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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Weltseele und allerinoderuste Ethik

es lüge kein Grund vor, an sie zu glauben, die auf der Stufenleiter des Be¬
wußten die unterste Stelle einnimmt. Viel folgerichtiger wäre das Dogma:
Glaube an die Menschenseele!

Damit waren wir denn glücklich bei der Vergötterung des eignen Ich an¬
gelangt, einer Lehre, die dem modernen Empfinden so zuzusagen scheint, daß
man sich nicht scheut, die Individualität, wie sie leibt und lebt, auf ein
Postament zu setzen, voller Ehrfurcht davor zu knieen und sie anzubeten.
Wird doch alles Ernstes nnter den Allermoderuften das Schlngwvrt ver¬
breitet: "In dem Ausleben der Individualität besteht aller Kulturfort-
schritt." Es fragt sich mir, was man unter dem "Ausleben" versteht. Ju
Künstlerkreisen, scheint es, bedeutet es einfach ein Sichhinwegsetzen über alle
moralischen Forderungen. Sich nach allgemeinen sittlichen Grundsätzen richten
bedeutet nach dieser Meinung eine fade Einförmigkeit des menschlichen
Handelns. Das sei aber der Tod des Genies, das an keinerlei Schranken
gebunden sein dürfe, das sich "ausleben" müsse. Richtiger wäre der Ausdruck
austoben. Das tragische Schicksal des hochbegabte" Stauffer von Bern dürfte
das erschütterndste Beispiel in unsrer Zeit dafür sein, wohin eine derartige
Auffassung führt. Wir würden nicht davon reden, wenn nicht eine aller-
mvdernste Ethik als Ziel hinstellte, den Kantischen Satz: "Handle so, daß die
Grundsätze deines Handelns für alle Menschen gelten können" zu verwandeln
in den Imperativ: "Handle so, wie nach deiner besondern Individualität
nur gerade du handeln kannst." Der Kantische Satz soll der Tod alles in¬
dividuellen Lebens sein; der neue Satz scheint aber doch der Tod alles
Lebens überhaupt zu sein. Wenn das sittliche Gut, das die Menschheit er¬
worben hat, als ein altes Kulturüberbleibsel hingestellt und die allgemein
menschliche Sittenlehre als eine Summe von Gemeinplätzen betrachtet wird,
als Fetzen, die ans allen mögliche" sittlichen Anschauungen zusammengeholt
sind, wenn sich jeder einzelne nach seiner Auffassung von Natur und Men¬
schenleben seine Ethik znreclMachen darf, so ist wohl die Frage berechtigt,
wie man bei dieser Anschauung soll einer schrankenlosen Anarchie entgehen
und das gesellschaftliche Zusammenleben überhaupt retten können. Wir haben
gegen eine solche subjektivistische Ethik nichts einzuwenden, solange der einzelne
vereinzelt bleibt, wie Robinson auf seiner Insel. Da mag er sich "ausleben,"
wie er es für gut hält. Wenn er aber mit andern zusammen leben und
arbeiten will, dann muß er Moralgesetze anerkennen, die seiner Individualität
allerdings Schranken auferlegen, aber freigewählte und selbstgewollte. Das
geschieht nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit, sondern aus den Forderungen
der innern Freiheit, die dahin zielen, die Übereinstimmung unsers Wollens
mit dem Sittengesetz in uns zu vollziehen.

Es ist keine neue Weisheit, daß das Individuelle im Menschen, das,
was seine Persönlichkeit ausmacht, das Naturell ist. Mächtig spricht die


Weltseele und allerinoderuste Ethik

es lüge kein Grund vor, an sie zu glauben, die auf der Stufenleiter des Be¬
wußten die unterste Stelle einnimmt. Viel folgerichtiger wäre das Dogma:
Glaube an die Menschenseele!

Damit waren wir denn glücklich bei der Vergötterung des eignen Ich an¬
gelangt, einer Lehre, die dem modernen Empfinden so zuzusagen scheint, daß
man sich nicht scheut, die Individualität, wie sie leibt und lebt, auf ein
Postament zu setzen, voller Ehrfurcht davor zu knieen und sie anzubeten.
Wird doch alles Ernstes nnter den Allermoderuften das Schlngwvrt ver¬
breitet: „In dem Ausleben der Individualität besteht aller Kulturfort-
schritt." Es fragt sich mir, was man unter dem „Ausleben" versteht. Ju
Künstlerkreisen, scheint es, bedeutet es einfach ein Sichhinwegsetzen über alle
moralischen Forderungen. Sich nach allgemeinen sittlichen Grundsätzen richten
bedeutet nach dieser Meinung eine fade Einförmigkeit des menschlichen
Handelns. Das sei aber der Tod des Genies, das an keinerlei Schranken
gebunden sein dürfe, das sich „ausleben" müsse. Richtiger wäre der Ausdruck
austoben. Das tragische Schicksal des hochbegabte» Stauffer von Bern dürfte
das erschütterndste Beispiel in unsrer Zeit dafür sein, wohin eine derartige
Auffassung führt. Wir würden nicht davon reden, wenn nicht eine aller-
mvdernste Ethik als Ziel hinstellte, den Kantischen Satz: „Handle so, daß die
Grundsätze deines Handelns für alle Menschen gelten können" zu verwandeln
in den Imperativ: „Handle so, wie nach deiner besondern Individualität
nur gerade du handeln kannst." Der Kantische Satz soll der Tod alles in¬
dividuellen Lebens sein; der neue Satz scheint aber doch der Tod alles
Lebens überhaupt zu sein. Wenn das sittliche Gut, das die Menschheit er¬
worben hat, als ein altes Kulturüberbleibsel hingestellt und die allgemein
menschliche Sittenlehre als eine Summe von Gemeinplätzen betrachtet wird,
als Fetzen, die ans allen mögliche» sittlichen Anschauungen zusammengeholt
sind, wenn sich jeder einzelne nach seiner Auffassung von Natur und Men¬
schenleben seine Ethik znreclMachen darf, so ist wohl die Frage berechtigt,
wie man bei dieser Anschauung soll einer schrankenlosen Anarchie entgehen
und das gesellschaftliche Zusammenleben überhaupt retten können. Wir haben
gegen eine solche subjektivistische Ethik nichts einzuwenden, solange der einzelne
vereinzelt bleibt, wie Robinson auf seiner Insel. Da mag er sich „ausleben,"
wie er es für gut hält. Wenn er aber mit andern zusammen leben und
arbeiten will, dann muß er Moralgesetze anerkennen, die seiner Individualität
allerdings Schranken auferlegen, aber freigewählte und selbstgewollte. Das
geschieht nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit, sondern aus den Forderungen
der innern Freiheit, die dahin zielen, die Übereinstimmung unsers Wollens
mit dem Sittengesetz in uns zu vollziehen.

Es ist keine neue Weisheit, daß das Individuelle im Menschen, das,
was seine Persönlichkeit ausmacht, das Naturell ist. Mächtig spricht die


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[0070] Weltseele und allerinoderuste Ethik es lüge kein Grund vor, an sie zu glauben, die auf der Stufenleiter des Be¬ wußten die unterste Stelle einnimmt. Viel folgerichtiger wäre das Dogma: Glaube an die Menschenseele! Damit waren wir denn glücklich bei der Vergötterung des eignen Ich an¬ gelangt, einer Lehre, die dem modernen Empfinden so zuzusagen scheint, daß man sich nicht scheut, die Individualität, wie sie leibt und lebt, auf ein Postament zu setzen, voller Ehrfurcht davor zu knieen und sie anzubeten. Wird doch alles Ernstes nnter den Allermoderuften das Schlngwvrt ver¬ breitet: „In dem Ausleben der Individualität besteht aller Kulturfort- schritt." Es fragt sich mir, was man unter dem „Ausleben" versteht. Ju Künstlerkreisen, scheint es, bedeutet es einfach ein Sichhinwegsetzen über alle moralischen Forderungen. Sich nach allgemeinen sittlichen Grundsätzen richten bedeutet nach dieser Meinung eine fade Einförmigkeit des menschlichen Handelns. Das sei aber der Tod des Genies, das an keinerlei Schranken gebunden sein dürfe, das sich „ausleben" müsse. Richtiger wäre der Ausdruck austoben. Das tragische Schicksal des hochbegabte» Stauffer von Bern dürfte das erschütterndste Beispiel in unsrer Zeit dafür sein, wohin eine derartige Auffassung führt. Wir würden nicht davon reden, wenn nicht eine aller- mvdernste Ethik als Ziel hinstellte, den Kantischen Satz: „Handle so, daß die Grundsätze deines Handelns für alle Menschen gelten können" zu verwandeln in den Imperativ: „Handle so, wie nach deiner besondern Individualität nur gerade du handeln kannst." Der Kantische Satz soll der Tod alles in¬ dividuellen Lebens sein; der neue Satz scheint aber doch der Tod alles Lebens überhaupt zu sein. Wenn das sittliche Gut, das die Menschheit er¬ worben hat, als ein altes Kulturüberbleibsel hingestellt und die allgemein menschliche Sittenlehre als eine Summe von Gemeinplätzen betrachtet wird, als Fetzen, die ans allen mögliche» sittlichen Anschauungen zusammengeholt sind, wenn sich jeder einzelne nach seiner Auffassung von Natur und Men¬ schenleben seine Ethik znreclMachen darf, so ist wohl die Frage berechtigt, wie man bei dieser Anschauung soll einer schrankenlosen Anarchie entgehen und das gesellschaftliche Zusammenleben überhaupt retten können. Wir haben gegen eine solche subjektivistische Ethik nichts einzuwenden, solange der einzelne vereinzelt bleibt, wie Robinson auf seiner Insel. Da mag er sich „ausleben," wie er es für gut hält. Wenn er aber mit andern zusammen leben und arbeiten will, dann muß er Moralgesetze anerkennen, die seiner Individualität allerdings Schranken auferlegen, aber freigewählte und selbstgewollte. Das geschieht nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit, sondern aus den Forderungen der innern Freiheit, die dahin zielen, die Übereinstimmung unsers Wollens mit dem Sittengesetz in uns zu vollziehen. Es ist keine neue Weisheit, daß das Individuelle im Menschen, das, was seine Persönlichkeit ausmacht, das Naturell ist. Mächtig spricht die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/70>, abgerufen am 06.06.2024.