Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

des Streichorchesters, mit dem die einfache Begleitung des Händelschen Werkes
einsetzte, ist mir unvergeßlich; und dieser Wirkung entsprach der Gesamteindruck.
Als der Vorhang fiel, meinte ein neben mir sitzender Freund, so kraftvolle
Musik sei doch nach Händel nicht mehr geschrieben worden. Unmittelbar dar¬
auf hob Mozarts Ouvertüre an. Der Vergleich war unvermeidlich; und
wir begegneten uns in der Wahrnehmung, daß diese Musik das Element der
Kraft eben so wenig vermissen wie es als etwas gesondertes hervortreten lasse.
Ohne Kraft keine Schönheit; aber in der Harmonie der höchsten Schönheit
verschwinden ihre Bestandteile. Der Held war von dem Kinde überwunden.

Auch zwischen Glucks heroischer Oper und Figaros Hochzeit liegt ein
deutlicher Abschnitt. Wenige Jahre vor dein Entstehen des Werkes hatte
Mozart während seines Aufenthalts in Paris in dein die musikalischen Kreise
bewegenden Streit zwischen Gluck und Pieeini mit Entschiedenheit für Gluck
Partei ergriffen. Uns Heutigen, die wir die Entwicklung der Musik bis zu
Richard Wagners Tod überblicken, muß jene Stellungnahme Mozarts, theo¬
retisch betrachtet, inkonsequent erscheine". Wenn, wie es Vonseiten Glücks ge¬
schehen war, die Frage so gestellt wurde, ob in der Oper dem Text oder der
Musik die herrschende Rolle gebühre, so Hütte unstreitig Mozart mit Pieeini
gegen Gluck deu Vorrang der Musik verfechten müssen, sofern nämlich unsre
jetzige Erkenntnis von der Stellung, die er selbst in der Geschichte der Ton¬
kunst einnimmt, maßgebend für ihn gewesen wäre. Besteht doch für unser
Urteil zwischen dem Text und der Musik aller Mozartschen Opern ein Mi߬
verhältnis zu Ungunsten des Textes, über dessen Größe die, die es für
einen glücklichen, und die, die es für einen unglücklichen Umstand halten, an¬
nähernd einverstanden sind. Dennoch entstammte Mozarts Parteinahme für
Gluck demselben sichern Instinkt, der all sein künstlerisches Thun wie das keines
Musikers vor und nach ihm beherrschte. Was ihn zu solcher Parteinahme
veranlaßte, war keine Theorie, sondern ein deutliches Gefühl davon, in welcher
Richtung die damalige Tonkunst eine Weiterbildung verlangte oder vielmehr
allein noch vertrug. Wir haben bereits gesehn, daß es nicht die Seite der
Form war. Der Inhalt, der Empfindungsgehalt des musikalischen Schönheits¬
begriffs jener Zeit bedürfte der Erweiterung, der Vertiefung. Das Streben
nach solcher war el" Drang nach größerer Wahrheit. Er beseelte Gluck, ihn
empfand auch Mozart. Hatte er in Glucks philosophischem Geiste das Feuer
des Reformators entzündet, so brannte er in Mozarts Künstlerseele gleich der
nie erlöschenden Opferflamme im Innersten eines Tempels. Wie diese nicht
jedem sichtbar ist, so ist auch der hier berührte Zug in Mozarts Wesen in
das von ihm umlaufende Charakterbild nicht übergegangen. Um ihn aber
wahrzunehmen, brauchen wir uns nur an einen bekannten Vorfall zu erinnern,
der uns den musikalischen Ernst des Künstlers in seiner Wirkung auf eine
entgegengesetzte Geschmacksrichtung zeigt. Als Mozarts Titus zum erstenmal


des Streichorchesters, mit dem die einfache Begleitung des Händelschen Werkes
einsetzte, ist mir unvergeßlich; und dieser Wirkung entsprach der Gesamteindruck.
Als der Vorhang fiel, meinte ein neben mir sitzender Freund, so kraftvolle
Musik sei doch nach Händel nicht mehr geschrieben worden. Unmittelbar dar¬
auf hob Mozarts Ouvertüre an. Der Vergleich war unvermeidlich; und
wir begegneten uns in der Wahrnehmung, daß diese Musik das Element der
Kraft eben so wenig vermissen wie es als etwas gesondertes hervortreten lasse.
Ohne Kraft keine Schönheit; aber in der Harmonie der höchsten Schönheit
verschwinden ihre Bestandteile. Der Held war von dem Kinde überwunden.

Auch zwischen Glucks heroischer Oper und Figaros Hochzeit liegt ein
deutlicher Abschnitt. Wenige Jahre vor dein Entstehen des Werkes hatte
Mozart während seines Aufenthalts in Paris in dein die musikalischen Kreise
bewegenden Streit zwischen Gluck und Pieeini mit Entschiedenheit für Gluck
Partei ergriffen. Uns Heutigen, die wir die Entwicklung der Musik bis zu
Richard Wagners Tod überblicken, muß jene Stellungnahme Mozarts, theo¬
retisch betrachtet, inkonsequent erscheine». Wenn, wie es Vonseiten Glücks ge¬
schehen war, die Frage so gestellt wurde, ob in der Oper dem Text oder der
Musik die herrschende Rolle gebühre, so Hütte unstreitig Mozart mit Pieeini
gegen Gluck deu Vorrang der Musik verfechten müssen, sofern nämlich unsre
jetzige Erkenntnis von der Stellung, die er selbst in der Geschichte der Ton¬
kunst einnimmt, maßgebend für ihn gewesen wäre. Besteht doch für unser
Urteil zwischen dem Text und der Musik aller Mozartschen Opern ein Mi߬
verhältnis zu Ungunsten des Textes, über dessen Größe die, die es für
einen glücklichen, und die, die es für einen unglücklichen Umstand halten, an¬
nähernd einverstanden sind. Dennoch entstammte Mozarts Parteinahme für
Gluck demselben sichern Instinkt, der all sein künstlerisches Thun wie das keines
Musikers vor und nach ihm beherrschte. Was ihn zu solcher Parteinahme
veranlaßte, war keine Theorie, sondern ein deutliches Gefühl davon, in welcher
Richtung die damalige Tonkunst eine Weiterbildung verlangte oder vielmehr
allein noch vertrug. Wir haben bereits gesehn, daß es nicht die Seite der
Form war. Der Inhalt, der Empfindungsgehalt des musikalischen Schönheits¬
begriffs jener Zeit bedürfte der Erweiterung, der Vertiefung. Das Streben
nach solcher war el» Drang nach größerer Wahrheit. Er beseelte Gluck, ihn
empfand auch Mozart. Hatte er in Glucks philosophischem Geiste das Feuer
des Reformators entzündet, so brannte er in Mozarts Künstlerseele gleich der
nie erlöschenden Opferflamme im Innersten eines Tempels. Wie diese nicht
jedem sichtbar ist, so ist auch der hier berührte Zug in Mozarts Wesen in
das von ihm umlaufende Charakterbild nicht übergegangen. Um ihn aber
wahrzunehmen, brauchen wir uns nur an einen bekannten Vorfall zu erinnern,
der uns den musikalischen Ernst des Künstlers in seiner Wirkung auf eine
entgegengesetzte Geschmacksrichtung zeigt. Als Mozarts Titus zum erstenmal


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0306" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214098"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1058" prev="#ID_1057"> des Streichorchesters, mit dem die einfache Begleitung des Händelschen Werkes<lb/>
einsetzte, ist mir unvergeßlich; und dieser Wirkung entsprach der Gesamteindruck.<lb/>
Als der Vorhang fiel, meinte ein neben mir sitzender Freund, so kraftvolle<lb/>
Musik sei doch nach Händel nicht mehr geschrieben worden. Unmittelbar dar¬<lb/>
auf hob Mozarts Ouvertüre an. Der Vergleich war unvermeidlich; und<lb/>
wir begegneten uns in der Wahrnehmung, daß diese Musik das Element der<lb/>
Kraft eben so wenig vermissen wie es als etwas gesondertes hervortreten lasse.<lb/>
Ohne Kraft keine Schönheit; aber in der Harmonie der höchsten Schönheit<lb/>
verschwinden ihre Bestandteile. Der Held war von dem Kinde überwunden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1059" next="#ID_1060"> Auch zwischen Glucks heroischer Oper und Figaros Hochzeit liegt ein<lb/>
deutlicher Abschnitt. Wenige Jahre vor dein Entstehen des Werkes hatte<lb/>
Mozart während seines Aufenthalts in Paris in dein die musikalischen Kreise<lb/>
bewegenden Streit zwischen Gluck und Pieeini mit Entschiedenheit für Gluck<lb/>
Partei ergriffen. Uns Heutigen, die wir die Entwicklung der Musik bis zu<lb/>
Richard Wagners Tod überblicken, muß jene Stellungnahme Mozarts, theo¬<lb/>
retisch betrachtet, inkonsequent erscheine». Wenn, wie es Vonseiten Glücks ge¬<lb/>
schehen war, die Frage so gestellt wurde, ob in der Oper dem Text oder der<lb/>
Musik die herrschende Rolle gebühre, so Hütte unstreitig Mozart mit Pieeini<lb/>
gegen Gluck deu Vorrang der Musik verfechten müssen, sofern nämlich unsre<lb/>
jetzige Erkenntnis von der Stellung, die er selbst in der Geschichte der Ton¬<lb/>
kunst einnimmt, maßgebend für ihn gewesen wäre. Besteht doch für unser<lb/>
Urteil zwischen dem Text und der Musik aller Mozartschen Opern ein Mi߬<lb/>
verhältnis zu Ungunsten des Textes, über dessen Größe die, die es für<lb/>
einen glücklichen, und die, die es für einen unglücklichen Umstand halten, an¬<lb/>
nähernd einverstanden sind. Dennoch entstammte Mozarts Parteinahme für<lb/>
Gluck demselben sichern Instinkt, der all sein künstlerisches Thun wie das keines<lb/>
Musikers vor und nach ihm beherrschte. Was ihn zu solcher Parteinahme<lb/>
veranlaßte, war keine Theorie, sondern ein deutliches Gefühl davon, in welcher<lb/>
Richtung die damalige Tonkunst eine Weiterbildung verlangte oder vielmehr<lb/>
allein noch vertrug. Wir haben bereits gesehn, daß es nicht die Seite der<lb/>
Form war. Der Inhalt, der Empfindungsgehalt des musikalischen Schönheits¬<lb/>
begriffs jener Zeit bedürfte der Erweiterung, der Vertiefung. Das Streben<lb/>
nach solcher war el» Drang nach größerer Wahrheit. Er beseelte Gluck, ihn<lb/>
empfand auch Mozart. Hatte er in Glucks philosophischem Geiste das Feuer<lb/>
des Reformators entzündet, so brannte er in Mozarts Künstlerseele gleich der<lb/>
nie erlöschenden Opferflamme im Innersten eines Tempels. Wie diese nicht<lb/>
jedem sichtbar ist, so ist auch der hier berührte Zug in Mozarts Wesen in<lb/>
das von ihm umlaufende Charakterbild nicht übergegangen. Um ihn aber<lb/>
wahrzunehmen, brauchen wir uns nur an einen bekannten Vorfall zu erinnern,<lb/>
der uns den musikalischen Ernst des Künstlers in seiner Wirkung auf eine<lb/>
entgegengesetzte Geschmacksrichtung zeigt.  Als Mozarts Titus zum erstenmal</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0306] des Streichorchesters, mit dem die einfache Begleitung des Händelschen Werkes einsetzte, ist mir unvergeßlich; und dieser Wirkung entsprach der Gesamteindruck. Als der Vorhang fiel, meinte ein neben mir sitzender Freund, so kraftvolle Musik sei doch nach Händel nicht mehr geschrieben worden. Unmittelbar dar¬ auf hob Mozarts Ouvertüre an. Der Vergleich war unvermeidlich; und wir begegneten uns in der Wahrnehmung, daß diese Musik das Element der Kraft eben so wenig vermissen wie es als etwas gesondertes hervortreten lasse. Ohne Kraft keine Schönheit; aber in der Harmonie der höchsten Schönheit verschwinden ihre Bestandteile. Der Held war von dem Kinde überwunden. Auch zwischen Glucks heroischer Oper und Figaros Hochzeit liegt ein deutlicher Abschnitt. Wenige Jahre vor dein Entstehen des Werkes hatte Mozart während seines Aufenthalts in Paris in dein die musikalischen Kreise bewegenden Streit zwischen Gluck und Pieeini mit Entschiedenheit für Gluck Partei ergriffen. Uns Heutigen, die wir die Entwicklung der Musik bis zu Richard Wagners Tod überblicken, muß jene Stellungnahme Mozarts, theo¬ retisch betrachtet, inkonsequent erscheine». Wenn, wie es Vonseiten Glücks ge¬ schehen war, die Frage so gestellt wurde, ob in der Oper dem Text oder der Musik die herrschende Rolle gebühre, so Hütte unstreitig Mozart mit Pieeini gegen Gluck deu Vorrang der Musik verfechten müssen, sofern nämlich unsre jetzige Erkenntnis von der Stellung, die er selbst in der Geschichte der Ton¬ kunst einnimmt, maßgebend für ihn gewesen wäre. Besteht doch für unser Urteil zwischen dem Text und der Musik aller Mozartschen Opern ein Mi߬ verhältnis zu Ungunsten des Textes, über dessen Größe die, die es für einen glücklichen, und die, die es für einen unglücklichen Umstand halten, an¬ nähernd einverstanden sind. Dennoch entstammte Mozarts Parteinahme für Gluck demselben sichern Instinkt, der all sein künstlerisches Thun wie das keines Musikers vor und nach ihm beherrschte. Was ihn zu solcher Parteinahme veranlaßte, war keine Theorie, sondern ein deutliches Gefühl davon, in welcher Richtung die damalige Tonkunst eine Weiterbildung verlangte oder vielmehr allein noch vertrug. Wir haben bereits gesehn, daß es nicht die Seite der Form war. Der Inhalt, der Empfindungsgehalt des musikalischen Schönheits¬ begriffs jener Zeit bedürfte der Erweiterung, der Vertiefung. Das Streben nach solcher war el» Drang nach größerer Wahrheit. Er beseelte Gluck, ihn empfand auch Mozart. Hatte er in Glucks philosophischem Geiste das Feuer des Reformators entzündet, so brannte er in Mozarts Künstlerseele gleich der nie erlöschenden Opferflamme im Innersten eines Tempels. Wie diese nicht jedem sichtbar ist, so ist auch der hier berührte Zug in Mozarts Wesen in das von ihm umlaufende Charakterbild nicht übergegangen. Um ihn aber wahrzunehmen, brauchen wir uns nur an einen bekannten Vorfall zu erinnern, der uns den musikalischen Ernst des Künstlers in seiner Wirkung auf eine entgegengesetzte Geschmacksrichtung zeigt. Als Mozarts Titus zum erstenmal

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/306
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/306>, abgerufen am 06.06.2024.