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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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)veter Rommnnismus noch Kapitalismus

Frauen und Mädchen in Unkosten zu stürzen; sie würden sich Maschinen an¬
schaffen, die die Arbeiterinnen ersetzten. Was aus diesen wird, nachdem sie
die Arbeit verloren haben, darnach fragt natürlich kein Mensch im ganzen
Reiche. Den Geldmünnern vollends ist es ganz gleichgiltig, ob ein Land von
glücklichen Menschen bewohnt ist oder zur Wüste wird. Das Menschengewimmel
der Großstadt allerdings brauchen sie zu ihrem Vergnügen, aber ob der Wert
ihrer Coupons von Deutschen, Asiaten oder Amerikanern verwirklicht wird,
das kümmert sie nicht. Viele mögen im Leben noch gar nicht daran gedacht
haben, daß dazu Menschen nötig sind; manchem mag erst bei dem portugie¬
sischen, dem russischen und dem Baringkrach eine Ahnung des Zusammen¬
hangs aufgegangen sein. Sogar die Landwirtschaft sucht die Menschen über¬
flüssig zu macheu, indem der Großgrundbesitzer einerseits mehr und mehr Ma¬
schinen anwendet, andrerseits nicht mehr für sich und seine Leute, sondern für
den Markt, womöglich für den Auslandsmarkt produzirt. Die Naturalwirt¬
schaft ist eine menschenfreundliche, die moderne Industrie und der Kapitalismus
sind menschenfeindliche Wirtschaftsformen.

Das zeigt sich aber nicht bloß bei der Erzeugung, sondern auch im Genuß
der Güter. Als die Bevölkerung noch zu neun Zehnteln aus Bauern bestand,
konnte nur ein kleiner Teil der Früchte zu Geld gemacht werden. Was der
Herr an Naturalien von seinen Bauern empfing, mußte er selbst mit seinem
Haus- und Hofgesinde und mit seinen Gästen aufzehren, und ab und zu, bei
festlichen Gelegenheiten, halfen ihm dieselben Bauern dabei, die es gebracht
hatten. Herr, Bauer und Gesinde genossen dieselben Nahrungsmittel: Fleisch
von Schlachtvieh, Geflügel, Eier, Brot, Milch, Bier, in Weingegenden Wein,
und nur das Wild, dazu in den nichtweinbauenden Gegenden der Wein, unter¬
schieden den Herreutisch vom Gesindetisch. Bei Festen konnte nicht mit kost¬
baren Delikatessen und teuern Weinsorten geprunkt werden, die es gar nicht
gab, sondern nur mit der Menge und Größe der Ochsen, Hammel, Wild¬
schweine, Hirsche, die gebraten, mit der Menge und Größe der Wein- und
Bierfässer, die angeschrotet wurden, und mit der Menge Volks, die zur Ver¬
tilgung dieser Lebensmittelmasfen nötig war. Da strömte außer den Gefolg¬
schaften der Gäste und den Bauern des Festgebers auch noch das fahrende
Volk der Säuger, Musikanten, Gaukler und Bettler zusammen, und tage- oder
gar wochenlang wurde auf Waldwiesen geschmaust und gezecht, gesungen, ge¬
fiedelt und gesprungen. Das mag nicht sehr moralisch, nicht sehr erhaben,
mitunter vielleicht auch nicht einmal sehr ästhetisch gewesen sein, aber von einer
sozialen Scheidewand war es das Gegenteil. Der mittelalterliche Große han¬
delte nicht ganz nach dem Gebote Christi: Willst du ein Gastmahl geben, so
lade nicht deine Freunde und Standesgenossen dazu ein, sondern die Bettler
und Krüppel -- aber, indem er unparteiisch beide Menschenklassen bedachte,
wenigstens halb. Noch im vorigen Jahrhundert kamen selbst bei dem ver-


Grenzboten I 1893 , 28
)veter Rommnnismus noch Kapitalismus

Frauen und Mädchen in Unkosten zu stürzen; sie würden sich Maschinen an¬
schaffen, die die Arbeiterinnen ersetzten. Was aus diesen wird, nachdem sie
die Arbeit verloren haben, darnach fragt natürlich kein Mensch im ganzen
Reiche. Den Geldmünnern vollends ist es ganz gleichgiltig, ob ein Land von
glücklichen Menschen bewohnt ist oder zur Wüste wird. Das Menschengewimmel
der Großstadt allerdings brauchen sie zu ihrem Vergnügen, aber ob der Wert
ihrer Coupons von Deutschen, Asiaten oder Amerikanern verwirklicht wird,
das kümmert sie nicht. Viele mögen im Leben noch gar nicht daran gedacht
haben, daß dazu Menschen nötig sind; manchem mag erst bei dem portugie¬
sischen, dem russischen und dem Baringkrach eine Ahnung des Zusammen¬
hangs aufgegangen sein. Sogar die Landwirtschaft sucht die Menschen über¬
flüssig zu macheu, indem der Großgrundbesitzer einerseits mehr und mehr Ma¬
schinen anwendet, andrerseits nicht mehr für sich und seine Leute, sondern für
den Markt, womöglich für den Auslandsmarkt produzirt. Die Naturalwirt¬
schaft ist eine menschenfreundliche, die moderne Industrie und der Kapitalismus
sind menschenfeindliche Wirtschaftsformen.

Das zeigt sich aber nicht bloß bei der Erzeugung, sondern auch im Genuß
der Güter. Als die Bevölkerung noch zu neun Zehnteln aus Bauern bestand,
konnte nur ein kleiner Teil der Früchte zu Geld gemacht werden. Was der
Herr an Naturalien von seinen Bauern empfing, mußte er selbst mit seinem
Haus- und Hofgesinde und mit seinen Gästen aufzehren, und ab und zu, bei
festlichen Gelegenheiten, halfen ihm dieselben Bauern dabei, die es gebracht
hatten. Herr, Bauer und Gesinde genossen dieselben Nahrungsmittel: Fleisch
von Schlachtvieh, Geflügel, Eier, Brot, Milch, Bier, in Weingegenden Wein,
und nur das Wild, dazu in den nichtweinbauenden Gegenden der Wein, unter¬
schieden den Herreutisch vom Gesindetisch. Bei Festen konnte nicht mit kost¬
baren Delikatessen und teuern Weinsorten geprunkt werden, die es gar nicht
gab, sondern nur mit der Menge und Größe der Ochsen, Hammel, Wild¬
schweine, Hirsche, die gebraten, mit der Menge und Größe der Wein- und
Bierfässer, die angeschrotet wurden, und mit der Menge Volks, die zur Ver¬
tilgung dieser Lebensmittelmasfen nötig war. Da strömte außer den Gefolg¬
schaften der Gäste und den Bauern des Festgebers auch noch das fahrende
Volk der Säuger, Musikanten, Gaukler und Bettler zusammen, und tage- oder
gar wochenlang wurde auf Waldwiesen geschmaust und gezecht, gesungen, ge¬
fiedelt und gesprungen. Das mag nicht sehr moralisch, nicht sehr erhaben,
mitunter vielleicht auch nicht einmal sehr ästhetisch gewesen sein, aber von einer
sozialen Scheidewand war es das Gegenteil. Der mittelalterliche Große han¬
delte nicht ganz nach dem Gebote Christi: Willst du ein Gastmahl geben, so
lade nicht deine Freunde und Standesgenossen dazu ein, sondern die Bettler
und Krüppel — aber, indem er unparteiisch beide Menschenklassen bedachte,
wenigstens halb. Noch im vorigen Jahrhundert kamen selbst bei dem ver-


Grenzboten I 1893 , 28
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[0227] )veter Rommnnismus noch Kapitalismus Frauen und Mädchen in Unkosten zu stürzen; sie würden sich Maschinen an¬ schaffen, die die Arbeiterinnen ersetzten. Was aus diesen wird, nachdem sie die Arbeit verloren haben, darnach fragt natürlich kein Mensch im ganzen Reiche. Den Geldmünnern vollends ist es ganz gleichgiltig, ob ein Land von glücklichen Menschen bewohnt ist oder zur Wüste wird. Das Menschengewimmel der Großstadt allerdings brauchen sie zu ihrem Vergnügen, aber ob der Wert ihrer Coupons von Deutschen, Asiaten oder Amerikanern verwirklicht wird, das kümmert sie nicht. Viele mögen im Leben noch gar nicht daran gedacht haben, daß dazu Menschen nötig sind; manchem mag erst bei dem portugie¬ sischen, dem russischen und dem Baringkrach eine Ahnung des Zusammen¬ hangs aufgegangen sein. Sogar die Landwirtschaft sucht die Menschen über¬ flüssig zu macheu, indem der Großgrundbesitzer einerseits mehr und mehr Ma¬ schinen anwendet, andrerseits nicht mehr für sich und seine Leute, sondern für den Markt, womöglich für den Auslandsmarkt produzirt. Die Naturalwirt¬ schaft ist eine menschenfreundliche, die moderne Industrie und der Kapitalismus sind menschenfeindliche Wirtschaftsformen. Das zeigt sich aber nicht bloß bei der Erzeugung, sondern auch im Genuß der Güter. Als die Bevölkerung noch zu neun Zehnteln aus Bauern bestand, konnte nur ein kleiner Teil der Früchte zu Geld gemacht werden. Was der Herr an Naturalien von seinen Bauern empfing, mußte er selbst mit seinem Haus- und Hofgesinde und mit seinen Gästen aufzehren, und ab und zu, bei festlichen Gelegenheiten, halfen ihm dieselben Bauern dabei, die es gebracht hatten. Herr, Bauer und Gesinde genossen dieselben Nahrungsmittel: Fleisch von Schlachtvieh, Geflügel, Eier, Brot, Milch, Bier, in Weingegenden Wein, und nur das Wild, dazu in den nichtweinbauenden Gegenden der Wein, unter¬ schieden den Herreutisch vom Gesindetisch. Bei Festen konnte nicht mit kost¬ baren Delikatessen und teuern Weinsorten geprunkt werden, die es gar nicht gab, sondern nur mit der Menge und Größe der Ochsen, Hammel, Wild¬ schweine, Hirsche, die gebraten, mit der Menge und Größe der Wein- und Bierfässer, die angeschrotet wurden, und mit der Menge Volks, die zur Ver¬ tilgung dieser Lebensmittelmasfen nötig war. Da strömte außer den Gefolg¬ schaften der Gäste und den Bauern des Festgebers auch noch das fahrende Volk der Säuger, Musikanten, Gaukler und Bettler zusammen, und tage- oder gar wochenlang wurde auf Waldwiesen geschmaust und gezecht, gesungen, ge¬ fiedelt und gesprungen. Das mag nicht sehr moralisch, nicht sehr erhaben, mitunter vielleicht auch nicht einmal sehr ästhetisch gewesen sein, aber von einer sozialen Scheidewand war es das Gegenteil. Der mittelalterliche Große han¬ delte nicht ganz nach dem Gebote Christi: Willst du ein Gastmahl geben, so lade nicht deine Freunde und Standesgenossen dazu ein, sondern die Bettler und Krüppel — aber, indem er unparteiisch beide Menschenklassen bedachte, wenigstens halb. Noch im vorigen Jahrhundert kamen selbst bei dem ver- Grenzboten I 1893 , 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/227>, abgerufen am 23.05.2024.