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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Die Reichstagsverhandlungen über den Anknnftsstaat

Weise festgestellt worden ist, war gewiß gut und nützlich. Unnütz und schädlich
war es aber, sie wegen des Mangels eines positiven Zuknnftprogramms in
demselben Augenblicke zu verhöhnen, wo sie mit aller Deutlichkeit erklärte, daß
sie praktische Politik treiben wolle, und daß sie sich davon überzeugt habe,
daß, weil sich die menschlichen Dinge langsam und organisch entwickeln, sie
wohl Zukuuftshoffnuugen und Zukunftsideale, uicht aber bestimmte Zukunfts¬
pläne habe und haben könne.

Halten wir die Sozialdemokratie an dieser richtigen, von allen übrigen
Parteien geteilten Ansicht fest, unterlassen wir die nachträglichen, verbitternden
Vorwürfe über Dinge, die -- hoffentlich! -- für immer der Vergangenheit
angehören, und beweisen wir, daß auch wir Hoffnungen und Ideale haben,
indem wir in ernster, nimmer rastender Arbeit an der Besserung der Zustände
und an der Erlösung der Armen und Elenden die Sozialdemokratie zu über¬
treffen suchen. Das ist gegenüber der Sozialdemokratie, wie sie heute ist,
die allem würdige, allein gerechte und auch allein fruchtbringende Kampfes¬
weise. Und doch ist gerade von dieser Kampfesweise in den Reichstagsver-
handlnngen, in denen die überlegne Dialektik Eugen Richters deu Ton angab,
wenig oder gar nichts zu spüren gewesen.

Es ist bedauerlich, aber es ist wahr: die alten Parteien haben nichts
gelernt und nichts vergessen. Sie schlagen mit verrosteten Klingen auf die
Stelle los, auf der die Sozialdemokratie vor zehn bis zwölf Jahren stand,
und haben es nicht bemerkt, daß sie inzwischen längst ein gutes Stück Wegs
fortgeschritten ist, und daß alles, was sie früher gesagt haben, jetzt gar nicht
mehr paßt. Wenn es so noch einige Zeit fortgeht, so kann der Sieg der
Sozialdemokratie nicht ausbleiben, und die, die auf eine uns fördernde, segen-
bringende Zukunft hoffen, müssen ihre Hoffnung darauf setzen, daß sich inner¬
halb der Sozialdemokratie nach dem Beispiele Völlmars, in dem Maße, wie
sie anwächst, mehr und mehr gemäßigte und konservative Bestandteile geltend
machen werden, die, wenn auch bei dem Gedanken des Sozialismus verharrend,
doch wieder an Stelle der vernichteten alten Parteien auf deu Boden des be¬
stehenden Staats treten. Wünschenswert wäre für jeden Anhänger der ge¬
schichtlichen Fortentwicklung eine solche Umwälzung in deu Parteiverhältnisfen
nicht, aber sie wird und muß eintreten, wenn sich die bisherigen Parteien
ferner so unfähig erweisen, die Entwicklung der Sozialdemokratie schrittweise
Zu verfolgen und zu verstehen, wie sie dies in der Reichstagsdebatte über den
"Zukunftsstaat" bewiesen haben. Vi80its moniti!




Die Reichstagsverhandlungen über den Anknnftsstaat

Weise festgestellt worden ist, war gewiß gut und nützlich. Unnütz und schädlich
war es aber, sie wegen des Mangels eines positiven Zuknnftprogramms in
demselben Augenblicke zu verhöhnen, wo sie mit aller Deutlichkeit erklärte, daß
sie praktische Politik treiben wolle, und daß sie sich davon überzeugt habe,
daß, weil sich die menschlichen Dinge langsam und organisch entwickeln, sie
wohl Zukuuftshoffnuugen und Zukunftsideale, uicht aber bestimmte Zukunfts¬
pläne habe und haben könne.

Halten wir die Sozialdemokratie an dieser richtigen, von allen übrigen
Parteien geteilten Ansicht fest, unterlassen wir die nachträglichen, verbitternden
Vorwürfe über Dinge, die — hoffentlich! — für immer der Vergangenheit
angehören, und beweisen wir, daß auch wir Hoffnungen und Ideale haben,
indem wir in ernster, nimmer rastender Arbeit an der Besserung der Zustände
und an der Erlösung der Armen und Elenden die Sozialdemokratie zu über¬
treffen suchen. Das ist gegenüber der Sozialdemokratie, wie sie heute ist,
die allem würdige, allein gerechte und auch allein fruchtbringende Kampfes¬
weise. Und doch ist gerade von dieser Kampfesweise in den Reichstagsver-
handlnngen, in denen die überlegne Dialektik Eugen Richters deu Ton angab,
wenig oder gar nichts zu spüren gewesen.

Es ist bedauerlich, aber es ist wahr: die alten Parteien haben nichts
gelernt und nichts vergessen. Sie schlagen mit verrosteten Klingen auf die
Stelle los, auf der die Sozialdemokratie vor zehn bis zwölf Jahren stand,
und haben es nicht bemerkt, daß sie inzwischen längst ein gutes Stück Wegs
fortgeschritten ist, und daß alles, was sie früher gesagt haben, jetzt gar nicht
mehr paßt. Wenn es so noch einige Zeit fortgeht, so kann der Sieg der
Sozialdemokratie nicht ausbleiben, und die, die auf eine uns fördernde, segen-
bringende Zukunft hoffen, müssen ihre Hoffnung darauf setzen, daß sich inner¬
halb der Sozialdemokratie nach dem Beispiele Völlmars, in dem Maße, wie
sie anwächst, mehr und mehr gemäßigte und konservative Bestandteile geltend
machen werden, die, wenn auch bei dem Gedanken des Sozialismus verharrend,
doch wieder an Stelle der vernichteten alten Parteien auf deu Boden des be¬
stehenden Staats treten. Wünschenswert wäre für jeden Anhänger der ge¬
schichtlichen Fortentwicklung eine solche Umwälzung in deu Parteiverhältnisfen
nicht, aber sie wird und muß eintreten, wenn sich die bisherigen Parteien
ferner so unfähig erweisen, die Entwicklung der Sozialdemokratie schrittweise
Zu verfolgen und zu verstehen, wie sie dies in der Reichstagsdebatte über den
„Zukunftsstaat" bewiesen haben. Vi80its moniti!




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[0409] Die Reichstagsverhandlungen über den Anknnftsstaat Weise festgestellt worden ist, war gewiß gut und nützlich. Unnütz und schädlich war es aber, sie wegen des Mangels eines positiven Zuknnftprogramms in demselben Augenblicke zu verhöhnen, wo sie mit aller Deutlichkeit erklärte, daß sie praktische Politik treiben wolle, und daß sie sich davon überzeugt habe, daß, weil sich die menschlichen Dinge langsam und organisch entwickeln, sie wohl Zukuuftshoffnuugen und Zukunftsideale, uicht aber bestimmte Zukunfts¬ pläne habe und haben könne. Halten wir die Sozialdemokratie an dieser richtigen, von allen übrigen Parteien geteilten Ansicht fest, unterlassen wir die nachträglichen, verbitternden Vorwürfe über Dinge, die — hoffentlich! — für immer der Vergangenheit angehören, und beweisen wir, daß auch wir Hoffnungen und Ideale haben, indem wir in ernster, nimmer rastender Arbeit an der Besserung der Zustände und an der Erlösung der Armen und Elenden die Sozialdemokratie zu über¬ treffen suchen. Das ist gegenüber der Sozialdemokratie, wie sie heute ist, die allem würdige, allein gerechte und auch allein fruchtbringende Kampfes¬ weise. Und doch ist gerade von dieser Kampfesweise in den Reichstagsver- handlnngen, in denen die überlegne Dialektik Eugen Richters deu Ton angab, wenig oder gar nichts zu spüren gewesen. Es ist bedauerlich, aber es ist wahr: die alten Parteien haben nichts gelernt und nichts vergessen. Sie schlagen mit verrosteten Klingen auf die Stelle los, auf der die Sozialdemokratie vor zehn bis zwölf Jahren stand, und haben es nicht bemerkt, daß sie inzwischen längst ein gutes Stück Wegs fortgeschritten ist, und daß alles, was sie früher gesagt haben, jetzt gar nicht mehr paßt. Wenn es so noch einige Zeit fortgeht, so kann der Sieg der Sozialdemokratie nicht ausbleiben, und die, die auf eine uns fördernde, segen- bringende Zukunft hoffen, müssen ihre Hoffnung darauf setzen, daß sich inner¬ halb der Sozialdemokratie nach dem Beispiele Völlmars, in dem Maße, wie sie anwächst, mehr und mehr gemäßigte und konservative Bestandteile geltend machen werden, die, wenn auch bei dem Gedanken des Sozialismus verharrend, doch wieder an Stelle der vernichteten alten Parteien auf deu Boden des be¬ stehenden Staats treten. Wünschenswert wäre für jeden Anhänger der ge¬ schichtlichen Fortentwicklung eine solche Umwälzung in deu Parteiverhältnisfen nicht, aber sie wird und muß eintreten, wenn sich die bisherigen Parteien ferner so unfähig erweisen, die Entwicklung der Sozialdemokratie schrittweise Zu verfolgen und zu verstehen, wie sie dies in der Reichstagsdebatte über den „Zukunftsstaat" bewiesen haben. Vi80its moniti!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/409>, abgerufen am 12.05.2024.