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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Meder Kommunismus noch Kapitalismus

War, ihre Kleinen lange vor Sonnenuntergang in die Fabrik zu tragen und
lange nach Sonnenaufgang nach Hause zu holen. Ich hörte die Flüche dieser
Bäter; sie waren laut und stark." Onstler war von dem frommen Fabri¬
kanten John Wood auf das Kinderelend aufmerksam gemacht worden. Dieser
teilte ihm mit, daß er selbst die Kinder dreizehn Stunden arbeiten lasse;
weiter könne er nicht heruntergehn, weil seine Konkurrenten vierzehn bis fünf¬
zehn Stunden arbeiten ließen. Er beschwor ihn, eine Bewegung für Kinder¬
schutz in Gang zu bringen, und verpflichtete ihn auf die Bibel, "jenes Buch,
worin ich täglich meine Verdammung lese." Wie kommt es, daß man bei
den Besprechungen des Werks von Schulze-Gnvernitz in den Zeitungen gerade
solche Stellen, wie die eben angeführte, die doch die interessantesten sind, bei¬
seite gelassen hat?

Als die "Spindelmühlen" noch mit Wasser getrieben wurden, lagen die
Fabriken an den Flußläufen, und es wurden namentlich Armenhauskinder
hingeschickt. Es bildete sich, sagt Melden, den Marx zitirt, die Gewohn¬
heit, "Lehrlinge" aus den Kirchspielsarmenhäusern von London, Birmingham
und sonstwo zu beziehn. Tausende dieser hilflosen kleinen Kreaturen im Alter
von sieben bis dreizehn Jahren wurden so nach dem Norden spedirt. Dort
wurden Aufseher bestellt, deren Bezahlung in dem Verhältnis zu der Arbeits-
meuge stand, die sie aus diesen Kindern herauszupressen vermochten. Die
Kinder wurden gepeitscht, gekettet und gefoltert mit dem ausgesuchtesten Raf¬
finement; die Peitsche hielt sie noch bei der Arbeit, wenn sie schon bis auf die
Knochen ausgehungert waren. Die schönen romantischen Thäler von Derby-
shire, Nottinghcunshire, Lancashire, abgesperrt sür die Augen der Öffentlichkeit,
wurden grausige Folterkammern. Die Gewinne der Fabrikanten wuchsen ins
Ungeheure. Selbst der hochgeschätzte Statistiker Eden, dessen Zuverlässigkeit
von niemand, auch von Wolf nicht, angezweifelt wird, kann sich der Bemer¬
kung nicht enthalten, es sei doch der Erwägung wert, ob eine Manufaktur,
die die Hütten und die Arbeitshäuser plündere, um die von da zusammen¬
geschleppten Kinder Nächte hindurch abzurackern und durch Zusammensperren
von Knaben und Mädchen in den Schlafstuben die Sittlichkeit zu untergraben,
ob eine solche Manufaktur das nationale Glück vermehre. Im Unterhause
wurde ein Fall angeführt, wo nach dem Bankerott eines Fabrikanten seine
Fabrikkinder mit dem übrigen Inventar angezeigt und an den Meistbietenden
verkauft wurden, und unter den Kaufverträgen der Kirchspiele mit Fabrikanten
auch einer, wo sich der Fabrikant der Pfarre gegenüber verpflichtete, auf je
20 vollsinnige Kinder ein schwachsinniges mit in Kauf zu nehmen. Sir Robert
Peel, der die erste Kiuderschutzbill von 1802 durchsetzte, hatte bei einem Be¬
such seiner eignen Fabrik gegen 1000 Kinder darin gefunden, deren Ausseh"
ihn erschreckte. Diese erste Bill bezog sich nur auf die aus den Armenhäusern
d^zognen Kinder. Bald nach ihrem Erlaßt aber machte die Anwendung der


Grenzboten I 1893 S
Meder Kommunismus noch Kapitalismus

War, ihre Kleinen lange vor Sonnenuntergang in die Fabrik zu tragen und
lange nach Sonnenaufgang nach Hause zu holen. Ich hörte die Flüche dieser
Bäter; sie waren laut und stark." Onstler war von dem frommen Fabri¬
kanten John Wood auf das Kinderelend aufmerksam gemacht worden. Dieser
teilte ihm mit, daß er selbst die Kinder dreizehn Stunden arbeiten lasse;
weiter könne er nicht heruntergehn, weil seine Konkurrenten vierzehn bis fünf¬
zehn Stunden arbeiten ließen. Er beschwor ihn, eine Bewegung für Kinder¬
schutz in Gang zu bringen, und verpflichtete ihn auf die Bibel, „jenes Buch,
worin ich täglich meine Verdammung lese." Wie kommt es, daß man bei
den Besprechungen des Werks von Schulze-Gnvernitz in den Zeitungen gerade
solche Stellen, wie die eben angeführte, die doch die interessantesten sind, bei¬
seite gelassen hat?

Als die „Spindelmühlen" noch mit Wasser getrieben wurden, lagen die
Fabriken an den Flußläufen, und es wurden namentlich Armenhauskinder
hingeschickt. Es bildete sich, sagt Melden, den Marx zitirt, die Gewohn¬
heit, „Lehrlinge" aus den Kirchspielsarmenhäusern von London, Birmingham
und sonstwo zu beziehn. Tausende dieser hilflosen kleinen Kreaturen im Alter
von sieben bis dreizehn Jahren wurden so nach dem Norden spedirt. Dort
wurden Aufseher bestellt, deren Bezahlung in dem Verhältnis zu der Arbeits-
meuge stand, die sie aus diesen Kindern herauszupressen vermochten. Die
Kinder wurden gepeitscht, gekettet und gefoltert mit dem ausgesuchtesten Raf¬
finement; die Peitsche hielt sie noch bei der Arbeit, wenn sie schon bis auf die
Knochen ausgehungert waren. Die schönen romantischen Thäler von Derby-
shire, Nottinghcunshire, Lancashire, abgesperrt sür die Augen der Öffentlichkeit,
wurden grausige Folterkammern. Die Gewinne der Fabrikanten wuchsen ins
Ungeheure. Selbst der hochgeschätzte Statistiker Eden, dessen Zuverlässigkeit
von niemand, auch von Wolf nicht, angezweifelt wird, kann sich der Bemer¬
kung nicht enthalten, es sei doch der Erwägung wert, ob eine Manufaktur,
die die Hütten und die Arbeitshäuser plündere, um die von da zusammen¬
geschleppten Kinder Nächte hindurch abzurackern und durch Zusammensperren
von Knaben und Mädchen in den Schlafstuben die Sittlichkeit zu untergraben,
ob eine solche Manufaktur das nationale Glück vermehre. Im Unterhause
wurde ein Fall angeführt, wo nach dem Bankerott eines Fabrikanten seine
Fabrikkinder mit dem übrigen Inventar angezeigt und an den Meistbietenden
verkauft wurden, und unter den Kaufverträgen der Kirchspiele mit Fabrikanten
auch einer, wo sich der Fabrikant der Pfarre gegenüber verpflichtete, auf je
20 vollsinnige Kinder ein schwachsinniges mit in Kauf zu nehmen. Sir Robert
Peel, der die erste Kiuderschutzbill von 1802 durchsetzte, hatte bei einem Be¬
such seiner eignen Fabrik gegen 1000 Kinder darin gefunden, deren Ausseh»
ihn erschreckte. Diese erste Bill bezog sich nur auf die aus den Armenhäusern
d^zognen Kinder. Bald nach ihrem Erlaßt aber machte die Anwendung der


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[0027] Meder Kommunismus noch Kapitalismus War, ihre Kleinen lange vor Sonnenuntergang in die Fabrik zu tragen und lange nach Sonnenaufgang nach Hause zu holen. Ich hörte die Flüche dieser Bäter; sie waren laut und stark." Onstler war von dem frommen Fabri¬ kanten John Wood auf das Kinderelend aufmerksam gemacht worden. Dieser teilte ihm mit, daß er selbst die Kinder dreizehn Stunden arbeiten lasse; weiter könne er nicht heruntergehn, weil seine Konkurrenten vierzehn bis fünf¬ zehn Stunden arbeiten ließen. Er beschwor ihn, eine Bewegung für Kinder¬ schutz in Gang zu bringen, und verpflichtete ihn auf die Bibel, „jenes Buch, worin ich täglich meine Verdammung lese." Wie kommt es, daß man bei den Besprechungen des Werks von Schulze-Gnvernitz in den Zeitungen gerade solche Stellen, wie die eben angeführte, die doch die interessantesten sind, bei¬ seite gelassen hat? Als die „Spindelmühlen" noch mit Wasser getrieben wurden, lagen die Fabriken an den Flußläufen, und es wurden namentlich Armenhauskinder hingeschickt. Es bildete sich, sagt Melden, den Marx zitirt, die Gewohn¬ heit, „Lehrlinge" aus den Kirchspielsarmenhäusern von London, Birmingham und sonstwo zu beziehn. Tausende dieser hilflosen kleinen Kreaturen im Alter von sieben bis dreizehn Jahren wurden so nach dem Norden spedirt. Dort wurden Aufseher bestellt, deren Bezahlung in dem Verhältnis zu der Arbeits- meuge stand, die sie aus diesen Kindern herauszupressen vermochten. Die Kinder wurden gepeitscht, gekettet und gefoltert mit dem ausgesuchtesten Raf¬ finement; die Peitsche hielt sie noch bei der Arbeit, wenn sie schon bis auf die Knochen ausgehungert waren. Die schönen romantischen Thäler von Derby- shire, Nottinghcunshire, Lancashire, abgesperrt sür die Augen der Öffentlichkeit, wurden grausige Folterkammern. Die Gewinne der Fabrikanten wuchsen ins Ungeheure. Selbst der hochgeschätzte Statistiker Eden, dessen Zuverlässigkeit von niemand, auch von Wolf nicht, angezweifelt wird, kann sich der Bemer¬ kung nicht enthalten, es sei doch der Erwägung wert, ob eine Manufaktur, die die Hütten und die Arbeitshäuser plündere, um die von da zusammen¬ geschleppten Kinder Nächte hindurch abzurackern und durch Zusammensperren von Knaben und Mädchen in den Schlafstuben die Sittlichkeit zu untergraben, ob eine solche Manufaktur das nationale Glück vermehre. Im Unterhause wurde ein Fall angeführt, wo nach dem Bankerott eines Fabrikanten seine Fabrikkinder mit dem übrigen Inventar angezeigt und an den Meistbietenden verkauft wurden, und unter den Kaufverträgen der Kirchspiele mit Fabrikanten auch einer, wo sich der Fabrikant der Pfarre gegenüber verpflichtete, auf je 20 vollsinnige Kinder ein schwachsinniges mit in Kauf zu nehmen. Sir Robert Peel, der die erste Kiuderschutzbill von 1802 durchsetzte, hatte bei einem Be¬ such seiner eignen Fabrik gegen 1000 Kinder darin gefunden, deren Ausseh» ihn erschreckte. Diese erste Bill bezog sich nur auf die aus den Armenhäusern d^zognen Kinder. Bald nach ihrem Erlaßt aber machte die Anwendung der Grenzboten I 1893 S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/27>, abgerufen am 12.05.2024.