

Wie denkt sich nun die Sozialdemokratie selbst die fernere Entwicklung!
Gegen die Abrüstung, wenn sie nicht unmöglich wäre, hätte sie wahrscheinlich
schon deshalb nichts einzuwenden, weil die massenhafte Entlassung von Sol¬
daten die industrielle Reservearmee ganz außerordentlich vermehren und da¬
durch die inner!: Schwierigkeiten der Staaten auf eiuen so hohen Grad steigern
würde, daß sich die eignen Aussichten der Partei sehr verbessern würden.
Daß sich ihr allerlei Aussichten für deu Fall eines europäische-, für Deutsch¬
land glücklichen oder unglücklichen Kriegs eröffnen würden, hat namentlich
Herr Engels zu zeigen gesucht. Sonst aber würde, solange der bewaffnete
Friede fortdauert, meint die Sozialdemokratie, alles seinen Gang so weiter¬
gehen wie bisher, auch die Weltgeschichte keunt ja ein Gesetz des Beharrungs¬
vermögens, der Militarismus würde nicht ruhen, bis er immer mehr und
schließlich sämtliche Waffenfähige des Landes zu Soldaten gemacht hätte, und
bis er seine jährlichen Ansprüche vielleicht auf eine Milliarde emporgeschraubt
und damit zugleich die Verarmung der Massen auf den Gipfel getrieben hätte.
Und dann, nun dann würde — der Sozialismus die Gesellschaft „retten."
Wenn die Sozialdemokratie schon vorher, ehe es zur Äußersten kommt,
ehe die Explosion unvermeidlich geworden ist, die „Rettung" zu vollziehen
Gelegenheit findet, so wird sie es natürlich schon vorher thun, so wird
sie sich beeilen, die Ventile zu öffnen. Schon hat, sagt der Vorwärts, „der
Militarismus Italien zu Grunde gerichtet. MlitMg. IrMg.in xsräiäöi'ö. In
Deutschland sind wir noch nicht ganz so weit, aber wir sind auf dem besten
Wege." Das sind die Ansichten der Sozialdemokratie über die Entwicklung,
der wir entgegengehn.

Gesetzt, daß die Sozialdemokratie Recht hätte, daß die „Zukunft" dem
„Sozialismus" gehörte, womit vielleicht manche Mitglieder der Zentrumspartei
und sehr viele andre, die nicht Sozialdemokraten sind, übereinstimmen, so fragt
es sich immer noch, sogar nach der eignen Ansicht der Sozialdemokratie,
welchem Sozialismus die „Rettung" der Gesellschaft glücken wird. Welcher
Sozialismus wird Sieger sein? Wird der kirchliche, der staatliche oder
der demokratische den Sieg davontragen? Nach den ans dem Berliner
Parteitage der Sozialdemokratie vorgetragnen Anschauungen spitzt sich die
Frage immer mehr dahin zu, ob der Staatssozialismus, der vielmehr
Staatskapitalismus wäre, oder der demokratische Sozialismus das Feld
behaupten würde. Der Stantssozialismus wäre nur ein sogenannter


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0169" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213961"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_528" prev="#ID_527"> glaubt, daß das eine sehr &#x201E;populäre" Forderung sei, geeignet, Tausende von<lb/>
Stimmen bei einer Wahl für die Partei zu erhalten und zu gewinnen. Die<lb/>
Partei strebt vor allem uach Selbsterhaltung und will sich von dem roten<lb/>
Mitbewerber um die Gunst des abstimmenden Volks, der den &#x201E;Turm des<lb/>
Zentrums" zu erschüttern droht, nicht deu Rang ablaufen lassen, sie möchte<lb/>
gern bei einer Neuwahl ihre &#x201E;Sitze" zu behaupten imstande sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_529"> Wie denkt sich nun die Sozialdemokratie selbst die fernere Entwicklung!<lb/>
Gegen die Abrüstung, wenn sie nicht unmöglich wäre, hätte sie wahrscheinlich<lb/>
schon deshalb nichts einzuwenden, weil die massenhafte Entlassung von Sol¬<lb/>
daten die industrielle Reservearmee ganz außerordentlich vermehren und da¬<lb/>
durch die inner!: Schwierigkeiten der Staaten auf eiuen so hohen Grad steigern<lb/>
würde, daß sich die eignen Aussichten der Partei sehr verbessern würden.<lb/>
Daß sich ihr allerlei Aussichten für deu Fall eines europäische-, für Deutsch¬<lb/>
land glücklichen oder unglücklichen Kriegs eröffnen würden, hat namentlich<lb/>
Herr Engels zu zeigen gesucht. Sonst aber würde, solange der bewaffnete<lb/>
Friede fortdauert, meint die Sozialdemokratie, alles seinen Gang so weiter¬<lb/>
gehen wie bisher, auch die Weltgeschichte keunt ja ein Gesetz des Beharrungs¬<lb/>
vermögens, der Militarismus würde nicht ruhen, bis er immer mehr und<lb/>
schließlich sämtliche Waffenfähige des Landes zu Soldaten gemacht hätte, und<lb/>
bis er seine jährlichen Ansprüche vielleicht auf eine Milliarde emporgeschraubt<lb/>
und damit zugleich die Verarmung der Massen auf den Gipfel getrieben hätte.<lb/>
Und dann, nun dann würde &#x2014; der Sozialismus die Gesellschaft &#x201E;retten."<lb/>
Wenn die Sozialdemokratie schon vorher, ehe es zur Äußersten kommt,<lb/>
ehe die Explosion unvermeidlich geworden ist, die &#x201E;Rettung" zu vollziehen<lb/>
Gelegenheit findet, so wird sie es natürlich schon vorher thun, so wird<lb/>
sie sich beeilen, die Ventile zu öffnen. Schon hat, sagt der Vorwärts, &#x201E;der<lb/>
Militarismus Italien zu Grunde gerichtet. MlitMg. IrMg.in xsräiäöi'ö. In<lb/>
Deutschland sind wir noch nicht ganz so weit, aber wir sind auf dem besten<lb/>
Wege." Das sind die Ansichten der Sozialdemokratie über die Entwicklung,<lb/>
der wir entgegengehn.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_530" next="#ID_531"> Gesetzt, daß die Sozialdemokratie Recht hätte, daß die &#x201E;Zukunft" dem<lb/>
&#x201E;Sozialismus" gehörte, womit vielleicht manche Mitglieder der Zentrumspartei<lb/>
und sehr viele andre, die nicht Sozialdemokraten sind, übereinstimmen, so fragt<lb/>
es sich immer noch, sogar nach der eignen Ansicht der Sozialdemokratie,<lb/>
welchem Sozialismus die &#x201E;Rettung" der Gesellschaft glücken wird. Welcher<lb/>
Sozialismus wird Sieger sein? Wird der kirchliche, der staatliche oder<lb/>
der demokratische den Sieg davontragen? Nach den ans dem Berliner<lb/>
Parteitage der Sozialdemokratie vorgetragnen Anschauungen spitzt sich die<lb/>
Frage immer mehr dahin zu, ob der Staatssozialismus, der vielmehr<lb/>
Staatskapitalismus wäre, oder der demokratische Sozialismus das Feld<lb/>
behaupten  würde.  Der  Stantssozialismus  wäre  nur  ein sogenannter</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0169] glaubt, daß das eine sehr „populäre" Forderung sei, geeignet, Tausende von Stimmen bei einer Wahl für die Partei zu erhalten und zu gewinnen. Die Partei strebt vor allem uach Selbsterhaltung und will sich von dem roten Mitbewerber um die Gunst des abstimmenden Volks, der den „Turm des Zentrums" zu erschüttern droht, nicht deu Rang ablaufen lassen, sie möchte gern bei einer Neuwahl ihre „Sitze" zu behaupten imstande sein. Wie denkt sich nun die Sozialdemokratie selbst die fernere Entwicklung! Gegen die Abrüstung, wenn sie nicht unmöglich wäre, hätte sie wahrscheinlich schon deshalb nichts einzuwenden, weil die massenhafte Entlassung von Sol¬ daten die industrielle Reservearmee ganz außerordentlich vermehren und da¬ durch die inner!: Schwierigkeiten der Staaten auf eiuen so hohen Grad steigern würde, daß sich die eignen Aussichten der Partei sehr verbessern würden. Daß sich ihr allerlei Aussichten für deu Fall eines europäische-, für Deutsch¬ land glücklichen oder unglücklichen Kriegs eröffnen würden, hat namentlich Herr Engels zu zeigen gesucht. Sonst aber würde, solange der bewaffnete Friede fortdauert, meint die Sozialdemokratie, alles seinen Gang so weiter¬ gehen wie bisher, auch die Weltgeschichte keunt ja ein Gesetz des Beharrungs¬ vermögens, der Militarismus würde nicht ruhen, bis er immer mehr und schließlich sämtliche Waffenfähige des Landes zu Soldaten gemacht hätte, und bis er seine jährlichen Ansprüche vielleicht auf eine Milliarde emporgeschraubt und damit zugleich die Verarmung der Massen auf den Gipfel getrieben hätte. Und dann, nun dann würde — der Sozialismus die Gesellschaft „retten." Wenn die Sozialdemokratie schon vorher, ehe es zur Äußersten kommt, ehe die Explosion unvermeidlich geworden ist, die „Rettung" zu vollziehen Gelegenheit findet, so wird sie es natürlich schon vorher thun, so wird sie sich beeilen, die Ventile zu öffnen. Schon hat, sagt der Vorwärts, „der Militarismus Italien zu Grunde gerichtet. MlitMg. IrMg.in xsräiäöi'ö. In Deutschland sind wir noch nicht ganz so weit, aber wir sind auf dem besten Wege." Das sind die Ansichten der Sozialdemokratie über die Entwicklung, der wir entgegengehn. Gesetzt, daß die Sozialdemokratie Recht hätte, daß die „Zukunft" dem „Sozialismus" gehörte, womit vielleicht manche Mitglieder der Zentrumspartei und sehr viele andre, die nicht Sozialdemokraten sind, übereinstimmen, so fragt es sich immer noch, sogar nach der eignen Ansicht der Sozialdemokratie, welchem Sozialismus die „Rettung" der Gesellschaft glücken wird. Welcher Sozialismus wird Sieger sein? Wird der kirchliche, der staatliche oder der demokratische den Sieg davontragen? Nach den ans dem Berliner Parteitage der Sozialdemokratie vorgetragnen Anschauungen spitzt sich die Frage immer mehr dahin zu, ob der Staatssozialismus, der vielmehr Staatskapitalismus wäre, oder der demokratische Sozialismus das Feld behaupten würde. Der Stantssozialismus wäre nur ein sogenannter

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/169
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/169>, abgerufen am 23.05.2024.