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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Positionen hätten schaffen können. Jetzt, wo Aufgaben ihre Lösung fordern,
von denen frühere Jahrhunderte nichts wußten, ist die Unmöglichkeit einer
solchen Doppelthätigkeit klar geworden, und je reinlicher sich die Gebiete von
einander scheiden, desto besser wird es für ihre Pflege sein, hüben wie drüben.
Was der Mustkgelehrte von der Kunst nötig hat, ist Einsicht in ihre Technik
und die Gabe künstlerischer Nachempfindung. Durch praktische Übungen muß
die eine erworben, die andre entwickelt und verfeinert werden. Aber sie sollen
nicht dem Können dienen, sondern Mittel zum Wissen werden, und dieses
Ziel setzt ihnen Grenze und Maß. Dagegen wird sich der Musikgelehrte auf
historisch-philologischen, niathcmatisch-physikalischem, physiologisch-psycholo-
schem Gebiete keinen Anforderungen entziehen dürfen, die die moderne Wissen¬
schaft an jeden ihrer Jünger stellt.

Vor zehn Jahren habe ich einmal in diesen Blattern, gelegentlich eines
kritischen Versuchs über C. F. Pohls Haydnbiographie. auf verschiedne Um¬
stände hingewiesen, die der Entwicklung der Musikwissenschaft bis dahin im
Wege gestanden hatten.*) Wer selbst mitten in einer Bewegung steht, kann
über ihre Richtung und Stärke kaum ein unbefangnes Urteil haben. Dennoch
täusche ich mich wohl nicht, wenn ich annehme, daß seitdem manches anders
geworden ist. Eine größere Anzahl jüngerer Männer hat sich an die Arbeit
gemacht, geleitet von der Überzeugung, daß die Musikwissenschaft als eine
selbständige Disziplin zu betrachten sei, die nicht mehr als Liebhaberei
nebenher getrieben werden könne, sondern ihrer eignen, mit Ernst und Aus¬
schließlichkeit zu besorgenden Pflege bedürfe. In weitere Kreise verbreitet sich
die Einsicht, daß, wie das Objekt der Musikwissenschaft ein besondres ist. so
auch sie selbst eine besondre Methode und eigentümliche Arbeitsmittel besitzt,
und um diese richtig anzuwenden auch eine eigne Schulung voraussetzt, die
so von keiner andern Disziplin geleistet werden kann. Ein planmäßiges, ein¬
heitlicheres Vorgehen läßt sich, scheint mir, nicht verkennen. Ich habe hier
vor allem die geschichtlichen Bestrebungen im Auge. Die wichtigste Frage sür den
Historiker sind die Quellen und deren Beschaffenheit. Schriftliche Überlieferungen
von wichtigen Ereignissen und Zuständen, Kunstregeln und Lehrsystemen sind
Quellen, wie sie in gleicher oder ähnlicher Art auch andern Wissenschaften
dienen. Der Musikgeschichte allem eigentümlich sind die Musikinstrumente und
die in Tonzeichen fixirt hinterlassenen Kompositionen vergangner Zeiten. Daß
sich auch aus jenen eine Fülle wissenschaftlicher Erkenntnis gewinnen läßt,
wird durch die auf Sammlung alter Instrumente gerichteten Bestrebungen mit
jedem Jahre klarer. Die Hauptquellen aber sind und bleiben die Kunstwerke
selbst; daß hierüber jetzt völlige Klarheit herrscht, daß man die Kunstwerke als
Urkunden auffaßt und mit allen Mitteln bestrebt sein will, sie ohne Rücksicht



*) Die Abhandlung ist neu gedruckt in meinen sechzehn Aufsätzen "Zur Musik."
BerUu, 1392.
Grenzboten II 1893

Positionen hätten schaffen können. Jetzt, wo Aufgaben ihre Lösung fordern,
von denen frühere Jahrhunderte nichts wußten, ist die Unmöglichkeit einer
solchen Doppelthätigkeit klar geworden, und je reinlicher sich die Gebiete von
einander scheiden, desto besser wird es für ihre Pflege sein, hüben wie drüben.
Was der Mustkgelehrte von der Kunst nötig hat, ist Einsicht in ihre Technik
und die Gabe künstlerischer Nachempfindung. Durch praktische Übungen muß
die eine erworben, die andre entwickelt und verfeinert werden. Aber sie sollen
nicht dem Können dienen, sondern Mittel zum Wissen werden, und dieses
Ziel setzt ihnen Grenze und Maß. Dagegen wird sich der Musikgelehrte auf
historisch-philologischen, niathcmatisch-physikalischem, physiologisch-psycholo-
schem Gebiete keinen Anforderungen entziehen dürfen, die die moderne Wissen¬
schaft an jeden ihrer Jünger stellt.

Vor zehn Jahren habe ich einmal in diesen Blattern, gelegentlich eines
kritischen Versuchs über C. F. Pohls Haydnbiographie. auf verschiedne Um¬
stände hingewiesen, die der Entwicklung der Musikwissenschaft bis dahin im
Wege gestanden hatten.*) Wer selbst mitten in einer Bewegung steht, kann
über ihre Richtung und Stärke kaum ein unbefangnes Urteil haben. Dennoch
täusche ich mich wohl nicht, wenn ich annehme, daß seitdem manches anders
geworden ist. Eine größere Anzahl jüngerer Männer hat sich an die Arbeit
gemacht, geleitet von der Überzeugung, daß die Musikwissenschaft als eine
selbständige Disziplin zu betrachten sei, die nicht mehr als Liebhaberei
nebenher getrieben werden könne, sondern ihrer eignen, mit Ernst und Aus¬
schließlichkeit zu besorgenden Pflege bedürfe. In weitere Kreise verbreitet sich
die Einsicht, daß, wie das Objekt der Musikwissenschaft ein besondres ist. so
auch sie selbst eine besondre Methode und eigentümliche Arbeitsmittel besitzt,
und um diese richtig anzuwenden auch eine eigne Schulung voraussetzt, die
so von keiner andern Disziplin geleistet werden kann. Ein planmäßiges, ein¬
heitlicheres Vorgehen läßt sich, scheint mir, nicht verkennen. Ich habe hier
vor allem die geschichtlichen Bestrebungen im Auge. Die wichtigste Frage sür den
Historiker sind die Quellen und deren Beschaffenheit. Schriftliche Überlieferungen
von wichtigen Ereignissen und Zuständen, Kunstregeln und Lehrsystemen sind
Quellen, wie sie in gleicher oder ähnlicher Art auch andern Wissenschaften
dienen. Der Musikgeschichte allem eigentümlich sind die Musikinstrumente und
die in Tonzeichen fixirt hinterlassenen Kompositionen vergangner Zeiten. Daß
sich auch aus jenen eine Fülle wissenschaftlicher Erkenntnis gewinnen läßt,
wird durch die auf Sammlung alter Instrumente gerichteten Bestrebungen mit
jedem Jahre klarer. Die Hauptquellen aber sind und bleiben die Kunstwerke
selbst; daß hierüber jetzt völlige Klarheit herrscht, daß man die Kunstwerke als
Urkunden auffaßt und mit allen Mitteln bestrebt sein will, sie ohne Rücksicht



*) Die Abhandlung ist neu gedruckt in meinen sechzehn Aufsätzen „Zur Musik."
BerUu, 1392.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/33>, abgerufen am 17.06.2024.