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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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ZINN 2^, Januar

Frankreichs, vollendet. Deal diese Landeseuiteilung ist eine von den wenigen
Werken der Nationalversammlung von 1789, die noch dauern. Als Bvnapnrte
ans Ruder kam, stellte er auf dieser neuen Grundlage mit seinen Präfekten
und Unterpräfekten die alte Verwaltungsordnung Ludwigs des Vierzehnte"
mit ihren Intendanten und Sousdüle-guvs wieder her und schloß damit die
Zentralisation ab. Eine wahrhaft freiheitliche Reform, wie sie in Ludwigs
des Sechzehnten ersten Jahren Turgot wirklich plante, hätte das bereits vor-
hnndne Übermaß der Zentralisation znrückbilden lind die alten Provinzen ans
dem Grunde einer ausgebildeten Selbstverwaltung, zu der der Stoff schon
vorhanden gewesen wäre, zu großen, leistungskrästigen Körpern gestalten
müssen. Statt dessen trat das Gegenteil ein. Die letzten Regungen pro¬
vinzieller Selbständigkeit, die Aufstünde in der Vendve und in einzelnen großen
Städte" des Südens, wurden von den Pariser Machthabern in Blut erstickt,
und sie haben sich später nicht wiederholt. Wohl dachte man im Winter 1870/71
im Südosten, im alten Burgund, an eine besondre ki^no du mutt, und in
dem Kampfe gegen die Pariser Kommune regte sich etwas wie ein Gegensatz
der "Provinz" zu der allmächtigen Hauptstadt; aber zu irgend einer Vedeutnng
kam das alles nicht. So ist seit hundert Jahren das einst so reiche geistige
Leben der ,,Provinz" verödet, alles Herzblut des großen und so bevorzugten,
schönen Landes strömt in dem bezaubernden Stadtungehener an der Seine zu¬
sammen; was in Paris gefüllt und beliebt, das hat unbedingte Geltung in
ganz Frankreich; wer Paris hat oder die Negieruugsmaschüie überhaupt, der
hat Frankreich. Nicht die wahre Stimmung des Volkes entscheidet also über
sein Geschick, sondern bald eine eiserne Despotie, wie die Napoleons oder
Gambettas, bald eine fanatisirte sozialdemokratische Masse, bald ein Hause von
kvrrnmpirten Advokaten, Journalisten und Börsenjobbern, wie heute in
dieser neuesten "parlamentarischen" Republik, die vorläufig noch ihr Lebe"
fristet, weil noch niemand da ist, der ihrem ruhmlosen Dasein ein ruhmloses
Ende bereitet. In diese"! Zustande liegt die größte Gefahr nicht nur für
Frankreich, sondern auch für Europa und besonders für Deutschland. Wenn
es morgen einer Bande einflußreicher Schreier oder einem unbedenklichen
Diktator in Paris beliebt, den Krieg vom Zaule zu brechen, so wird das die
friedliche Stimmung des französischen Volkes so wenig hindern, wie im
Juli 1870 oder im April 1792.

So ist die ,,Voltssouverünität" aus diesem seit Jahrhunderten unter den
verschiedensten Formen immer despotisch regierten Boden nichts als eine un¬
geheure Lüge; sie ist die Krankheit, das schleichende Gift, das am Leibe des
französischen Volkes zehrt, und sie wird das bleiben, so lange in Frankreich
der Despotismus herrscht statt der wahren Freiheit, die nicht darin besteht,
daß der Staatsbürger dann und wann irgendwo einen Wahlzettcl in'eine Urne
steckt mit dem Namen irgend eines Menschen, den ihm irgendwer empfohlen


ZINN 2^, Januar

Frankreichs, vollendet. Deal diese Landeseuiteilung ist eine von den wenigen
Werken der Nationalversammlung von 1789, die noch dauern. Als Bvnapnrte
ans Ruder kam, stellte er auf dieser neuen Grundlage mit seinen Präfekten
und Unterpräfekten die alte Verwaltungsordnung Ludwigs des Vierzehnte»
mit ihren Intendanten und Sousdüle-guvs wieder her und schloß damit die
Zentralisation ab. Eine wahrhaft freiheitliche Reform, wie sie in Ludwigs
des Sechzehnten ersten Jahren Turgot wirklich plante, hätte das bereits vor-
hnndne Übermaß der Zentralisation znrückbilden lind die alten Provinzen ans
dem Grunde einer ausgebildeten Selbstverwaltung, zu der der Stoff schon
vorhanden gewesen wäre, zu großen, leistungskrästigen Körpern gestalten
müssen. Statt dessen trat das Gegenteil ein. Die letzten Regungen pro¬
vinzieller Selbständigkeit, die Aufstünde in der Vendve und in einzelnen großen
Städte» des Südens, wurden von den Pariser Machthabern in Blut erstickt,
und sie haben sich später nicht wiederholt. Wohl dachte man im Winter 1870/71
im Südosten, im alten Burgund, an eine besondre ki^no du mutt, und in
dem Kampfe gegen die Pariser Kommune regte sich etwas wie ein Gegensatz
der „Provinz" zu der allmächtigen Hauptstadt; aber zu irgend einer Vedeutnng
kam das alles nicht. So ist seit hundert Jahren das einst so reiche geistige
Leben der ,,Provinz" verödet, alles Herzblut des großen und so bevorzugten,
schönen Landes strömt in dem bezaubernden Stadtungehener an der Seine zu¬
sammen; was in Paris gefüllt und beliebt, das hat unbedingte Geltung in
ganz Frankreich; wer Paris hat oder die Negieruugsmaschüie überhaupt, der
hat Frankreich. Nicht die wahre Stimmung des Volkes entscheidet also über
sein Geschick, sondern bald eine eiserne Despotie, wie die Napoleons oder
Gambettas, bald eine fanatisirte sozialdemokratische Masse, bald ein Hause von
kvrrnmpirten Advokaten, Journalisten und Börsenjobbern, wie heute in
dieser neuesten „parlamentarischen" Republik, die vorläufig noch ihr Lebe»
fristet, weil noch niemand da ist, der ihrem ruhmlosen Dasein ein ruhmloses
Ende bereitet. In diese»! Zustande liegt die größte Gefahr nicht nur für
Frankreich, sondern auch für Europa und besonders für Deutschland. Wenn
es morgen einer Bande einflußreicher Schreier oder einem unbedenklichen
Diktator in Paris beliebt, den Krieg vom Zaule zu brechen, so wird das die
friedliche Stimmung des französischen Volkes so wenig hindern, wie im
Juli 1870 oder im April 1792.

So ist die ,,Voltssouverünität" aus diesem seit Jahrhunderten unter den
verschiedensten Formen immer despotisch regierten Boden nichts als eine un¬
geheure Lüge; sie ist die Krankheit, das schleichende Gift, das am Leibe des
französischen Volkes zehrt, und sie wird das bleiben, so lange in Frankreich
der Despotismus herrscht statt der wahren Freiheit, die nicht darin besteht,
daß der Staatsbürger dann und wann irgendwo einen Wahlzettcl in'eine Urne
steckt mit dem Namen irgend eines Menschen, den ihm irgendwer empfohlen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/183>, abgerufen am 26.05.2024.