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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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^veltseele und allermodernste Ethik

Stimme des Bluts. Als Naturkraft drängt sie auf Befriedigung hin trotz
der Welt und auf Kosten der Welt. Wer also aus der Individualität den
höchsten sittlichen Grundsatz herleiten will, kann zu keinem andern Schlüsse
kommen, als zu dem: Laß das Naturell, das Blut gewähren; befriedige deine
Neigungen und Triebe nach der dir angebornen Eigenart! Wer aber diesem
Satze folgt, kann wohl zeitweise Befriedigung verspüren, muß aber mit äußerm
und innerm Bankerott enden. Das ist ja das Tragische im Menschenleben.
Will der einzelne sich "ausleben," so wie es seine Eigenart fordert, ruft er
den Widerstand der äußern Welt hervor und beschwört Gefahren für sich
herauf, die seinen Untergang herbeiführen können. Wer z. B. rücksichtslos
seinem angebornen Erwerbstriebe folgt und sich dabei leicht über sittliche Be¬
denken hinwegsetzt, darf sich nicht wundern, wenn er einen Sturm gegen sich
entfesselt, der ihn hinwegschwemmt. Die Berufung auf seine Eigenart, die
nun einmal so und nicht anders sei, wird nicht anerkannt und kaun nicht an¬
erkannt werden, denn dem Menschen ist außer dem Blut auch das Urteil ge¬
geben. Beide streiten oft wider einander, aber die Entscheidung ist in die Hand
des Menschen gegeben. Er hat zu wählen zwischen Naturell und Pflicht,
zwischen Leidenschaft und Vernunft.

Die allermodernste Ethik ist aber so verblendet, daß sie das Absolute in
der Moral, das ästhetische Urteil, verachtet, das sich doch mit gleicher Kraft
ünßert wie die Stimme des Bluts, das sich schon im Paradies ankündigte in
der Scham und der Furcht vor dem Herrn. Wollte" die Menschen nur das
Urteil hören und auf seine Stimme mehr achten als ans den Drang des
Bluts, dann wurden die Phrasen vom "Ausleben der Individualität" nicht
die Köpfe so verwirre" und die Herzen beirren.

Dabei giebt man sich lächerlicherweise der Hvffmmg hin, daß bald ein
Reformator der Moral erscheinen werde mit eine"! neuen Moralkodex. Da""
sollen wir erfahren, wie wir unser "e"es Leben einzurichten haben. Wären
wir wirklich so weit, daß wir das altehrwürdige Sittengesetz der zehn Gebote
in die Rumpelkammer werfen müßte"? Und wie steht es bei der neuen Moral
mit dem "Ausleben der Individualität," da sie doch auch als ein von außen
her gebietendes auftritt, gerade so wie ein Massenrezept aus dem Dunstkreis
der großen moralischen Apotheke?

Eine sonderbare Begriffsverwirrung macht sich hier geltend. Weil um"
Sitte und Sittlichkeit begrifflich nicht auseinanderzuhalten vermag, redet
man von steter Erneuerung der Ethik im Zusammenhang mit der Änderung
der Lebensanschauung. Die Sitten wechseln, das Sittliche nicht. Dieses besteht in
bestimmten, n"wa"delbaren ethischen Ideen, die in jeder Menschenbrust wohnen
und wirken, allerdings in verschiedne" Klarheitsgraden, da die theoretische Ein¬
sicht oft "icht weit genug vorgeschritten ist, die Willeusverhältnisse klar
zu betrachten, über die das sittliche Urteil ergeht. Der Individualität ist


^veltseele und allermodernste Ethik

Stimme des Bluts. Als Naturkraft drängt sie auf Befriedigung hin trotz
der Welt und auf Kosten der Welt. Wer also aus der Individualität den
höchsten sittlichen Grundsatz herleiten will, kann zu keinem andern Schlüsse
kommen, als zu dem: Laß das Naturell, das Blut gewähren; befriedige deine
Neigungen und Triebe nach der dir angebornen Eigenart! Wer aber diesem
Satze folgt, kann wohl zeitweise Befriedigung verspüren, muß aber mit äußerm
und innerm Bankerott enden. Das ist ja das Tragische im Menschenleben.
Will der einzelne sich „ausleben," so wie es seine Eigenart fordert, ruft er
den Widerstand der äußern Welt hervor und beschwört Gefahren für sich
herauf, die seinen Untergang herbeiführen können. Wer z. B. rücksichtslos
seinem angebornen Erwerbstriebe folgt und sich dabei leicht über sittliche Be¬
denken hinwegsetzt, darf sich nicht wundern, wenn er einen Sturm gegen sich
entfesselt, der ihn hinwegschwemmt. Die Berufung auf seine Eigenart, die
nun einmal so und nicht anders sei, wird nicht anerkannt und kaun nicht an¬
erkannt werden, denn dem Menschen ist außer dem Blut auch das Urteil ge¬
geben. Beide streiten oft wider einander, aber die Entscheidung ist in die Hand
des Menschen gegeben. Er hat zu wählen zwischen Naturell und Pflicht,
zwischen Leidenschaft und Vernunft.

Die allermodernste Ethik ist aber so verblendet, daß sie das Absolute in
der Moral, das ästhetische Urteil, verachtet, das sich doch mit gleicher Kraft
ünßert wie die Stimme des Bluts, das sich schon im Paradies ankündigte in
der Scham und der Furcht vor dem Herrn. Wollte» die Menschen nur das
Urteil hören und auf seine Stimme mehr achten als ans den Drang des
Bluts, dann wurden die Phrasen vom „Ausleben der Individualität" nicht
die Köpfe so verwirre» und die Herzen beirren.

Dabei giebt man sich lächerlicherweise der Hvffmmg hin, daß bald ein
Reformator der Moral erscheinen werde mit eine»! neuen Moralkodex. Da»»
sollen wir erfahren, wie wir unser »e»es Leben einzurichten haben. Wären
wir wirklich so weit, daß wir das altehrwürdige Sittengesetz der zehn Gebote
in die Rumpelkammer werfen müßte»? Und wie steht es bei der neuen Moral
mit dem „Ausleben der Individualität," da sie doch auch als ein von außen
her gebietendes auftritt, gerade so wie ein Massenrezept aus dem Dunstkreis
der großen moralischen Apotheke?

Eine sonderbare Begriffsverwirrung macht sich hier geltend. Weil um»
Sitte und Sittlichkeit begrifflich nicht auseinanderzuhalten vermag, redet
man von steter Erneuerung der Ethik im Zusammenhang mit der Änderung
der Lebensanschauung. Die Sitten wechseln, das Sittliche nicht. Dieses besteht in
bestimmten, n»wa»delbaren ethischen Ideen, die in jeder Menschenbrust wohnen
und wirken, allerdings in verschiedne» Klarheitsgraden, da die theoretische Ein¬
sicht oft »icht weit genug vorgeschritten ist, die Willeusverhältnisse klar
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[0071] ^veltseele und allermodernste Ethik Stimme des Bluts. Als Naturkraft drängt sie auf Befriedigung hin trotz der Welt und auf Kosten der Welt. Wer also aus der Individualität den höchsten sittlichen Grundsatz herleiten will, kann zu keinem andern Schlüsse kommen, als zu dem: Laß das Naturell, das Blut gewähren; befriedige deine Neigungen und Triebe nach der dir angebornen Eigenart! Wer aber diesem Satze folgt, kann wohl zeitweise Befriedigung verspüren, muß aber mit äußerm und innerm Bankerott enden. Das ist ja das Tragische im Menschenleben. Will der einzelne sich „ausleben," so wie es seine Eigenart fordert, ruft er den Widerstand der äußern Welt hervor und beschwört Gefahren für sich herauf, die seinen Untergang herbeiführen können. Wer z. B. rücksichtslos seinem angebornen Erwerbstriebe folgt und sich dabei leicht über sittliche Be¬ denken hinwegsetzt, darf sich nicht wundern, wenn er einen Sturm gegen sich entfesselt, der ihn hinwegschwemmt. Die Berufung auf seine Eigenart, die nun einmal so und nicht anders sei, wird nicht anerkannt und kaun nicht an¬ erkannt werden, denn dem Menschen ist außer dem Blut auch das Urteil ge¬ geben. Beide streiten oft wider einander, aber die Entscheidung ist in die Hand des Menschen gegeben. Er hat zu wählen zwischen Naturell und Pflicht, zwischen Leidenschaft und Vernunft. Die allermodernste Ethik ist aber so verblendet, daß sie das Absolute in der Moral, das ästhetische Urteil, verachtet, das sich doch mit gleicher Kraft ünßert wie die Stimme des Bluts, das sich schon im Paradies ankündigte in der Scham und der Furcht vor dem Herrn. Wollte» die Menschen nur das Urteil hören und auf seine Stimme mehr achten als ans den Drang des Bluts, dann wurden die Phrasen vom „Ausleben der Individualität" nicht die Köpfe so verwirre» und die Herzen beirren. Dabei giebt man sich lächerlicherweise der Hvffmmg hin, daß bald ein Reformator der Moral erscheinen werde mit eine»! neuen Moralkodex. Da»» sollen wir erfahren, wie wir unser »e»es Leben einzurichten haben. Wären wir wirklich so weit, daß wir das altehrwürdige Sittengesetz der zehn Gebote in die Rumpelkammer werfen müßte»? Und wie steht es bei der neuen Moral mit dem „Ausleben der Individualität," da sie doch auch als ein von außen her gebietendes auftritt, gerade so wie ein Massenrezept aus dem Dunstkreis der großen moralischen Apotheke? Eine sonderbare Begriffsverwirrung macht sich hier geltend. Weil um» Sitte und Sittlichkeit begrifflich nicht auseinanderzuhalten vermag, redet man von steter Erneuerung der Ethik im Zusammenhang mit der Änderung der Lebensanschauung. Die Sitten wechseln, das Sittliche nicht. Dieses besteht in bestimmten, n»wa»delbaren ethischen Ideen, die in jeder Menschenbrust wohnen und wirken, allerdings in verschiedne» Klarheitsgraden, da die theoretische Ein¬ sicht oft »icht weit genug vorgeschritten ist, die Willeusverhältnisse klar zu betrachten, über die das sittliche Urteil ergeht. Der Individualität ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/71>, abgerufen am 13.05.2024.