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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Mozarts Bild reich hundert fahren

in der Mailänder Oper aufgeführt wurde, lief nach dem großen Schlußchor
des ersten Akts durch die Reihen der enttäuschten Italiener das unwillige
Gemurmel: Das ist nicht mehr Musik, das ist Philosophie.

Wir haben uns unter Piceini sicherlich nicht den oberflächlichen Vertreter
des musikalischen Schüferspiels vorzustellen. Sein theoretischer Standpunkt
war, wie schon angedeutet, vermutlich "musikalischer" als der seines Gegners.
Bewußt oder unbewußt bekämpfte er in Gluck das störende Eindringen des
ernsten und groß umrissenen Schönheitsideals in die zierliche und lustige
Formenwelt des Romanen, dessen bescheidner zugeschnittne Seele gern mit
den Brocken des Kunstgenusses vorlieb nimmt, die von dem Tische der schmau¬
senden Sinne fallen. Der nachmalige Schöpfer der Zauberflöte konnte nicht
auf diese Seite treten.

Erst nachdem wir uns so überzeugt haben, daß sich Glucks und Mozarts
Schaffen in der gleichen Richtung bewegt, wird es möglich, in der Ver¬
schiedenheit der Opern des jünger" und des ältern Meisters einen Fort¬
schritt der Musik zu erkennen. Die Klage des Orpheus um Eurydice ist
gewiß nicht weniger seelenvoll als die der Gräfin Almaviva um die Ver¬
lorne Liebe ihres Gatten. Aber wo finden wir bei Gluck das Vorbild Che-
rubins? Selbst die heitre Kunst der Hellenen ist nicht auf diese unwider¬
stehlich reizvolle Gestalt verfallen; denn dem Bilde des Ganhmed fehlt jede
Spur ihrer Schalkheit, ihres tollen Übermuts, ihrer grenzenlosen Verliebtheit.
Oder in welchem Tonwerk Hütte es Gluck verstanden, die Wirkung seiner Ideal-
gestalten durch den Gegensatz des Komischen zugleich zu mildern und zu
steigern, wie es Mozart thut, wenn er im Figaro den eigentlichen Trägern
der Handlung das unvergleichliche Dreiblatt Bartolo, Basilio und Mcirzelliue
gegenüberstellt? Wir werden uns weiterhin noch mit der Frage beschäftigen,
wo im Gebiete der Charakterzeichnung die Grenzlinie zwischen den Verdienste"
des Textdichters und denen des Komponisten läuft. Hier genügt es, uus
zu erinnern, daß die Musik jeder einzelnen Rolle in Mozarts Oper ihren be¬
sondern festgehaltenen Grundzug ausweist, der es auch dann erlaubt, vou musi¬
kalischen Charakteren zu sprechen, wenn sie den Gestalten des Textbuchs ihr
Dasei" verdanken. In der Bildung solcher Charaktere also hat Mozart nicht
nur die größere Vielseitigkeit, sondern namentlich auch die größere Lebendigkeit
und Lebenswahrheit vor Gluck voraus.

Auf dem Wege von Gluck zu Mozart entledigt sich die Musik des antiken
Kothurns. Sie fühlt ihre Schwingen stark genug, um nicht mehr auf künst¬
lichem Untersatz einherschreiten zu müssen. Sie steigt vom Boden empor,
und mit freierem und weiterem Blick denn je bemächtigt sie sich alsbald der
Mannichfaltigkeit des wirklichen Lebens.

(Schluß folgt)


Grenzboten I 1893M
Mozarts Bild reich hundert fahren

in der Mailänder Oper aufgeführt wurde, lief nach dem großen Schlußchor
des ersten Akts durch die Reihen der enttäuschten Italiener das unwillige
Gemurmel: Das ist nicht mehr Musik, das ist Philosophie.

Wir haben uns unter Piceini sicherlich nicht den oberflächlichen Vertreter
des musikalischen Schüferspiels vorzustellen. Sein theoretischer Standpunkt
war, wie schon angedeutet, vermutlich „musikalischer" als der seines Gegners.
Bewußt oder unbewußt bekämpfte er in Gluck das störende Eindringen des
ernsten und groß umrissenen Schönheitsideals in die zierliche und lustige
Formenwelt des Romanen, dessen bescheidner zugeschnittne Seele gern mit
den Brocken des Kunstgenusses vorlieb nimmt, die von dem Tische der schmau¬
senden Sinne fallen. Der nachmalige Schöpfer der Zauberflöte konnte nicht
auf diese Seite treten.

Erst nachdem wir uns so überzeugt haben, daß sich Glucks und Mozarts
Schaffen in der gleichen Richtung bewegt, wird es möglich, in der Ver¬
schiedenheit der Opern des jünger» und des ältern Meisters einen Fort¬
schritt der Musik zu erkennen. Die Klage des Orpheus um Eurydice ist
gewiß nicht weniger seelenvoll als die der Gräfin Almaviva um die Ver¬
lorne Liebe ihres Gatten. Aber wo finden wir bei Gluck das Vorbild Che-
rubins? Selbst die heitre Kunst der Hellenen ist nicht auf diese unwider¬
stehlich reizvolle Gestalt verfallen; denn dem Bilde des Ganhmed fehlt jede
Spur ihrer Schalkheit, ihres tollen Übermuts, ihrer grenzenlosen Verliebtheit.
Oder in welchem Tonwerk Hütte es Gluck verstanden, die Wirkung seiner Ideal-
gestalten durch den Gegensatz des Komischen zugleich zu mildern und zu
steigern, wie es Mozart thut, wenn er im Figaro den eigentlichen Trägern
der Handlung das unvergleichliche Dreiblatt Bartolo, Basilio und Mcirzelliue
gegenüberstellt? Wir werden uns weiterhin noch mit der Frage beschäftigen,
wo im Gebiete der Charakterzeichnung die Grenzlinie zwischen den Verdienste»
des Textdichters und denen des Komponisten läuft. Hier genügt es, uus
zu erinnern, daß die Musik jeder einzelnen Rolle in Mozarts Oper ihren be¬
sondern festgehaltenen Grundzug ausweist, der es auch dann erlaubt, vou musi¬
kalischen Charakteren zu sprechen, wenn sie den Gestalten des Textbuchs ihr
Dasei» verdanken. In der Bildung solcher Charaktere also hat Mozart nicht
nur die größere Vielseitigkeit, sondern namentlich auch die größere Lebendigkeit
und Lebenswahrheit vor Gluck voraus.

Auf dem Wege von Gluck zu Mozart entledigt sich die Musik des antiken
Kothurns. Sie fühlt ihre Schwingen stark genug, um nicht mehr auf künst¬
lichem Untersatz einherschreiten zu müssen. Sie steigt vom Boden empor,
und mit freierem und weiterem Blick denn je bemächtigt sie sich alsbald der
Mannichfaltigkeit des wirklichen Lebens.

(Schluß folgt)


Grenzboten I 1893M
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[0307] Mozarts Bild reich hundert fahren in der Mailänder Oper aufgeführt wurde, lief nach dem großen Schlußchor des ersten Akts durch die Reihen der enttäuschten Italiener das unwillige Gemurmel: Das ist nicht mehr Musik, das ist Philosophie. Wir haben uns unter Piceini sicherlich nicht den oberflächlichen Vertreter des musikalischen Schüferspiels vorzustellen. Sein theoretischer Standpunkt war, wie schon angedeutet, vermutlich „musikalischer" als der seines Gegners. Bewußt oder unbewußt bekämpfte er in Gluck das störende Eindringen des ernsten und groß umrissenen Schönheitsideals in die zierliche und lustige Formenwelt des Romanen, dessen bescheidner zugeschnittne Seele gern mit den Brocken des Kunstgenusses vorlieb nimmt, die von dem Tische der schmau¬ senden Sinne fallen. Der nachmalige Schöpfer der Zauberflöte konnte nicht auf diese Seite treten. Erst nachdem wir uns so überzeugt haben, daß sich Glucks und Mozarts Schaffen in der gleichen Richtung bewegt, wird es möglich, in der Ver¬ schiedenheit der Opern des jünger» und des ältern Meisters einen Fort¬ schritt der Musik zu erkennen. Die Klage des Orpheus um Eurydice ist gewiß nicht weniger seelenvoll als die der Gräfin Almaviva um die Ver¬ lorne Liebe ihres Gatten. Aber wo finden wir bei Gluck das Vorbild Che- rubins? Selbst die heitre Kunst der Hellenen ist nicht auf diese unwider¬ stehlich reizvolle Gestalt verfallen; denn dem Bilde des Ganhmed fehlt jede Spur ihrer Schalkheit, ihres tollen Übermuts, ihrer grenzenlosen Verliebtheit. Oder in welchem Tonwerk Hütte es Gluck verstanden, die Wirkung seiner Ideal- gestalten durch den Gegensatz des Komischen zugleich zu mildern und zu steigern, wie es Mozart thut, wenn er im Figaro den eigentlichen Trägern der Handlung das unvergleichliche Dreiblatt Bartolo, Basilio und Mcirzelliue gegenüberstellt? Wir werden uns weiterhin noch mit der Frage beschäftigen, wo im Gebiete der Charakterzeichnung die Grenzlinie zwischen den Verdienste» des Textdichters und denen des Komponisten läuft. Hier genügt es, uus zu erinnern, daß die Musik jeder einzelnen Rolle in Mozarts Oper ihren be¬ sondern festgehaltenen Grundzug ausweist, der es auch dann erlaubt, vou musi¬ kalischen Charakteren zu sprechen, wenn sie den Gestalten des Textbuchs ihr Dasei» verdanken. In der Bildung solcher Charaktere also hat Mozart nicht nur die größere Vielseitigkeit, sondern namentlich auch die größere Lebendigkeit und Lebenswahrheit vor Gluck voraus. Auf dem Wege von Gluck zu Mozart entledigt sich die Musik des antiken Kothurns. Sie fühlt ihre Schwingen stark genug, um nicht mehr auf künst¬ lichem Untersatz einherschreiten zu müssen. Sie steigt vom Boden empor, und mit freierem und weiterem Blick denn je bemächtigt sie sich alsbald der Mannichfaltigkeit des wirklichen Lebens. (Schluß folgt) Grenzboten I 1893M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/307>, abgerufen am 12.05.2024.