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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Die Reichstagsverhandlungen über den Jukunftsstaat

ganz gewaltiger Fortschritt, und es ist bedauerlich, daß niemand auf diese in
die Augen springende Thatsache hingewiesen hat.

Aber das Wichtigste und Erfreulichste an den Bebelschen Ausführungen
ist das, was man am meisten getadelt und verspottet hat: seine Erklärung,
daß er ein fertiges Bild der Zukuuftsgesellschaft nicht geben könne, daß die
Sozialdemokratie nicht auf ein im einzelnen unabänderliches, festes Ziel hin¬
strebe, sondern eine Partei sei, die sich in beständiger "geistiger Mauserung"
befinde, daß das, was sie zu thun habe, sich nach den jeweiligen Umstanden
und Bedürfnissen richte, und daß daher, ebensowenig wie die andern Parteien,
die Sozialdemokrntie zu sagen vermöge, was sie anch nur in den nächsten
Jahren zu thun gedenke. Hiermit im engsten Zusammenhange steht das, was
Herr Bebel über die unbedingte Notwendigkeit der Mitarbeit der Sozial-
demokratie an der Gesetzgebung des bestehenden Staates und an der Besei¬
tigung der auf ihrem Boden erwachsenen Übelstände sagte. Was Herr Bebel
in dieser Beziehung als berufner Vertreter der Partei ausführte, deckt sich
völlig mit dem, was auf den beiden letzten Parteitagen über die Taktik
der Partei beschlossen worden ist: das Schwergewicht ist, wie wir dies wieder¬
holt ausgeführt haben, von den Endzielen hinweg auf die praktische Mitarbeit
verlegt. Herr Bebel verwahrt sich gegen die "Thorheit," zu verlangen, daß
die Sozialdemokratie im einzelnen angeben solle, was sie wolle, da sie doch
gar nicht wisse, wann sie zur Macht kommen werde. Das werde sich finden,
wenn man so weit sei. Die Sozialdemokratie sage sich, ebenso wie die andern
Parteien: "Wir wissen nicht, was für Verhältnisse eintreten werden; die
jeweiligen Verhältnisse können die schönsten Pläne, die wir hente fassen, über
den Haufen werfen; wir müssen warten, wie sich die Zustände gestalten, und
dann werden wir nach Lage der Umstünde handeln."

Daß die Sozialdemokratie dieses "thörichte" Verlangen selbst hervorgerufen
hat, indem sie so thöricht war, für die allernächste Zeit den allgemeinen Um¬
sturz, der sie zur Herrschaft bringen sollte, zu prophezeien und die Lehre, die
sie jetzt den "Jungen" allein in die Schuhe schieben möchte, zu verkünden,
nach der die gesetzgeberische und parlamentarische Mitarbeit nicht nur
nichts nütze, sondern für die Erreichung der Endziele geradezu schädlich
sei, das ist allerdings richtig. Aber an der Thatsache, daß sie diese
Lehre, nachdem sie verschiedene "geistige Mauserungen" durchgemacht, jetzt
aufgegeben hat, so weit aufgegeben hat, daß Herr Bebel im Anschluß
an eine Äußerung Delbrücks in deu Preußischen Jahrbüchern seinen
sozialdemokratischen Zukunftstraum mit den unklaren Einheitstränmen der
deutschen Patrioten im Anfange dieses Jahrhunderts auf eine Linie stellte,
an dieser Thatsache wird dadurch nicht das mindeste geändert. Daß diese
geistige Umbildung der Sozialdemokratie noch einmal im deutschen Reichstage
vor aller Welt und in einer selbst für den besorgtesten Philister erkennbaren


Die Reichstagsverhandlungen über den Jukunftsstaat

ganz gewaltiger Fortschritt, und es ist bedauerlich, daß niemand auf diese in
die Augen springende Thatsache hingewiesen hat.

Aber das Wichtigste und Erfreulichste an den Bebelschen Ausführungen
ist das, was man am meisten getadelt und verspottet hat: seine Erklärung,
daß er ein fertiges Bild der Zukuuftsgesellschaft nicht geben könne, daß die
Sozialdemokratie nicht auf ein im einzelnen unabänderliches, festes Ziel hin¬
strebe, sondern eine Partei sei, die sich in beständiger „geistiger Mauserung"
befinde, daß das, was sie zu thun habe, sich nach den jeweiligen Umstanden
und Bedürfnissen richte, und daß daher, ebensowenig wie die andern Parteien,
die Sozialdemokrntie zu sagen vermöge, was sie anch nur in den nächsten
Jahren zu thun gedenke. Hiermit im engsten Zusammenhange steht das, was
Herr Bebel über die unbedingte Notwendigkeit der Mitarbeit der Sozial-
demokratie an der Gesetzgebung des bestehenden Staates und an der Besei¬
tigung der auf ihrem Boden erwachsenen Übelstände sagte. Was Herr Bebel
in dieser Beziehung als berufner Vertreter der Partei ausführte, deckt sich
völlig mit dem, was auf den beiden letzten Parteitagen über die Taktik
der Partei beschlossen worden ist: das Schwergewicht ist, wie wir dies wieder¬
holt ausgeführt haben, von den Endzielen hinweg auf die praktische Mitarbeit
verlegt. Herr Bebel verwahrt sich gegen die „Thorheit," zu verlangen, daß
die Sozialdemokratie im einzelnen angeben solle, was sie wolle, da sie doch
gar nicht wisse, wann sie zur Macht kommen werde. Das werde sich finden,
wenn man so weit sei. Die Sozialdemokratie sage sich, ebenso wie die andern
Parteien: „Wir wissen nicht, was für Verhältnisse eintreten werden; die
jeweiligen Verhältnisse können die schönsten Pläne, die wir hente fassen, über
den Haufen werfen; wir müssen warten, wie sich die Zustände gestalten, und
dann werden wir nach Lage der Umstünde handeln."

Daß die Sozialdemokratie dieses „thörichte" Verlangen selbst hervorgerufen
hat, indem sie so thöricht war, für die allernächste Zeit den allgemeinen Um¬
sturz, der sie zur Herrschaft bringen sollte, zu prophezeien und die Lehre, die
sie jetzt den „Jungen" allein in die Schuhe schieben möchte, zu verkünden,
nach der die gesetzgeberische und parlamentarische Mitarbeit nicht nur
nichts nütze, sondern für die Erreichung der Endziele geradezu schädlich
sei, das ist allerdings richtig. Aber an der Thatsache, daß sie diese
Lehre, nachdem sie verschiedene „geistige Mauserungen" durchgemacht, jetzt
aufgegeben hat, so weit aufgegeben hat, daß Herr Bebel im Anschluß
an eine Äußerung Delbrücks in deu Preußischen Jahrbüchern seinen
sozialdemokratischen Zukunftstraum mit den unklaren Einheitstränmen der
deutschen Patrioten im Anfange dieses Jahrhunderts auf eine Linie stellte,
an dieser Thatsache wird dadurch nicht das mindeste geändert. Daß diese
geistige Umbildung der Sozialdemokratie noch einmal im deutschen Reichstage
vor aller Welt und in einer selbst für den besorgtesten Philister erkennbaren


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[0408] Die Reichstagsverhandlungen über den Jukunftsstaat ganz gewaltiger Fortschritt, und es ist bedauerlich, daß niemand auf diese in die Augen springende Thatsache hingewiesen hat. Aber das Wichtigste und Erfreulichste an den Bebelschen Ausführungen ist das, was man am meisten getadelt und verspottet hat: seine Erklärung, daß er ein fertiges Bild der Zukuuftsgesellschaft nicht geben könne, daß die Sozialdemokratie nicht auf ein im einzelnen unabänderliches, festes Ziel hin¬ strebe, sondern eine Partei sei, die sich in beständiger „geistiger Mauserung" befinde, daß das, was sie zu thun habe, sich nach den jeweiligen Umstanden und Bedürfnissen richte, und daß daher, ebensowenig wie die andern Parteien, die Sozialdemokrntie zu sagen vermöge, was sie anch nur in den nächsten Jahren zu thun gedenke. Hiermit im engsten Zusammenhange steht das, was Herr Bebel über die unbedingte Notwendigkeit der Mitarbeit der Sozial- demokratie an der Gesetzgebung des bestehenden Staates und an der Besei¬ tigung der auf ihrem Boden erwachsenen Übelstände sagte. Was Herr Bebel in dieser Beziehung als berufner Vertreter der Partei ausführte, deckt sich völlig mit dem, was auf den beiden letzten Parteitagen über die Taktik der Partei beschlossen worden ist: das Schwergewicht ist, wie wir dies wieder¬ holt ausgeführt haben, von den Endzielen hinweg auf die praktische Mitarbeit verlegt. Herr Bebel verwahrt sich gegen die „Thorheit," zu verlangen, daß die Sozialdemokratie im einzelnen angeben solle, was sie wolle, da sie doch gar nicht wisse, wann sie zur Macht kommen werde. Das werde sich finden, wenn man so weit sei. Die Sozialdemokratie sage sich, ebenso wie die andern Parteien: „Wir wissen nicht, was für Verhältnisse eintreten werden; die jeweiligen Verhältnisse können die schönsten Pläne, die wir hente fassen, über den Haufen werfen; wir müssen warten, wie sich die Zustände gestalten, und dann werden wir nach Lage der Umstünde handeln." Daß die Sozialdemokratie dieses „thörichte" Verlangen selbst hervorgerufen hat, indem sie so thöricht war, für die allernächste Zeit den allgemeinen Um¬ sturz, der sie zur Herrschaft bringen sollte, zu prophezeien und die Lehre, die sie jetzt den „Jungen" allein in die Schuhe schieben möchte, zu verkünden, nach der die gesetzgeberische und parlamentarische Mitarbeit nicht nur nichts nütze, sondern für die Erreichung der Endziele geradezu schädlich sei, das ist allerdings richtig. Aber an der Thatsache, daß sie diese Lehre, nachdem sie verschiedene „geistige Mauserungen" durchgemacht, jetzt aufgegeben hat, so weit aufgegeben hat, daß Herr Bebel im Anschluß an eine Äußerung Delbrücks in deu Preußischen Jahrbüchern seinen sozialdemokratischen Zukunftstraum mit den unklaren Einheitstränmen der deutschen Patrioten im Anfange dieses Jahrhunderts auf eine Linie stellte, an dieser Thatsache wird dadurch nicht das mindeste geändert. Daß diese geistige Umbildung der Sozialdemokratie noch einmal im deutschen Reichstage vor aller Welt und in einer selbst für den besorgtesten Philister erkennbaren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/408>, abgerufen am 26.05.2024.