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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Kellers Nachlaßschriften

verlästerten Paul Hesse: "Diese schöne künstlerische Persönlichkeit gehört
nämlich zu den Erscheinungen, welche der schnöden Routine die größte Un¬
bequemlichkeit verursachen, und von denen sich die weihelosen Konversations¬
schriftsteller und die Unkräuter aller Art abwende", wie die Hunde von einem
Glas Wein. An den ersten Wortreihen, welche ein solches Talent hören läßt,
erkennen sie die ihnen fremde Mundart des Schönen, den Wohlklnng der wirk¬
lichen Poesie; und sofort wird nach einem Schlag- oder Scheltwort ausgeschaut,
mit welchem das Verhaßte zu verpönen, zu isoliren versucht wird. Akademisch!
Welch lustige Auskunft! Traurig genug, daß die einfache Korrektheit des Stils
einer sprachlichen Wüstenei gegenüber wirklich akademisch genannt werden muß."

Ob sich Gottfried Keller, als er diese Zeilen schrieb, wohl träumen ließ,
daß er selbst, der naturwüchsige, kerufrische, tief eigentümliche, freilich aber
auch feinsinnige und künstlerisch gestimmte Dichter, noch vor seinem Lebensende
für einen "akademischen" Dichter erklärt werden würde? Er wußte freilich
schon damals und sein ganzes Leben lang, daß "ohne innere und äußere Ach¬
tung nichts Klassisches gedeiht," und blieb den Grundsätzen einer sorgfältigen
und möglichst vollendeten Ausführung dessen, was seine Phantasie schaute,
allezeit getreu, aber er ahnte schwerlich, daß die Unkräuter eines schönen Tages
so überwuchern würden, um mit einigem Erfolg behaupten zu können, daß nur
Belladonneu und Vrenunesseln unmittelbar wüchsen, während schattige Bänme,
zierliche Fnrren und vollends Rosen und Veilchen konventionell, traditionell
von der entarteten Natur hervorgebracht würden. Doch dürfen wir sicher
sein, daß der Dichter der "Leute von Seldwyla," der "Sieben Legenden" und
der "Züricher Novellen," anch wenn er die litterarischen Glaubensbekenntnisse
des Jahres 1890 prophetisch vorausgesehen hätte, von dem Wege seiner Ent¬
wicklung nicht ein Haar breit abgewichen wäre. Dafür bürgt mehr als manches
höherstehende Werk des Dichters diese Sammlung poetischer Reste und ver¬
mischter Aufsätze. Gerade in ihnen offenbart sich, auf wie kräftig edeln und
gerade emporsteigenden Wuchs, trotz ein und des andern Knorrens, der Stamm
von Kellers Natur angelegt war, wie er gnr nicht anders konnte, als diese
Natur und ihren innersten Trieb der kleinsten und zufälligsten Aufgabe wie
der größten durch Jahre getragnen Absicht gegenüber zu bethätigen.

Jnkob Bächtold, der Herausgeber, ist im Vorwort der Meinung, daß
"die getroffne Auslese den Ruf Kellers in keiner Weise beeinträchtigen" werde.
Gewiß nicht! Allerdings kann sie die Geltung des Dichters uur in dem Sinne
erhöhen, daß man sich nach dem Bruchstück des Trauerspiels "Therese" fragen
muß, ob Keller vou Haus aus so unbedingt in das lyrische und epische Ge¬
biet gebannt gewesen sei, wie es nach seinen Hauptwerken den Anschein hatte.
Sie wird aber die Teilnahme für die ganze Erscheinung des Dichters steigern
und die Genugthuung vermehren helfen, daß man ihm noch zur rechten Zeit
leidlich gerecht geworden ist und es nicht erst jetzt zu werden braucht.


Gottfried Kellers Nachlaßschriften

verlästerten Paul Hesse: „Diese schöne künstlerische Persönlichkeit gehört
nämlich zu den Erscheinungen, welche der schnöden Routine die größte Un¬
bequemlichkeit verursachen, und von denen sich die weihelosen Konversations¬
schriftsteller und die Unkräuter aller Art abwende», wie die Hunde von einem
Glas Wein. An den ersten Wortreihen, welche ein solches Talent hören läßt,
erkennen sie die ihnen fremde Mundart des Schönen, den Wohlklnng der wirk¬
lichen Poesie; und sofort wird nach einem Schlag- oder Scheltwort ausgeschaut,
mit welchem das Verhaßte zu verpönen, zu isoliren versucht wird. Akademisch!
Welch lustige Auskunft! Traurig genug, daß die einfache Korrektheit des Stils
einer sprachlichen Wüstenei gegenüber wirklich akademisch genannt werden muß."

Ob sich Gottfried Keller, als er diese Zeilen schrieb, wohl träumen ließ,
daß er selbst, der naturwüchsige, kerufrische, tief eigentümliche, freilich aber
auch feinsinnige und künstlerisch gestimmte Dichter, noch vor seinem Lebensende
für einen „akademischen" Dichter erklärt werden würde? Er wußte freilich
schon damals und sein ganzes Leben lang, daß „ohne innere und äußere Ach¬
tung nichts Klassisches gedeiht," und blieb den Grundsätzen einer sorgfältigen
und möglichst vollendeten Ausführung dessen, was seine Phantasie schaute,
allezeit getreu, aber er ahnte schwerlich, daß die Unkräuter eines schönen Tages
so überwuchern würden, um mit einigem Erfolg behaupten zu können, daß nur
Belladonneu und Vrenunesseln unmittelbar wüchsen, während schattige Bänme,
zierliche Fnrren und vollends Rosen und Veilchen konventionell, traditionell
von der entarteten Natur hervorgebracht würden. Doch dürfen wir sicher
sein, daß der Dichter der „Leute von Seldwyla," der „Sieben Legenden" und
der „Züricher Novellen," anch wenn er die litterarischen Glaubensbekenntnisse
des Jahres 1890 prophetisch vorausgesehen hätte, von dem Wege seiner Ent¬
wicklung nicht ein Haar breit abgewichen wäre. Dafür bürgt mehr als manches
höherstehende Werk des Dichters diese Sammlung poetischer Reste und ver¬
mischter Aufsätze. Gerade in ihnen offenbart sich, auf wie kräftig edeln und
gerade emporsteigenden Wuchs, trotz ein und des andern Knorrens, der Stamm
von Kellers Natur angelegt war, wie er gnr nicht anders konnte, als diese
Natur und ihren innersten Trieb der kleinsten und zufälligsten Aufgabe wie
der größten durch Jahre getragnen Absicht gegenüber zu bethätigen.

Jnkob Bächtold, der Herausgeber, ist im Vorwort der Meinung, daß
„die getroffne Auslese den Ruf Kellers in keiner Weise beeinträchtigen" werde.
Gewiß nicht! Allerdings kann sie die Geltung des Dichters uur in dem Sinne
erhöhen, daß man sich nach dem Bruchstück des Trauerspiels „Therese" fragen
muß, ob Keller vou Haus aus so unbedingt in das lyrische und epische Ge¬
biet gebannt gewesen sei, wie es nach seinen Hauptwerken den Anschein hatte.
Sie wird aber die Teilnahme für die ganze Erscheinung des Dichters steigern
und die Genugthuung vermehren helfen, daß man ihm noch zur rechten Zeit
leidlich gerecht geworden ist und es nicht erst jetzt zu werden braucht.


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[0055] Gottfried Kellers Nachlaßschriften verlästerten Paul Hesse: „Diese schöne künstlerische Persönlichkeit gehört nämlich zu den Erscheinungen, welche der schnöden Routine die größte Un¬ bequemlichkeit verursachen, und von denen sich die weihelosen Konversations¬ schriftsteller und die Unkräuter aller Art abwende», wie die Hunde von einem Glas Wein. An den ersten Wortreihen, welche ein solches Talent hören läßt, erkennen sie die ihnen fremde Mundart des Schönen, den Wohlklnng der wirk¬ lichen Poesie; und sofort wird nach einem Schlag- oder Scheltwort ausgeschaut, mit welchem das Verhaßte zu verpönen, zu isoliren versucht wird. Akademisch! Welch lustige Auskunft! Traurig genug, daß die einfache Korrektheit des Stils einer sprachlichen Wüstenei gegenüber wirklich akademisch genannt werden muß." Ob sich Gottfried Keller, als er diese Zeilen schrieb, wohl träumen ließ, daß er selbst, der naturwüchsige, kerufrische, tief eigentümliche, freilich aber auch feinsinnige und künstlerisch gestimmte Dichter, noch vor seinem Lebensende für einen „akademischen" Dichter erklärt werden würde? Er wußte freilich schon damals und sein ganzes Leben lang, daß „ohne innere und äußere Ach¬ tung nichts Klassisches gedeiht," und blieb den Grundsätzen einer sorgfältigen und möglichst vollendeten Ausführung dessen, was seine Phantasie schaute, allezeit getreu, aber er ahnte schwerlich, daß die Unkräuter eines schönen Tages so überwuchern würden, um mit einigem Erfolg behaupten zu können, daß nur Belladonneu und Vrenunesseln unmittelbar wüchsen, während schattige Bänme, zierliche Fnrren und vollends Rosen und Veilchen konventionell, traditionell von der entarteten Natur hervorgebracht würden. Doch dürfen wir sicher sein, daß der Dichter der „Leute von Seldwyla," der „Sieben Legenden" und der „Züricher Novellen," anch wenn er die litterarischen Glaubensbekenntnisse des Jahres 1890 prophetisch vorausgesehen hätte, von dem Wege seiner Ent¬ wicklung nicht ein Haar breit abgewichen wäre. Dafür bürgt mehr als manches höherstehende Werk des Dichters diese Sammlung poetischer Reste und ver¬ mischter Aufsätze. Gerade in ihnen offenbart sich, auf wie kräftig edeln und gerade emporsteigenden Wuchs, trotz ein und des andern Knorrens, der Stamm von Kellers Natur angelegt war, wie er gnr nicht anders konnte, als diese Natur und ihren innersten Trieb der kleinsten und zufälligsten Aufgabe wie der größten durch Jahre getragnen Absicht gegenüber zu bethätigen. Jnkob Bächtold, der Herausgeber, ist im Vorwort der Meinung, daß „die getroffne Auslese den Ruf Kellers in keiner Weise beeinträchtigen" werde. Gewiß nicht! Allerdings kann sie die Geltung des Dichters uur in dem Sinne erhöhen, daß man sich nach dem Bruchstück des Trauerspiels „Therese" fragen muß, ob Keller vou Haus aus so unbedingt in das lyrische und epische Ge¬ biet gebannt gewesen sei, wie es nach seinen Hauptwerken den Anschein hatte. Sie wird aber die Teilnahme für die ganze Erscheinung des Dichters steigern und die Genugthuung vermehren helfen, daß man ihm noch zur rechten Zeit leidlich gerecht geworden ist und es nicht erst jetzt zu werden braucht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/55>, abgerufen am 13.05.2024.