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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Die Reichstagsverhandlungen über den Zukunftsstaat

weite Kreise in dem Wahne noch werden bestärkt werden, daß man die Sozial¬
demokratie mit sogenannten "geistigen Waffen" überwinden könne, und daß die
Aufmerksamkeit und die Energie der Gegner der Sozialdemokratie von jenem
Kampfe werde abgelenkt werden, der doch in letzter Linie der entscheidende ist:
von dem Kampfe gegen die Übelstände, denen die Sozialdemokratie ihre Ent¬
stehung und ihr Wachstum verdankt.

Die Sozialdemokratie hat aber noch eine Machtquelle, die mit ihrem Zu¬
kunftsprogramm nicht verwechselt werden darf, und die nicht versiegen wird,
wenn man auch ihr ganzes Pragramm für jeden gewöhnlichen Arbeiter kennt¬
lich ihr in Fetzen vor die Füße geworfen Hütte, und wir finden es in hohem
Grade betrübend, betrübend im Interesse der Versöhnung und des sozialen
Friedens, daß von keiner Seite auf diese Machtquelle hingewiesen worden ist.
Man mag das Zukunftsbild, wie es den führenden Männern der Sozial-
demokratie in unklaren Umrissen vorschwebt, utopistisch, widersinnig, wider¬
natürlich, dem Sittengesetze zuwiderlaufend oder warum immer sonst ver¬
werflich finden, im innersten Keime enthält es doch eine Wahrheit, bedeutet
es doch geradezu ein Ideal. Diese Wahrheit ist die, daß wir Meuschen in
allmählich fortschreitender Entwicklung zu immer höhern und bessern Formen
des Daseins gelangen, daß immer größere Teile des Volks an den Gütern
der Kultur, der Gesittung und der freundlichen Gestaltung des Lebens teil¬
haftig werden, und das Ideal ist das, daß diese höhern und bessern Formen
des Lebens auch edlere sein werden, edlere im Verhältnis des Einzelnen zum
Einzelnem, edlere in Bezug auf die Aufopferungsfähigkeit des Einzelnen gegen¬
über der Gesamtheit des Volks und der Menschheit. Die Sozialdemokratie
meint zwar, daß sie dies Ziel erreichen könne dnrch rein wirtschaftliche Ma߬
regeln, durch eine wirtschaftliche Umwälzung, die sich vollziehen soll nicht nur
ohne eine religiös-sittliche Umwcilzuug, sondern sogar im Widerstreite gegen
diese. Sie beweist damit ihre gänzliche Unkenntnis in Bezug auf das, was
sie vor allem zu kennen vorgiebt, in Bezug auf den Gang und die Gesetze
der Weltgeschichte, in der wirtschaftliche Umwälzungen von jeher nur dann
fruchtbar gewesen sind, nur dann etwas andres gebracht haben als Zerstörung,
wenn sie Hand in Hand gegangen sind mit einer religiös-sittlichen Volks-
erueueruug. Aber vermag das etwas an der Thatsache zu ändern, daß sie,
wenn auch uoch auf Irrwegen begriffen, doch einem Ideale zustrebt, dem
Ideale der Erlösung der darbenden Menschheit? Welche Partei strebt diesem
Ideale mit der gleichen Hoffnungsfreudigkeit und der gleichen Begeisterung
zu? und wer wagt sie dafür zu tadeln, daß sie nicht anders ist, wie sie ist,
wenn sie vonseiten der sogenannten Gebildeten, statt auf den richtigen Weg
zur Erreichung dieses Zieles verwiesen zu werden, mit Tadel, Spott und
Hohn überhäuft wird und ihr mit vornehmer Geringschätzung nichts weiter
vorgehalten wird, als daß sie "nichts habe, nichts könne und nichts wisse."


Die Reichstagsverhandlungen über den Zukunftsstaat

weite Kreise in dem Wahne noch werden bestärkt werden, daß man die Sozial¬
demokratie mit sogenannten „geistigen Waffen" überwinden könne, und daß die
Aufmerksamkeit und die Energie der Gegner der Sozialdemokratie von jenem
Kampfe werde abgelenkt werden, der doch in letzter Linie der entscheidende ist:
von dem Kampfe gegen die Übelstände, denen die Sozialdemokratie ihre Ent¬
stehung und ihr Wachstum verdankt.

Die Sozialdemokratie hat aber noch eine Machtquelle, die mit ihrem Zu¬
kunftsprogramm nicht verwechselt werden darf, und die nicht versiegen wird,
wenn man auch ihr ganzes Pragramm für jeden gewöhnlichen Arbeiter kennt¬
lich ihr in Fetzen vor die Füße geworfen Hütte, und wir finden es in hohem
Grade betrübend, betrübend im Interesse der Versöhnung und des sozialen
Friedens, daß von keiner Seite auf diese Machtquelle hingewiesen worden ist.
Man mag das Zukunftsbild, wie es den führenden Männern der Sozial-
demokratie in unklaren Umrissen vorschwebt, utopistisch, widersinnig, wider¬
natürlich, dem Sittengesetze zuwiderlaufend oder warum immer sonst ver¬
werflich finden, im innersten Keime enthält es doch eine Wahrheit, bedeutet
es doch geradezu ein Ideal. Diese Wahrheit ist die, daß wir Meuschen in
allmählich fortschreitender Entwicklung zu immer höhern und bessern Formen
des Daseins gelangen, daß immer größere Teile des Volks an den Gütern
der Kultur, der Gesittung und der freundlichen Gestaltung des Lebens teil¬
haftig werden, und das Ideal ist das, daß diese höhern und bessern Formen
des Lebens auch edlere sein werden, edlere im Verhältnis des Einzelnen zum
Einzelnem, edlere in Bezug auf die Aufopferungsfähigkeit des Einzelnen gegen¬
über der Gesamtheit des Volks und der Menschheit. Die Sozialdemokratie
meint zwar, daß sie dies Ziel erreichen könne dnrch rein wirtschaftliche Ma߬
regeln, durch eine wirtschaftliche Umwälzung, die sich vollziehen soll nicht nur
ohne eine religiös-sittliche Umwcilzuug, sondern sogar im Widerstreite gegen
diese. Sie beweist damit ihre gänzliche Unkenntnis in Bezug auf das, was
sie vor allem zu kennen vorgiebt, in Bezug auf den Gang und die Gesetze
der Weltgeschichte, in der wirtschaftliche Umwälzungen von jeher nur dann
fruchtbar gewesen sind, nur dann etwas andres gebracht haben als Zerstörung,
wenn sie Hand in Hand gegangen sind mit einer religiös-sittlichen Volks-
erueueruug. Aber vermag das etwas an der Thatsache zu ändern, daß sie,
wenn auch uoch auf Irrwegen begriffen, doch einem Ideale zustrebt, dem
Ideale der Erlösung der darbenden Menschheit? Welche Partei strebt diesem
Ideale mit der gleichen Hoffnungsfreudigkeit und der gleichen Begeisterung
zu? und wer wagt sie dafür zu tadeln, daß sie nicht anders ist, wie sie ist,
wenn sie vonseiten der sogenannten Gebildeten, statt auf den richtigen Weg
zur Erreichung dieses Zieles verwiesen zu werden, mit Tadel, Spott und
Hohn überhäuft wird und ihr mit vornehmer Geringschätzung nichts weiter
vorgehalten wird, als daß sie „nichts habe, nichts könne und nichts wisse."


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[0406] Die Reichstagsverhandlungen über den Zukunftsstaat weite Kreise in dem Wahne noch werden bestärkt werden, daß man die Sozial¬ demokratie mit sogenannten „geistigen Waffen" überwinden könne, und daß die Aufmerksamkeit und die Energie der Gegner der Sozialdemokratie von jenem Kampfe werde abgelenkt werden, der doch in letzter Linie der entscheidende ist: von dem Kampfe gegen die Übelstände, denen die Sozialdemokratie ihre Ent¬ stehung und ihr Wachstum verdankt. Die Sozialdemokratie hat aber noch eine Machtquelle, die mit ihrem Zu¬ kunftsprogramm nicht verwechselt werden darf, und die nicht versiegen wird, wenn man auch ihr ganzes Pragramm für jeden gewöhnlichen Arbeiter kennt¬ lich ihr in Fetzen vor die Füße geworfen Hütte, und wir finden es in hohem Grade betrübend, betrübend im Interesse der Versöhnung und des sozialen Friedens, daß von keiner Seite auf diese Machtquelle hingewiesen worden ist. Man mag das Zukunftsbild, wie es den führenden Männern der Sozial- demokratie in unklaren Umrissen vorschwebt, utopistisch, widersinnig, wider¬ natürlich, dem Sittengesetze zuwiderlaufend oder warum immer sonst ver¬ werflich finden, im innersten Keime enthält es doch eine Wahrheit, bedeutet es doch geradezu ein Ideal. Diese Wahrheit ist die, daß wir Meuschen in allmählich fortschreitender Entwicklung zu immer höhern und bessern Formen des Daseins gelangen, daß immer größere Teile des Volks an den Gütern der Kultur, der Gesittung und der freundlichen Gestaltung des Lebens teil¬ haftig werden, und das Ideal ist das, daß diese höhern und bessern Formen des Lebens auch edlere sein werden, edlere im Verhältnis des Einzelnen zum Einzelnem, edlere in Bezug auf die Aufopferungsfähigkeit des Einzelnen gegen¬ über der Gesamtheit des Volks und der Menschheit. Die Sozialdemokratie meint zwar, daß sie dies Ziel erreichen könne dnrch rein wirtschaftliche Ma߬ regeln, durch eine wirtschaftliche Umwälzung, die sich vollziehen soll nicht nur ohne eine religiös-sittliche Umwcilzuug, sondern sogar im Widerstreite gegen diese. Sie beweist damit ihre gänzliche Unkenntnis in Bezug auf das, was sie vor allem zu kennen vorgiebt, in Bezug auf den Gang und die Gesetze der Weltgeschichte, in der wirtschaftliche Umwälzungen von jeher nur dann fruchtbar gewesen sind, nur dann etwas andres gebracht haben als Zerstörung, wenn sie Hand in Hand gegangen sind mit einer religiös-sittlichen Volks- erueueruug. Aber vermag das etwas an der Thatsache zu ändern, daß sie, wenn auch uoch auf Irrwegen begriffen, doch einem Ideale zustrebt, dem Ideale der Erlösung der darbenden Menschheit? Welche Partei strebt diesem Ideale mit der gleichen Hoffnungsfreudigkeit und der gleichen Begeisterung zu? und wer wagt sie dafür zu tadeln, daß sie nicht anders ist, wie sie ist, wenn sie vonseiten der sogenannten Gebildeten, statt auf den richtigen Weg zur Erreichung dieses Zieles verwiesen zu werden, mit Tadel, Spott und Hohn überhäuft wird und ihr mit vornehmer Geringschätzung nichts weiter vorgehalten wird, als daß sie „nichts habe, nichts könne und nichts wisse."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/406>, abgerufen am 17.06.2024.