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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Kellers Nachlaßschriften

Gegenteil von dem herauslesen, was in einem Buche steht, wird dies zugeben
müssen. Man nennt ihn bald einen derben niederländischen Maler, bald einen
Dorfgeschichtenschreiber, bald einen ausführlichen guten Kopisten der Natur,
bald dies, bald das, in einem günstigen beschränkten Sinne; aber die Wahrheit
ist, daß er ein großes episches Genie ist."

Den Aufsätzen über Gotthelf folgen Aufsätze über Fr. Th. Bischer, über
Heinrich Leutholds Gedichte, über Kaulbachs Reinere Fuchs, über die schwei¬
zerischen Künstler Rudolf Koller, Ludwig Vogel, Stückelberg ("Ein bescheidnes
Knnstreischen"), einige davon aus der "Neuen Züricher Zeitung," die Keller
ab und zu mit kleinen Beiträgen beehrte, ein paar höchst charakteristische
Niederschriften Kellers, des Politikers und Patrioten: "Zu Alfred Eschers
Denkmalweihe" und ein "Bettagsmandat," das Keller 1862 als Staatsschreiber
des Kantons Zürich verfaßt hat. Zu den beiden autobiographischen Nieder¬
schriften aus den Jahren 1876 (für Paul Lindaus "Gegenwart") und 1889
(für die Chronik der Kirchengemeinde Neumünster) gesellt sich eine Verteidigung
in eigner Sache "Ein nachhaltiger Nachekrieg," gegen ein Feuilleton des Pariser
lemxs, worin Keller auf seine Novelle "Das Verlorne Lachen" hin in der
lächerlichsten und unwürdigsten Weise angegriffen worden war. Endlich ent¬
hält der Band noch zwei Prachtstücke Kellerscher Prosa: "Erinnerung an Xaver
Schnyder von Wartensee" und "Am Mythenstein," eine 1860 im "Morgen-
blatt" veröffentlichte Phantasie, die an die Einweihung der von Hunderttau-
senden geschauten Inschrift am Mythenstein zu Ehren Schillers, des Tell-
dichters, die ersprießlichsten Gedanken über Volkskunst und künstlerische Weihe
großer Volksfeste anknüpft.

Wenn man will, trägt alles in diesen "Nachlaßschriften" Kellers ein
schweizerisches, vaterländisches Gepräge, aber wie weit ist es dabei von be¬
schränktem Kantongeist und von provinzieller Enge des Gesichtskreises entfernt,
wie voll ist der kleinste Aufsatz vou echtem Dichtergeist, von der ursprünglichen
Phantasie und der reichen, an keiner Stelle verkümmerten Bildung Kellers ge¬
tränkt, wie bedeutend für die Allgemeinheit erscheint jedes Ding, das er er¬
faßt und darstellt! Der Kraft seiner warmen Teilnahme und dem flüssigen
Reiz seines Stils gelingt es, uns für vergessene Künstler und weit zurück¬
liegende Vorgänge der Tagesgeschichte zu interessiren, frisches, unmittelbares
Leben pulsirt auch in den kritischen Abhandlungen des Buches, überall schaut
das kluge, energische Gesicht mit deu dunkeln Augen herein, die immer und
überall auf den Kern der Dinge sahen und sich von keinem Schein blenden
ließen. Aus jeder Zeile weht uns der wohlthätige Heines einer unbeirrbaren
Tüchtigkeit entgegen, einer Genialität, die von jeder Nervosität frei erscheint.
Und wie vieles, was Keller vor einem Vierteljahrhundert und länger ge¬
schrieben hat, sieht wie auf den Tag und die Stunde gemünzt aus! 1861 z.B.
sagte Keller über den jetzt so grimmig gehaßten und in allen Tonarten


Gottfried Kellers Nachlaßschriften

Gegenteil von dem herauslesen, was in einem Buche steht, wird dies zugeben
müssen. Man nennt ihn bald einen derben niederländischen Maler, bald einen
Dorfgeschichtenschreiber, bald einen ausführlichen guten Kopisten der Natur,
bald dies, bald das, in einem günstigen beschränkten Sinne; aber die Wahrheit
ist, daß er ein großes episches Genie ist."

Den Aufsätzen über Gotthelf folgen Aufsätze über Fr. Th. Bischer, über
Heinrich Leutholds Gedichte, über Kaulbachs Reinere Fuchs, über die schwei¬
zerischen Künstler Rudolf Koller, Ludwig Vogel, Stückelberg („Ein bescheidnes
Knnstreischen"), einige davon aus der „Neuen Züricher Zeitung," die Keller
ab und zu mit kleinen Beiträgen beehrte, ein paar höchst charakteristische
Niederschriften Kellers, des Politikers und Patrioten: „Zu Alfred Eschers
Denkmalweihe" und ein „Bettagsmandat," das Keller 1862 als Staatsschreiber
des Kantons Zürich verfaßt hat. Zu den beiden autobiographischen Nieder¬
schriften aus den Jahren 1876 (für Paul Lindaus „Gegenwart") und 1889
(für die Chronik der Kirchengemeinde Neumünster) gesellt sich eine Verteidigung
in eigner Sache „Ein nachhaltiger Nachekrieg," gegen ein Feuilleton des Pariser
lemxs, worin Keller auf seine Novelle „Das Verlorne Lachen" hin in der
lächerlichsten und unwürdigsten Weise angegriffen worden war. Endlich ent¬
hält der Band noch zwei Prachtstücke Kellerscher Prosa: „Erinnerung an Xaver
Schnyder von Wartensee" und „Am Mythenstein," eine 1860 im „Morgen-
blatt" veröffentlichte Phantasie, die an die Einweihung der von Hunderttau-
senden geschauten Inschrift am Mythenstein zu Ehren Schillers, des Tell-
dichters, die ersprießlichsten Gedanken über Volkskunst und künstlerische Weihe
großer Volksfeste anknüpft.

Wenn man will, trägt alles in diesen „Nachlaßschriften" Kellers ein
schweizerisches, vaterländisches Gepräge, aber wie weit ist es dabei von be¬
schränktem Kantongeist und von provinzieller Enge des Gesichtskreises entfernt,
wie voll ist der kleinste Aufsatz vou echtem Dichtergeist, von der ursprünglichen
Phantasie und der reichen, an keiner Stelle verkümmerten Bildung Kellers ge¬
tränkt, wie bedeutend für die Allgemeinheit erscheint jedes Ding, das er er¬
faßt und darstellt! Der Kraft seiner warmen Teilnahme und dem flüssigen
Reiz seines Stils gelingt es, uns für vergessene Künstler und weit zurück¬
liegende Vorgänge der Tagesgeschichte zu interessiren, frisches, unmittelbares
Leben pulsirt auch in den kritischen Abhandlungen des Buches, überall schaut
das kluge, energische Gesicht mit deu dunkeln Augen herein, die immer und
überall auf den Kern der Dinge sahen und sich von keinem Schein blenden
ließen. Aus jeder Zeile weht uns der wohlthätige Heines einer unbeirrbaren
Tüchtigkeit entgegen, einer Genialität, die von jeder Nervosität frei erscheint.
Und wie vieles, was Keller vor einem Vierteljahrhundert und länger ge¬
schrieben hat, sieht wie auf den Tag und die Stunde gemünzt aus! 1861 z.B.
sagte Keller über den jetzt so grimmig gehaßten und in allen Tonarten


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[0054] Gottfried Kellers Nachlaßschriften Gegenteil von dem herauslesen, was in einem Buche steht, wird dies zugeben müssen. Man nennt ihn bald einen derben niederländischen Maler, bald einen Dorfgeschichtenschreiber, bald einen ausführlichen guten Kopisten der Natur, bald dies, bald das, in einem günstigen beschränkten Sinne; aber die Wahrheit ist, daß er ein großes episches Genie ist." Den Aufsätzen über Gotthelf folgen Aufsätze über Fr. Th. Bischer, über Heinrich Leutholds Gedichte, über Kaulbachs Reinere Fuchs, über die schwei¬ zerischen Künstler Rudolf Koller, Ludwig Vogel, Stückelberg („Ein bescheidnes Knnstreischen"), einige davon aus der „Neuen Züricher Zeitung," die Keller ab und zu mit kleinen Beiträgen beehrte, ein paar höchst charakteristische Niederschriften Kellers, des Politikers und Patrioten: „Zu Alfred Eschers Denkmalweihe" und ein „Bettagsmandat," das Keller 1862 als Staatsschreiber des Kantons Zürich verfaßt hat. Zu den beiden autobiographischen Nieder¬ schriften aus den Jahren 1876 (für Paul Lindaus „Gegenwart") und 1889 (für die Chronik der Kirchengemeinde Neumünster) gesellt sich eine Verteidigung in eigner Sache „Ein nachhaltiger Nachekrieg," gegen ein Feuilleton des Pariser lemxs, worin Keller auf seine Novelle „Das Verlorne Lachen" hin in der lächerlichsten und unwürdigsten Weise angegriffen worden war. Endlich ent¬ hält der Band noch zwei Prachtstücke Kellerscher Prosa: „Erinnerung an Xaver Schnyder von Wartensee" und „Am Mythenstein," eine 1860 im „Morgen- blatt" veröffentlichte Phantasie, die an die Einweihung der von Hunderttau- senden geschauten Inschrift am Mythenstein zu Ehren Schillers, des Tell- dichters, die ersprießlichsten Gedanken über Volkskunst und künstlerische Weihe großer Volksfeste anknüpft. Wenn man will, trägt alles in diesen „Nachlaßschriften" Kellers ein schweizerisches, vaterländisches Gepräge, aber wie weit ist es dabei von be¬ schränktem Kantongeist und von provinzieller Enge des Gesichtskreises entfernt, wie voll ist der kleinste Aufsatz vou echtem Dichtergeist, von der ursprünglichen Phantasie und der reichen, an keiner Stelle verkümmerten Bildung Kellers ge¬ tränkt, wie bedeutend für die Allgemeinheit erscheint jedes Ding, das er er¬ faßt und darstellt! Der Kraft seiner warmen Teilnahme und dem flüssigen Reiz seines Stils gelingt es, uns für vergessene Künstler und weit zurück¬ liegende Vorgänge der Tagesgeschichte zu interessiren, frisches, unmittelbares Leben pulsirt auch in den kritischen Abhandlungen des Buches, überall schaut das kluge, energische Gesicht mit deu dunkeln Augen herein, die immer und überall auf den Kern der Dinge sahen und sich von keinem Schein blenden ließen. Aus jeder Zeile weht uns der wohlthätige Heines einer unbeirrbaren Tüchtigkeit entgegen, einer Genialität, die von jeder Nervosität frei erscheint. Und wie vieles, was Keller vor einem Vierteljahrhundert und länger ge¬ schrieben hat, sieht wie auf den Tag und die Stunde gemünzt aus! 1861 z.B. sagte Keller über den jetzt so grimmig gehaßten und in allen Tonarten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/54>, abgerufen am 23.05.2024.