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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Die Reichstagsverhandliingen über den Zukunftsstaat

Evangelische Christen, wie überhaupt alle wahrhaft menschenfreundlichen Männer,
sollten so nicht kämpfen gegen sie, sie sollten erkennen, daß, wie es Thomas
Carlyle einmal so herrlich ausgesprochen hat, "sie etwas doch meinen im
Grunde ihres verwirrten und aufgeregten Herzens, und im Grunde auch etwas
Wahres," und sie sollten, jeder an seiner Stelle und nach dem Maße seiner
Kräfte, dafür wirken, daß ans Zöllnern und Sündern Sendboten der Wahr¬
heit und der Gerechtigkeit werden. Wenn derartige Gedanken des Friedens
und der Liebe, solche wahrhaft christliche Gedanken mehr Eingang und An¬
klang gefunden hätten in den Kreisen unsrer Gebildeten, dann stünden wir
nicht da, wo wir jetzt stehen, gegenüber einer riesenhaft von unten herauf
drängenden, von halbgebildeter Autodidakten geleiteten und von einer dilettan¬
tischen, einseitigen Scheinwissenschaft befruchteten Bewegung, die uns nicht ver¬
steht, und für die wir kein Verständnis haben, und die sich ebenso streng ab¬
schließt von dem sonstigen Geistes- und Gemütsleben der Nation, wie wir uns
ängstlich von ihr abschließen; dann Hütte auch jener Kampf der Geister im
Reichstage nicht geendet mit einem schrillen Mißklang, mit der Feststellung,
daß man sich doch nie verstehen und verständigen werde, sondern dann wäre
er ausgeklungen in dem Tone der Versöhnung und des Friedens.

Die Ausführungen des Abgeordneten Bebel boten wahrlich in dieser Be¬
ziehung der Anknüpfungspunkte genug, und Hütte mau sich nicht auf den Ge¬
danken festgebissen gehabt, daß man im Fraktionsintcresse, zumal mit Rücksicht
auf die befürchtete Reichstagsanflvsung, einmal gründlich mit der Sozialdemo¬
kratie abrechnen wollte, so hätte man diese Berührungspunkte sehr wohl er¬
kennen können.

Wer die beiden großen Reden des Herrn Bebel nicht in den verstümmelten
Parlamentsberichten der Parteipresse, sondern in dem amtlichen stenographischen
Bericht gelesen hat, der wird, wenn er nicht in der Hitze des Parteikampfes
sein unbefangnes Urteil ganz verloren hat, zunächst zwei Dinge zugeben müssen,
die für uns freilich schon längst kein Geheimnis mehr waren. Herr Bebel
hat an nationalökonomischer Kenntnis und Erkenntnis, namentlich an prak¬
tischer Erfahrung entschieden gewonnen, er hat, dank seiner Führerstellung
in einer immer mächtiger anwachsenden, immer weitere Berufe und Stände
umspannenden Partei, seinen Blick nach allen Richtungen hin erweitert; und er
hat, was damit aufs engste zusammenhängt, an Ruhe und Mäßigung in seinem
Urteil und in seiner Sprechweise wesentlich zugenommen. Er hat die Ein¬
wände seiner Gegner in sich aufgenommen und verarbeitet, er hält sie zwar
teils für verfehlt, teils für nicht entscheidend, aber er bespricht sie im Tone
ruhiger Widerlegung, er weist nicht alles a, liinius zurück, er "Pfeife" nicht
mehr auf alle andersdenkenden. An Stelle des polternden, von lächerlichem
Unfehlbarkeitsdünkel erfüllten Scheidens sind sachlich und formell ruhige Er¬
örterungen getreten. Es läßt sich mit ihm reden. Das allein ist schon ein


Die Reichstagsverhandliingen über den Zukunftsstaat

Evangelische Christen, wie überhaupt alle wahrhaft menschenfreundlichen Männer,
sollten so nicht kämpfen gegen sie, sie sollten erkennen, daß, wie es Thomas
Carlyle einmal so herrlich ausgesprochen hat, „sie etwas doch meinen im
Grunde ihres verwirrten und aufgeregten Herzens, und im Grunde auch etwas
Wahres," und sie sollten, jeder an seiner Stelle und nach dem Maße seiner
Kräfte, dafür wirken, daß ans Zöllnern und Sündern Sendboten der Wahr¬
heit und der Gerechtigkeit werden. Wenn derartige Gedanken des Friedens
und der Liebe, solche wahrhaft christliche Gedanken mehr Eingang und An¬
klang gefunden hätten in den Kreisen unsrer Gebildeten, dann stünden wir
nicht da, wo wir jetzt stehen, gegenüber einer riesenhaft von unten herauf
drängenden, von halbgebildeter Autodidakten geleiteten und von einer dilettan¬
tischen, einseitigen Scheinwissenschaft befruchteten Bewegung, die uns nicht ver¬
steht, und für die wir kein Verständnis haben, und die sich ebenso streng ab¬
schließt von dem sonstigen Geistes- und Gemütsleben der Nation, wie wir uns
ängstlich von ihr abschließen; dann Hütte auch jener Kampf der Geister im
Reichstage nicht geendet mit einem schrillen Mißklang, mit der Feststellung,
daß man sich doch nie verstehen und verständigen werde, sondern dann wäre
er ausgeklungen in dem Tone der Versöhnung und des Friedens.

Die Ausführungen des Abgeordneten Bebel boten wahrlich in dieser Be¬
ziehung der Anknüpfungspunkte genug, und Hütte mau sich nicht auf den Ge¬
danken festgebissen gehabt, daß man im Fraktionsintcresse, zumal mit Rücksicht
auf die befürchtete Reichstagsanflvsung, einmal gründlich mit der Sozialdemo¬
kratie abrechnen wollte, so hätte man diese Berührungspunkte sehr wohl er¬
kennen können.

Wer die beiden großen Reden des Herrn Bebel nicht in den verstümmelten
Parlamentsberichten der Parteipresse, sondern in dem amtlichen stenographischen
Bericht gelesen hat, der wird, wenn er nicht in der Hitze des Parteikampfes
sein unbefangnes Urteil ganz verloren hat, zunächst zwei Dinge zugeben müssen,
die für uns freilich schon längst kein Geheimnis mehr waren. Herr Bebel
hat an nationalökonomischer Kenntnis und Erkenntnis, namentlich an prak¬
tischer Erfahrung entschieden gewonnen, er hat, dank seiner Führerstellung
in einer immer mächtiger anwachsenden, immer weitere Berufe und Stände
umspannenden Partei, seinen Blick nach allen Richtungen hin erweitert; und er
hat, was damit aufs engste zusammenhängt, an Ruhe und Mäßigung in seinem
Urteil und in seiner Sprechweise wesentlich zugenommen. Er hat die Ein¬
wände seiner Gegner in sich aufgenommen und verarbeitet, er hält sie zwar
teils für verfehlt, teils für nicht entscheidend, aber er bespricht sie im Tone
ruhiger Widerlegung, er weist nicht alles a, liinius zurück, er „Pfeife" nicht
mehr auf alle andersdenkenden. An Stelle des polternden, von lächerlichem
Unfehlbarkeitsdünkel erfüllten Scheidens sind sachlich und formell ruhige Er¬
örterungen getreten. Es läßt sich mit ihm reden. Das allein ist schon ein


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[0407] Die Reichstagsverhandliingen über den Zukunftsstaat Evangelische Christen, wie überhaupt alle wahrhaft menschenfreundlichen Männer, sollten so nicht kämpfen gegen sie, sie sollten erkennen, daß, wie es Thomas Carlyle einmal so herrlich ausgesprochen hat, „sie etwas doch meinen im Grunde ihres verwirrten und aufgeregten Herzens, und im Grunde auch etwas Wahres," und sie sollten, jeder an seiner Stelle und nach dem Maße seiner Kräfte, dafür wirken, daß ans Zöllnern und Sündern Sendboten der Wahr¬ heit und der Gerechtigkeit werden. Wenn derartige Gedanken des Friedens und der Liebe, solche wahrhaft christliche Gedanken mehr Eingang und An¬ klang gefunden hätten in den Kreisen unsrer Gebildeten, dann stünden wir nicht da, wo wir jetzt stehen, gegenüber einer riesenhaft von unten herauf drängenden, von halbgebildeter Autodidakten geleiteten und von einer dilettan¬ tischen, einseitigen Scheinwissenschaft befruchteten Bewegung, die uns nicht ver¬ steht, und für die wir kein Verständnis haben, und die sich ebenso streng ab¬ schließt von dem sonstigen Geistes- und Gemütsleben der Nation, wie wir uns ängstlich von ihr abschließen; dann Hütte auch jener Kampf der Geister im Reichstage nicht geendet mit einem schrillen Mißklang, mit der Feststellung, daß man sich doch nie verstehen und verständigen werde, sondern dann wäre er ausgeklungen in dem Tone der Versöhnung und des Friedens. Die Ausführungen des Abgeordneten Bebel boten wahrlich in dieser Be¬ ziehung der Anknüpfungspunkte genug, und Hütte mau sich nicht auf den Ge¬ danken festgebissen gehabt, daß man im Fraktionsintcresse, zumal mit Rücksicht auf die befürchtete Reichstagsanflvsung, einmal gründlich mit der Sozialdemo¬ kratie abrechnen wollte, so hätte man diese Berührungspunkte sehr wohl er¬ kennen können. Wer die beiden großen Reden des Herrn Bebel nicht in den verstümmelten Parlamentsberichten der Parteipresse, sondern in dem amtlichen stenographischen Bericht gelesen hat, der wird, wenn er nicht in der Hitze des Parteikampfes sein unbefangnes Urteil ganz verloren hat, zunächst zwei Dinge zugeben müssen, die für uns freilich schon längst kein Geheimnis mehr waren. Herr Bebel hat an nationalökonomischer Kenntnis und Erkenntnis, namentlich an prak¬ tischer Erfahrung entschieden gewonnen, er hat, dank seiner Führerstellung in einer immer mächtiger anwachsenden, immer weitere Berufe und Stände umspannenden Partei, seinen Blick nach allen Richtungen hin erweitert; und er hat, was damit aufs engste zusammenhängt, an Ruhe und Mäßigung in seinem Urteil und in seiner Sprechweise wesentlich zugenommen. Er hat die Ein¬ wände seiner Gegner in sich aufgenommen und verarbeitet, er hält sie zwar teils für verfehlt, teils für nicht entscheidend, aber er bespricht sie im Tone ruhiger Widerlegung, er weist nicht alles a, liinius zurück, er „Pfeife" nicht mehr auf alle andersdenkenden. An Stelle des polternden, von lächerlichem Unfehlbarkeitsdünkel erfüllten Scheidens sind sachlich und formell ruhige Er¬ örterungen getreten. Es läßt sich mit ihm reden. Das allein ist schon ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/407>, abgerufen am 17.06.2024.