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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Meoor Kommunismus noch Aapitalismns

rufum Adel Frankreichs solche patriarchalisch-gemütliche Verhältnisse vor, wie
sie der altere Mirabeau beschreibt. Von einem Gute in der Normandie z. B.
erzählt er: "Der Herr hat fünfundzwanzig bis dreißig kleine Halbpächter, mit
denen er den Ertrag teilt. Er besucht sie fleißig, plaudert mit ihnen über
Wirtschaftsangelegenheiten, beehrt die Hochzeiten und Kindtaufen mit seiner
Gegenwart und trinkt mit den Gästen. Sonntags giebts ein Tänzchen im
Schloßhofe, an dem sich die Damen des Schlosses beteiligen." Dergleichen
kommt heutzutage wohl nirgends mehr vor. Der Gutsbesitzer, der sich noch
ein wenig als Grandseigneur alten Stils fühlt, der wohlwollende Fabrikant
giebt bei Jubiläeu oder andern dergleichen außerordentlichen Gelegenheiten
seinen Leuten ein Fest, das er ans einige Minuten oder auf ein Stündchen
mit seiner Gegenwart beehrt, aber seine Feste sind nicht mehr ihre, und ihre
Feste sind nicht mehr die seinigen. Die Gemeinsamkeit hat der schärfsten Tren¬
nung Platz gemacht. Schon die Kost beider Gesellschaftsklassen ist so himmel¬
weit verschieden, daß der Reiche keine Ahnung davon hat, wie Kartoffeln, mit
amerikanischem Fett angemacht, Zichorienbrühe und Fusel, halb verfaultes Ab-
fallsleisch schmecken, während sich wieder der Arme von dem Geschmack der
Speisen keine Vorstellung machen kann, ans denen ein Diner oder Souper,
das Gedeck zu vierzig Mark, besteht. Auch in dieser Beziehung paßt der Aus-
spruch Disraelis: zwei verschiedne Welten, die einander uicht kennen. In die
Prachtgemächer gar, die der Festfeier des Reichen dienen, wird dem Armen
kein Einblick gestattet, außer in Zeiten, wo sie nicht festlich aussehn, und wo
er als Lohnarbeiter mit ihrer Herstellung oder Ausbesserung beschäftigt ist.
Den reiche" Prasser läßt Christus in die Hölle stürzen, weil Lazarus, der
auf seiner Schwelle lag, und dem die Hunde die Schwüre leckten, die begehrten
Brosamen nicht bekam, die vom Tische sielen. Wo käme der Lazarus von
heute auch nur so weit, den Tisch des Reichen zu scheu! Man denke sich das
Unmögliche, daß sich Lazarus an den Eingang des Speisesaales in einem Palais
des Berliner Tiergnrtenviertels geschlichen, sich dort malerisch hingelagert hätte
und von den Hunden die Schwäre kecken ließe! Der Polizeibeamte, in dessen
Bereich dieses Unglück geschähe, würde in Ohnmacht fallen; ihm wäre seine
Karriere Zeitlebens verdorben. Der Lazarus von heute gehört in die Höhlen
des Proletarierviertels, um die mau sich nnr kümmert, wenn Cholerafurcht die
zarten Seelen der vornehmen Herren und Damen beunruhigt. Dann erhält
Lazarus den gemessenen Befehl, sich eine reinlichere Wohnung oder überhaupt
eine Wohnung zu schaffen, bei Strafe von hundert Mark oder im Unvermögens¬
fall zehn Tagen Gefängnis für jede Übertretung. Um die Schönheit der Land¬
schaft nicht beeinträchtigen zu lassen und Raum für die Fuchsjagd zu gewinnen,
haben die englischen Lords quadratmeilengrvße Parks augelegt, in deren Um¬
zäunung kein Armer seine Hütte bauen darf, und auch in unsern festländischen
Großstädten bedeutet die Ausdehnung der vornehmen Stadtviertel eine immer


Meoor Kommunismus noch Aapitalismns

rufum Adel Frankreichs solche patriarchalisch-gemütliche Verhältnisse vor, wie
sie der altere Mirabeau beschreibt. Von einem Gute in der Normandie z. B.
erzählt er: „Der Herr hat fünfundzwanzig bis dreißig kleine Halbpächter, mit
denen er den Ertrag teilt. Er besucht sie fleißig, plaudert mit ihnen über
Wirtschaftsangelegenheiten, beehrt die Hochzeiten und Kindtaufen mit seiner
Gegenwart und trinkt mit den Gästen. Sonntags giebts ein Tänzchen im
Schloßhofe, an dem sich die Damen des Schlosses beteiligen." Dergleichen
kommt heutzutage wohl nirgends mehr vor. Der Gutsbesitzer, der sich noch
ein wenig als Grandseigneur alten Stils fühlt, der wohlwollende Fabrikant
giebt bei Jubiläeu oder andern dergleichen außerordentlichen Gelegenheiten
seinen Leuten ein Fest, das er ans einige Minuten oder auf ein Stündchen
mit seiner Gegenwart beehrt, aber seine Feste sind nicht mehr ihre, und ihre
Feste sind nicht mehr die seinigen. Die Gemeinsamkeit hat der schärfsten Tren¬
nung Platz gemacht. Schon die Kost beider Gesellschaftsklassen ist so himmel¬
weit verschieden, daß der Reiche keine Ahnung davon hat, wie Kartoffeln, mit
amerikanischem Fett angemacht, Zichorienbrühe und Fusel, halb verfaultes Ab-
fallsleisch schmecken, während sich wieder der Arme von dem Geschmack der
Speisen keine Vorstellung machen kann, ans denen ein Diner oder Souper,
das Gedeck zu vierzig Mark, besteht. Auch in dieser Beziehung paßt der Aus-
spruch Disraelis: zwei verschiedne Welten, die einander uicht kennen. In die
Prachtgemächer gar, die der Festfeier des Reichen dienen, wird dem Armen
kein Einblick gestattet, außer in Zeiten, wo sie nicht festlich aussehn, und wo
er als Lohnarbeiter mit ihrer Herstellung oder Ausbesserung beschäftigt ist.
Den reiche» Prasser läßt Christus in die Hölle stürzen, weil Lazarus, der
auf seiner Schwelle lag, und dem die Hunde die Schwüre leckten, die begehrten
Brosamen nicht bekam, die vom Tische sielen. Wo käme der Lazarus von
heute auch nur so weit, den Tisch des Reichen zu scheu! Man denke sich das
Unmögliche, daß sich Lazarus an den Eingang des Speisesaales in einem Palais
des Berliner Tiergnrtenviertels geschlichen, sich dort malerisch hingelagert hätte
und von den Hunden die Schwäre kecken ließe! Der Polizeibeamte, in dessen
Bereich dieses Unglück geschähe, würde in Ohnmacht fallen; ihm wäre seine
Karriere Zeitlebens verdorben. Der Lazarus von heute gehört in die Höhlen
des Proletarierviertels, um die mau sich nnr kümmert, wenn Cholerafurcht die
zarten Seelen der vornehmen Herren und Damen beunruhigt. Dann erhält
Lazarus den gemessenen Befehl, sich eine reinlichere Wohnung oder überhaupt
eine Wohnung zu schaffen, bei Strafe von hundert Mark oder im Unvermögens¬
fall zehn Tagen Gefängnis für jede Übertretung. Um die Schönheit der Land¬
schaft nicht beeinträchtigen zu lassen und Raum für die Fuchsjagd zu gewinnen,
haben die englischen Lords quadratmeilengrvße Parks augelegt, in deren Um¬
zäunung kein Armer seine Hütte bauen darf, und auch in unsern festländischen
Großstädten bedeutet die Ausdehnung der vornehmen Stadtviertel eine immer


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[0228] Meoor Kommunismus noch Aapitalismns rufum Adel Frankreichs solche patriarchalisch-gemütliche Verhältnisse vor, wie sie der altere Mirabeau beschreibt. Von einem Gute in der Normandie z. B. erzählt er: „Der Herr hat fünfundzwanzig bis dreißig kleine Halbpächter, mit denen er den Ertrag teilt. Er besucht sie fleißig, plaudert mit ihnen über Wirtschaftsangelegenheiten, beehrt die Hochzeiten und Kindtaufen mit seiner Gegenwart und trinkt mit den Gästen. Sonntags giebts ein Tänzchen im Schloßhofe, an dem sich die Damen des Schlosses beteiligen." Dergleichen kommt heutzutage wohl nirgends mehr vor. Der Gutsbesitzer, der sich noch ein wenig als Grandseigneur alten Stils fühlt, der wohlwollende Fabrikant giebt bei Jubiläeu oder andern dergleichen außerordentlichen Gelegenheiten seinen Leuten ein Fest, das er ans einige Minuten oder auf ein Stündchen mit seiner Gegenwart beehrt, aber seine Feste sind nicht mehr ihre, und ihre Feste sind nicht mehr die seinigen. Die Gemeinsamkeit hat der schärfsten Tren¬ nung Platz gemacht. Schon die Kost beider Gesellschaftsklassen ist so himmel¬ weit verschieden, daß der Reiche keine Ahnung davon hat, wie Kartoffeln, mit amerikanischem Fett angemacht, Zichorienbrühe und Fusel, halb verfaultes Ab- fallsleisch schmecken, während sich wieder der Arme von dem Geschmack der Speisen keine Vorstellung machen kann, ans denen ein Diner oder Souper, das Gedeck zu vierzig Mark, besteht. Auch in dieser Beziehung paßt der Aus- spruch Disraelis: zwei verschiedne Welten, die einander uicht kennen. In die Prachtgemächer gar, die der Festfeier des Reichen dienen, wird dem Armen kein Einblick gestattet, außer in Zeiten, wo sie nicht festlich aussehn, und wo er als Lohnarbeiter mit ihrer Herstellung oder Ausbesserung beschäftigt ist. Den reiche» Prasser läßt Christus in die Hölle stürzen, weil Lazarus, der auf seiner Schwelle lag, und dem die Hunde die Schwüre leckten, die begehrten Brosamen nicht bekam, die vom Tische sielen. Wo käme der Lazarus von heute auch nur so weit, den Tisch des Reichen zu scheu! Man denke sich das Unmögliche, daß sich Lazarus an den Eingang des Speisesaales in einem Palais des Berliner Tiergnrtenviertels geschlichen, sich dort malerisch hingelagert hätte und von den Hunden die Schwäre kecken ließe! Der Polizeibeamte, in dessen Bereich dieses Unglück geschähe, würde in Ohnmacht fallen; ihm wäre seine Karriere Zeitlebens verdorben. Der Lazarus von heute gehört in die Höhlen des Proletarierviertels, um die mau sich nnr kümmert, wenn Cholerafurcht die zarten Seelen der vornehmen Herren und Damen beunruhigt. Dann erhält Lazarus den gemessenen Befehl, sich eine reinlichere Wohnung oder überhaupt eine Wohnung zu schaffen, bei Strafe von hundert Mark oder im Unvermögens¬ fall zehn Tagen Gefängnis für jede Übertretung. Um die Schönheit der Land¬ schaft nicht beeinträchtigen zu lassen und Raum für die Fuchsjagd zu gewinnen, haben die englischen Lords quadratmeilengrvße Parks augelegt, in deren Um¬ zäunung kein Armer seine Hütte bauen darf, und auch in unsern festländischen Großstädten bedeutet die Ausdehnung der vornehmen Stadtviertel eine immer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/228>, abgerufen am 26.05.2024.