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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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das kontinentale Beamtentum mit seinen stets wachsenden Ämtern und Stellen
fand dort keine Heimat, und ungeachtet der infolge der Reformation geschaffnen
Ausnahmegerichte, des Jnquisitiousgerichts und der Sterukcimmer, bewahrte
sich doch England im ganzen und großen die germanische Unabhängigkeit der
Rechtspflege von der Staatsgewalt." Der edle Toynbce, den die Grenzboten¬
leser durch Schutze-Gävernitz kennen gelernt haben, sah die Sache von einer
andern Seite an und meinte, die Demokratie habe England gerettet. Also:
die Besserung ist Thatsache; aus dem Pauperismus hat sich etwa ein Siebentel
der englischen Arbeiterschaft zu einem menschenwürdigen Dasein emporgearbeitet,
und diese Arbeiteraristokratie kann der Mittelklasse beigezählt werden. Gleich¬
zeitig ist auch das englische Unternehmertum nützlicher, produktiver geworden,
indem es sich nicht mehr so ausschließlich auf Baumwolleulumpen, sondern
mehr auf Maschinen, Eisenbahnbauten, Elektrizitätswerke, Ausbeutung von
Bergwerken u. dergl. verlegt.

Leider trägt die Besserung keine Bürgschaft der Dauer in sich. Das
Einkommen der Fabrikarbeiter hängt von der Zahlungsfähigkeit der Industrie
ab. Die englische Industrie ist Exportindustrie, und die Exportindustrie liegt
hoffnungslos darnieder; ihre Zeit ist vorbei, ein für allemal. Verloren ist
jedes Volk, das nicht von seinem eignen Grund und Boden zu leben vermag.
Vorbei ist die Zeit der Naubwirtschaft, da sich niemand mehr findet, der sich
berauben ließe. Nordamerikas große Republik ist aus der Abnehmern! die
furchtbarste Konkurrentin Englands geworden. Englische Fabrikanten sind
nach Indien übergesiedelt, in das Land der billigsten "Hände," und schon ist
in Manchester indisches Garn billiger verkauft worden als das von Lan-
cashire. Der Bericht, der auf dem Jahreskongreß der vereinigten Handels¬
kammern am 20. September erstattet wurde, lautete trostlos, und der amt¬
liche Handelsausweis für Oktober lautet noch trostloser. Ju den ersten zehn Mo¬
naten des abgelaufnen Jahres ist die Einfuhr um 30, die Ausfuhr um 390
Millionen Mark hinter dem vorigen Jahre zurückgeblieben. Eben da wir
dieses schreiben, kommt uns ein Auszug aus einem Artikel der I'imW zu Ge¬
sicht, worin die Gründung einer Arbeiterbvrsc angekündigt wird. Diese soll
zwischen dem Unternehmer und dem einzelnen Arbeiter vermitteln und die
"Freiheit des Kontraktes" wieder herstellen. Wohl gemerkt! Nur der Arbeiter
soll vereinzelt werden; die Unternehmer bleiben in Verbunden vereinigt, die
da festsetzen, wie viel höchstens an Arbeitslohn gezahlt werden darf. So ge¬
denken sie sich "von dem unerträglichen Druck zu befreien, den die Gewerk¬
vereine auf die Unternehmer ausüben." Die Börse wird ihren Hauptsitz in
London und Bureaus in den Provinzen haben; ihre Aufgabe wird sein, "den
Bedarf und das Angebot von Arbeitskräften festzustellen, Arbeiter suchende
Fabrikanten mit dem nötigen Material zu versehen und Arbeitsuchende, ohne
Rücksicht darauf, ob sie Mitglieder der Gewerkvereine sind oder nicht, Beschäf-


>veter Kommunismus uoch Kapitalismus

das kontinentale Beamtentum mit seinen stets wachsenden Ämtern und Stellen
fand dort keine Heimat, und ungeachtet der infolge der Reformation geschaffnen
Ausnahmegerichte, des Jnquisitiousgerichts und der Sterukcimmer, bewahrte
sich doch England im ganzen und großen die germanische Unabhängigkeit der
Rechtspflege von der Staatsgewalt." Der edle Toynbce, den die Grenzboten¬
leser durch Schutze-Gävernitz kennen gelernt haben, sah die Sache von einer
andern Seite an und meinte, die Demokratie habe England gerettet. Also:
die Besserung ist Thatsache; aus dem Pauperismus hat sich etwa ein Siebentel
der englischen Arbeiterschaft zu einem menschenwürdigen Dasein emporgearbeitet,
und diese Arbeiteraristokratie kann der Mittelklasse beigezählt werden. Gleich¬
zeitig ist auch das englische Unternehmertum nützlicher, produktiver geworden,
indem es sich nicht mehr so ausschließlich auf Baumwolleulumpen, sondern
mehr auf Maschinen, Eisenbahnbauten, Elektrizitätswerke, Ausbeutung von
Bergwerken u. dergl. verlegt.

Leider trägt die Besserung keine Bürgschaft der Dauer in sich. Das
Einkommen der Fabrikarbeiter hängt von der Zahlungsfähigkeit der Industrie
ab. Die englische Industrie ist Exportindustrie, und die Exportindustrie liegt
hoffnungslos darnieder; ihre Zeit ist vorbei, ein für allemal. Verloren ist
jedes Volk, das nicht von seinem eignen Grund und Boden zu leben vermag.
Vorbei ist die Zeit der Naubwirtschaft, da sich niemand mehr findet, der sich
berauben ließe. Nordamerikas große Republik ist aus der Abnehmern! die
furchtbarste Konkurrentin Englands geworden. Englische Fabrikanten sind
nach Indien übergesiedelt, in das Land der billigsten „Hände," und schon ist
in Manchester indisches Garn billiger verkauft worden als das von Lan-
cashire. Der Bericht, der auf dem Jahreskongreß der vereinigten Handels¬
kammern am 20. September erstattet wurde, lautete trostlos, und der amt¬
liche Handelsausweis für Oktober lautet noch trostloser. Ju den ersten zehn Mo¬
naten des abgelaufnen Jahres ist die Einfuhr um 30, die Ausfuhr um 390
Millionen Mark hinter dem vorigen Jahre zurückgeblieben. Eben da wir
dieses schreiben, kommt uns ein Auszug aus einem Artikel der I'imW zu Ge¬
sicht, worin die Gründung einer Arbeiterbvrsc angekündigt wird. Diese soll
zwischen dem Unternehmer und dem einzelnen Arbeiter vermitteln und die
„Freiheit des Kontraktes" wieder herstellen. Wohl gemerkt! Nur der Arbeiter
soll vereinzelt werden; die Unternehmer bleiben in Verbunden vereinigt, die
da festsetzen, wie viel höchstens an Arbeitslohn gezahlt werden darf. So ge¬
denken sie sich „von dem unerträglichen Druck zu befreien, den die Gewerk¬
vereine auf die Unternehmer ausüben." Die Börse wird ihren Hauptsitz in
London und Bureaus in den Provinzen haben; ihre Aufgabe wird sein, „den
Bedarf und das Angebot von Arbeitskräften festzustellen, Arbeiter suchende
Fabrikanten mit dem nötigen Material zu versehen und Arbeitsuchende, ohne
Rücksicht darauf, ob sie Mitglieder der Gewerkvereine sind oder nicht, Beschäf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/31>, abgerufen am 13.05.2024.