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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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hat, sondern darin, das; jede Gruppe der organisirten Gesellschaft, die man
Staat nennt, in dein ihr zukommenden Lebenskreise selbständig waltet und
ihre Mitglieder zu selbstthätiger Mitwirkung, d. h. zum Gefühl der Verant¬
wortlichkeit und zum Verständnis des unendlich vielgestaltigen öffentlichen
Lebens erzieht. Daß dazu die Franzosen in absehbarer Zeit gelangen werden,
dazu ist leider zu ihrem Unglück und zum Unglück Europas gar keine Aus¬
sicht. Es ist sogar die Frage, ob überhaupt eine so vielseitige Thätigkeit,
wie sie der moderne europäische Kulturstaat jetzt mehr als jemals voraussetzt,
mit Erfolg von einer Regierung geleitet werden könne, die auf der Sou¬
veränität des Volkes fußt, oder vielmehr, es ist keine Frage, daß dies unmöglich
ist. Denn jede Regierung der Art steht auf schwacher Grundlage, aus der
Grundlage der Volksstimmung, die naturgemäß raschem, oft plötzlichem Wechsel
unterworfen ist; sie wird daher entweder schwach sein und wenig leisten, wie
die heutige französische, deren Ministerien mit den unberechenbaren Mehrheiten
einer käuflichen Kammer wechseln und vor lauter Sorge um ihren Bestand
kaum ernsthaft dazu kommen, zu leisten, wofür sie basirt, oder sie wird des¬
potisch sein, weil sie sich unsicher sühlt, und doch auch fallen, sobald sie einen
großen Mißerfolg erleidet und das Vertrauen des Volkes verliert.

Trotzdem wird die große Lüge der Volkssouverünitüt in Frankreich fort¬
bestehen und das ihrige dazu beitragen, weiter an dem politischen Verfall des
unglücklichen Landes zu arbeiten. Denn das, was sie allein überwinden
könnte, die Rückkehr zur erblichen, legitimen Monarchie (nicht etwa zum Bonn¬
partismus, der ja auch auf der Volkssouveränität beruht), scheint völlig aus¬
geschlossen. Die Orleans haben niemals den kühnen Ehrgeiz besessen, der
allein diese Krone gewinnen könnte; der alte monarchische Adel Frankreichs
ist so gut wie vernichtet, und vor allem ist für die weit überwiegende Mehr¬
heit der Franzosen alles, was vor 1789 liegt, tot und abgethan für immer,
denn die Zeit des anoien rugirnc; gilt ihnen schlechtweg als eine Zeit des
finstersten Despotismus, der ärgsten Knechtung, und für die wundervolle Man-
nichfaltigkeit der Lebensformen, die sich einst auf diesem Boden entfaltet, haben
heute nur noch wenige hochgebildete Franzosen ein Verständnis; die andern
stehen unter der Herrschaft der allmächtigen revolutionären Phrase, für sie
giebt es keine Brücke hinüber aus der Gegenwart in die reiche Vergangenheit
des Landes. Der Bruch mit der Geschichte ist vollzogen und seiner Natur
nach unheilbar, denn eine Verlorne Tradition läßt sich nicht wiederherstellen.

So wird sich voraussichtlich die politische Entwicklung Frankreichs weiter
bewegen in dem öden Einerlei der Kämpfe um die Herrschaft über die Staats¬
maschine und über die Hauptstadt. Ob das .schließlich zum Zerfalle Frank¬
reichs, zu einer neuen Eroberung, zu einer abermaligen Auffrischung des
verdorrenden keltischen Blutes führen wird, wer kann das heute sagen?

Aber auch für uns Deutsche enthält der 21. Januar und was ihm vor-


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hat, sondern darin, das; jede Gruppe der organisirten Gesellschaft, die man
Staat nennt, in dein ihr zukommenden Lebenskreise selbständig waltet und
ihre Mitglieder zu selbstthätiger Mitwirkung, d. h. zum Gefühl der Verant¬
wortlichkeit und zum Verständnis des unendlich vielgestaltigen öffentlichen
Lebens erzieht. Daß dazu die Franzosen in absehbarer Zeit gelangen werden,
dazu ist leider zu ihrem Unglück und zum Unglück Europas gar keine Aus¬
sicht. Es ist sogar die Frage, ob überhaupt eine so vielseitige Thätigkeit,
wie sie der moderne europäische Kulturstaat jetzt mehr als jemals voraussetzt,
mit Erfolg von einer Regierung geleitet werden könne, die auf der Sou¬
veränität des Volkes fußt, oder vielmehr, es ist keine Frage, daß dies unmöglich
ist. Denn jede Regierung der Art steht auf schwacher Grundlage, aus der
Grundlage der Volksstimmung, die naturgemäß raschem, oft plötzlichem Wechsel
unterworfen ist; sie wird daher entweder schwach sein und wenig leisten, wie
die heutige französische, deren Ministerien mit den unberechenbaren Mehrheiten
einer käuflichen Kammer wechseln und vor lauter Sorge um ihren Bestand
kaum ernsthaft dazu kommen, zu leisten, wofür sie basirt, oder sie wird des¬
potisch sein, weil sie sich unsicher sühlt, und doch auch fallen, sobald sie einen
großen Mißerfolg erleidet und das Vertrauen des Volkes verliert.

Trotzdem wird die große Lüge der Volkssouverünitüt in Frankreich fort¬
bestehen und das ihrige dazu beitragen, weiter an dem politischen Verfall des
unglücklichen Landes zu arbeiten. Denn das, was sie allein überwinden
könnte, die Rückkehr zur erblichen, legitimen Monarchie (nicht etwa zum Bonn¬
partismus, der ja auch auf der Volkssouveränität beruht), scheint völlig aus¬
geschlossen. Die Orleans haben niemals den kühnen Ehrgeiz besessen, der
allein diese Krone gewinnen könnte; der alte monarchische Adel Frankreichs
ist so gut wie vernichtet, und vor allem ist für die weit überwiegende Mehr¬
heit der Franzosen alles, was vor 1789 liegt, tot und abgethan für immer,
denn die Zeit des anoien rugirnc; gilt ihnen schlechtweg als eine Zeit des
finstersten Despotismus, der ärgsten Knechtung, und für die wundervolle Man-
nichfaltigkeit der Lebensformen, die sich einst auf diesem Boden entfaltet, haben
heute nur noch wenige hochgebildete Franzosen ein Verständnis; die andern
stehen unter der Herrschaft der allmächtigen revolutionären Phrase, für sie
giebt es keine Brücke hinüber aus der Gegenwart in die reiche Vergangenheit
des Landes. Der Bruch mit der Geschichte ist vollzogen und seiner Natur
nach unheilbar, denn eine Verlorne Tradition läßt sich nicht wiederherstellen.

So wird sich voraussichtlich die politische Entwicklung Frankreichs weiter
bewegen in dem öden Einerlei der Kämpfe um die Herrschaft über die Staats¬
maschine und über die Hauptstadt. Ob das .schließlich zum Zerfalle Frank¬
reichs, zu einer neuen Eroberung, zu einer abermaligen Auffrischung des
verdorrenden keltischen Blutes führen wird, wer kann das heute sagen?

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[0184] Zum 2^, Januar hat, sondern darin, das; jede Gruppe der organisirten Gesellschaft, die man Staat nennt, in dein ihr zukommenden Lebenskreise selbständig waltet und ihre Mitglieder zu selbstthätiger Mitwirkung, d. h. zum Gefühl der Verant¬ wortlichkeit und zum Verständnis des unendlich vielgestaltigen öffentlichen Lebens erzieht. Daß dazu die Franzosen in absehbarer Zeit gelangen werden, dazu ist leider zu ihrem Unglück und zum Unglück Europas gar keine Aus¬ sicht. Es ist sogar die Frage, ob überhaupt eine so vielseitige Thätigkeit, wie sie der moderne europäische Kulturstaat jetzt mehr als jemals voraussetzt, mit Erfolg von einer Regierung geleitet werden könne, die auf der Sou¬ veränität des Volkes fußt, oder vielmehr, es ist keine Frage, daß dies unmöglich ist. Denn jede Regierung der Art steht auf schwacher Grundlage, aus der Grundlage der Volksstimmung, die naturgemäß raschem, oft plötzlichem Wechsel unterworfen ist; sie wird daher entweder schwach sein und wenig leisten, wie die heutige französische, deren Ministerien mit den unberechenbaren Mehrheiten einer käuflichen Kammer wechseln und vor lauter Sorge um ihren Bestand kaum ernsthaft dazu kommen, zu leisten, wofür sie basirt, oder sie wird des¬ potisch sein, weil sie sich unsicher sühlt, und doch auch fallen, sobald sie einen großen Mißerfolg erleidet und das Vertrauen des Volkes verliert. Trotzdem wird die große Lüge der Volkssouverünitüt in Frankreich fort¬ bestehen und das ihrige dazu beitragen, weiter an dem politischen Verfall des unglücklichen Landes zu arbeiten. Denn das, was sie allein überwinden könnte, die Rückkehr zur erblichen, legitimen Monarchie (nicht etwa zum Bonn¬ partismus, der ja auch auf der Volkssouveränität beruht), scheint völlig aus¬ geschlossen. Die Orleans haben niemals den kühnen Ehrgeiz besessen, der allein diese Krone gewinnen könnte; der alte monarchische Adel Frankreichs ist so gut wie vernichtet, und vor allem ist für die weit überwiegende Mehr¬ heit der Franzosen alles, was vor 1789 liegt, tot und abgethan für immer, denn die Zeit des anoien rugirnc; gilt ihnen schlechtweg als eine Zeit des finstersten Despotismus, der ärgsten Knechtung, und für die wundervolle Man- nichfaltigkeit der Lebensformen, die sich einst auf diesem Boden entfaltet, haben heute nur noch wenige hochgebildete Franzosen ein Verständnis; die andern stehen unter der Herrschaft der allmächtigen revolutionären Phrase, für sie giebt es keine Brücke hinüber aus der Gegenwart in die reiche Vergangenheit des Landes. Der Bruch mit der Geschichte ist vollzogen und seiner Natur nach unheilbar, denn eine Verlorne Tradition läßt sich nicht wiederherstellen. So wird sich voraussichtlich die politische Entwicklung Frankreichs weiter bewegen in dem öden Einerlei der Kämpfe um die Herrschaft über die Staats¬ maschine und über die Hauptstadt. Ob das .schließlich zum Zerfalle Frank¬ reichs, zu einer neuen Eroberung, zu einer abermaligen Auffrischung des verdorrenden keltischen Blutes führen wird, wer kann das heute sagen? Aber auch für uns Deutsche enthält der 21. Januar und was ihm vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/184>, abgerufen am 26.05.2024.