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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Deutschlands wirtschaftliche Lage

deren Überschreitung die Vermehrung der Bevölkerung nicht zur Erhöhung,
sondern zur Verminderung des Wohlstandes eines Landes sührt. Wo diese
Grenze sür uns liegt, und ob wir sie nicht etwa bereits überschritten haben,
kann niemand sagen.

Wir wollen hier noch bemerken, daß die andern Länder, mit denen wir
auf dem Weltmarkte in Wettbewerb treten, also namentlich Frankreich und
England, weit sicherere Grundlagen für ihren Wohlstand haben als wir.
Frankreich hat die größere Fruchtbarkeit seines Bodens und die günstige Lage
inmitten zweier Meere vor uns voraus. Nach den Erfahrungen der letzten
Jahrzehnte ist es von der Gefahr einer Übervölkerung weniger bedroht. Auch
lebt in manchen Beziehungen das französische Volk weit sparsamer als das
deutsche. England ist vor allem begünstigt durch seine insulare Lage. Es
besitzt reiche Bodenschätze und übt die Herrschaft in vielen und reichen Kolo¬
nien, die es nach Kräften ausbeutet. Daher sein ungeheurer Reichtum, mit
dem sich der Wohlstand Deutschlands nicht messen kann.

Aber leben wir denn, wird mau vielleicht fragen, wirklich so, daß man
von einem großen Wohlstande reden kaun? Um uns davon zu überzeugen,
brauchen Nur nur einen Blick zu werfen auf die große" Summen, die wir
für Dinge ausgeben, die ohne Schaden entbehrt werden könnten. Dahin gehören
in erster Linie die geistigen Getränke, die das deutsche Volk in einem Maße
genießt, wie nur wenige andre Völker. Im Jahre 1890 bis 1891 sind in
Deutschland 52332000 Hektoliter Bier getrunken worden. Rechnen wir, daß das
Liter mit 25Pf. bezahlt worden ist, so ergiebt das eine Summe von 1308 Millionen
Mark. Ferner sind als Branntwein 2156000 Hektoliter Alkohol verbraucht worden.
Rechnen wir, daß der Trinkbranntwein zu einem Drittel aus Alkohol besteht,
und daß das Liter davon 80 Pf. kostet, so würde der Brnnntweingennß
unserm Volke etwa 517 Millionen Mark gekostet haben. Man rechnet, daß
im gnuzen für Spirituosen in Deutschland 2^ Milliarden ausgegeben werden.
Das würde mehr als das Fünffache dessen sein, was dem deutschen Reiche
sein ganzes Kriegsheer und seine Marine kosten. Dazu kommen dann noch die
Hunderte von Millionen, die das Tabakrauchen verschlingt. Für Lotterielose
sind im vorletzten Jahre 168 Millionen ausgegeben worden. Wer in die Lotterie
setzt, muß doch wohl Geld dazu übrig haben. Rechnen wir ferner die großen
Ausgaben, die sich an die heute bestehenden unzähligen Vereine knüpfen.
Wer gehört heute nicht einem oder mehreren Vereinen an? Und sind diese
Vereine alle notwendig? Welche Summen werden ferner ausgegeben für Zei¬
tungen und ähnliche Litteratur! Keine Stadt besteht, in der nicht eine oder
auch mehrere Zeitungen erschiene", die doch ihre Abnehmer finden müssen.
Werfen wir einen Blick in die Zeitungen, so wimmelt es darin von Ver-
gnügungsanzeigen. Auch diese würden nicht in den Zeitungen stehn, wenn
sich nicht die Leute dazu fänden. Überall finden wir die Anzeige von Festen.


Deutschlands wirtschaftliche Lage

deren Überschreitung die Vermehrung der Bevölkerung nicht zur Erhöhung,
sondern zur Verminderung des Wohlstandes eines Landes sührt. Wo diese
Grenze sür uns liegt, und ob wir sie nicht etwa bereits überschritten haben,
kann niemand sagen.

Wir wollen hier noch bemerken, daß die andern Länder, mit denen wir
auf dem Weltmarkte in Wettbewerb treten, also namentlich Frankreich und
England, weit sicherere Grundlagen für ihren Wohlstand haben als wir.
Frankreich hat die größere Fruchtbarkeit seines Bodens und die günstige Lage
inmitten zweier Meere vor uns voraus. Nach den Erfahrungen der letzten
Jahrzehnte ist es von der Gefahr einer Übervölkerung weniger bedroht. Auch
lebt in manchen Beziehungen das französische Volk weit sparsamer als das
deutsche. England ist vor allem begünstigt durch seine insulare Lage. Es
besitzt reiche Bodenschätze und übt die Herrschaft in vielen und reichen Kolo¬
nien, die es nach Kräften ausbeutet. Daher sein ungeheurer Reichtum, mit
dem sich der Wohlstand Deutschlands nicht messen kann.

Aber leben wir denn, wird mau vielleicht fragen, wirklich so, daß man
von einem großen Wohlstande reden kaun? Um uns davon zu überzeugen,
brauchen Nur nur einen Blick zu werfen auf die große» Summen, die wir
für Dinge ausgeben, die ohne Schaden entbehrt werden könnten. Dahin gehören
in erster Linie die geistigen Getränke, die das deutsche Volk in einem Maße
genießt, wie nur wenige andre Völker. Im Jahre 1890 bis 1891 sind in
Deutschland 52332000 Hektoliter Bier getrunken worden. Rechnen wir, daß das
Liter mit 25Pf. bezahlt worden ist, so ergiebt das eine Summe von 1308 Millionen
Mark. Ferner sind als Branntwein 2156000 Hektoliter Alkohol verbraucht worden.
Rechnen wir, daß der Trinkbranntwein zu einem Drittel aus Alkohol besteht,
und daß das Liter davon 80 Pf. kostet, so würde der Brnnntweingennß
unserm Volke etwa 517 Millionen Mark gekostet haben. Man rechnet, daß
im gnuzen für Spirituosen in Deutschland 2^ Milliarden ausgegeben werden.
Das würde mehr als das Fünffache dessen sein, was dem deutschen Reiche
sein ganzes Kriegsheer und seine Marine kosten. Dazu kommen dann noch die
Hunderte von Millionen, die das Tabakrauchen verschlingt. Für Lotterielose
sind im vorletzten Jahre 168 Millionen ausgegeben worden. Wer in die Lotterie
setzt, muß doch wohl Geld dazu übrig haben. Rechnen wir ferner die großen
Ausgaben, die sich an die heute bestehenden unzähligen Vereine knüpfen.
Wer gehört heute nicht einem oder mehreren Vereinen an? Und sind diese
Vereine alle notwendig? Welche Summen werden ferner ausgegeben für Zei¬
tungen und ähnliche Litteratur! Keine Stadt besteht, in der nicht eine oder
auch mehrere Zeitungen erschiene», die doch ihre Abnehmer finden müssen.
Werfen wir einen Blick in die Zeitungen, so wimmelt es darin von Ver-
gnügungsanzeigen. Auch diese würden nicht in den Zeitungen stehn, wenn
sich nicht die Leute dazu fänden. Überall finden wir die Anzeige von Festen.


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[0278] Deutschlands wirtschaftliche Lage deren Überschreitung die Vermehrung der Bevölkerung nicht zur Erhöhung, sondern zur Verminderung des Wohlstandes eines Landes sührt. Wo diese Grenze sür uns liegt, und ob wir sie nicht etwa bereits überschritten haben, kann niemand sagen. Wir wollen hier noch bemerken, daß die andern Länder, mit denen wir auf dem Weltmarkte in Wettbewerb treten, also namentlich Frankreich und England, weit sicherere Grundlagen für ihren Wohlstand haben als wir. Frankreich hat die größere Fruchtbarkeit seines Bodens und die günstige Lage inmitten zweier Meere vor uns voraus. Nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ist es von der Gefahr einer Übervölkerung weniger bedroht. Auch lebt in manchen Beziehungen das französische Volk weit sparsamer als das deutsche. England ist vor allem begünstigt durch seine insulare Lage. Es besitzt reiche Bodenschätze und übt die Herrschaft in vielen und reichen Kolo¬ nien, die es nach Kräften ausbeutet. Daher sein ungeheurer Reichtum, mit dem sich der Wohlstand Deutschlands nicht messen kann. Aber leben wir denn, wird mau vielleicht fragen, wirklich so, daß man von einem großen Wohlstande reden kaun? Um uns davon zu überzeugen, brauchen Nur nur einen Blick zu werfen auf die große» Summen, die wir für Dinge ausgeben, die ohne Schaden entbehrt werden könnten. Dahin gehören in erster Linie die geistigen Getränke, die das deutsche Volk in einem Maße genießt, wie nur wenige andre Völker. Im Jahre 1890 bis 1891 sind in Deutschland 52332000 Hektoliter Bier getrunken worden. Rechnen wir, daß das Liter mit 25Pf. bezahlt worden ist, so ergiebt das eine Summe von 1308 Millionen Mark. Ferner sind als Branntwein 2156000 Hektoliter Alkohol verbraucht worden. Rechnen wir, daß der Trinkbranntwein zu einem Drittel aus Alkohol besteht, und daß das Liter davon 80 Pf. kostet, so würde der Brnnntweingennß unserm Volke etwa 517 Millionen Mark gekostet haben. Man rechnet, daß im gnuzen für Spirituosen in Deutschland 2^ Milliarden ausgegeben werden. Das würde mehr als das Fünffache dessen sein, was dem deutschen Reiche sein ganzes Kriegsheer und seine Marine kosten. Dazu kommen dann noch die Hunderte von Millionen, die das Tabakrauchen verschlingt. Für Lotterielose sind im vorletzten Jahre 168 Millionen ausgegeben worden. Wer in die Lotterie setzt, muß doch wohl Geld dazu übrig haben. Rechnen wir ferner die großen Ausgaben, die sich an die heute bestehenden unzähligen Vereine knüpfen. Wer gehört heute nicht einem oder mehreren Vereinen an? Und sind diese Vereine alle notwendig? Welche Summen werden ferner ausgegeben für Zei¬ tungen und ähnliche Litteratur! Keine Stadt besteht, in der nicht eine oder auch mehrere Zeitungen erschiene», die doch ihre Abnehmer finden müssen. Werfen wir einen Blick in die Zeitungen, so wimmelt es darin von Ver- gnügungsanzeigen. Auch diese würden nicht in den Zeitungen stehn, wenn sich nicht die Leute dazu fänden. Überall finden wir die Anzeige von Festen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/278>, abgerufen am 16.06.2024.