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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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breit als "Herberge der Gerechtigkeit" berühmt ward, als eine Freistatt für
die um des Glaubens und Gewissens willen verfolgten aus aller Herren
Ländern. Und wie jede Wohlthat ihren Lohn findet, so verdankte diese alte,
nachher durch Unverstand und Gleichgültigkeit so schmählich vernachlässigte,
dnrch Engherzigkeit und Thorheit bös an die Wand gedrückte, um ihren schönen,
herrlichen Seehafen betrogue, in ihrem Handel traurig lahm gelegte Stadt
damals den beherbergten Fremden einen gewaltigen Aufschwung. Es waren
ja überall nicht die schlechtesten, die um ihres Glaubens willen fliehen mußten.
Wo sie hinkamen, da brachten sie Segen mit. Ein Mann wie der Pole
Johannes a Laseo, der Reformator Ostfrieslands, genoß die ostfriesische Gast¬
freundschaft nicht sowohl empfangend als vielmehr gebend und königlich lohnend.

Was nun gar die Schule, besonders die Volksschule betrifft, so steht Ost¬
friesland an der Spitze aller deutschen Stämme und ist ganz Europa mit
gutem Beispiel vorangegangen. Hier ward zuerst Ernst gemacht mit der all¬
gemeinen Schulpflicht, und sie blieb nicht bloß auf dem Papier stehen, sondern
wurde energisch gehandhabt. Auch hier haben sich die "Brüder vom gemein¬
samen Leben," die sich mitten in der Welt ohne Mönchsgelübde und klöster¬
liche Abgeschiedenheit der Laster und der Roheit ihrer Zeit erwehrten, ein
großes, unbestreitbares Verdienst erworben. Für höhere Schulen sorgte der
Staat im eignen Interesse von selbst, weil er Beamte brauchte. Sie aber
regten ihn an, auch für niedere Schulen zu sorgen, und so haben sie den
Boden bereitet, in dem der Volksschnlgedcmke Luthers rasch und kräftig Wurzel
schlagen konnte. Schon eine "Ordincmz" des Grafen Enno II. vom Jahre
1529 redet von "dnitschc Schoten beide vor de knechten und megede," ja selbst
von Dörfern, "dar to voren ein schole inne gewest." Dieselbe Ordincmz ver-
vcrfügt: "Dat vordan ein idermann seine Kinder to schole fette, beide in unser
steten und dörfen, darmede de jöget (Jugend) so jammerlick nicht verdorvcn
werde." Als Lehrer sollen keine "snpers" (Säufer), noch "fus (sonst) lose
luide" angenommen werden. Kein Wunder, daß bei solchen Anfängen das
Schulwesen einen fröhlichen Fortgang nahm, den selbst die Stürme des dreißig¬
jährigen Krieges, die schrecklich und verheerend über das blühende Land einher¬
brausten und es zur Wüste machten, nicht ganz zu hemmen, geschweige denn
auf längere Zeit zu stören vermochten. Es muß daher wohl ein Mißverständnis
obgewaltet haben, als vor einigen Jahren hierzulande ein Hauptmann seine
Reservisten vergeblich nach dem Namen Kaiser Wilhelms II. fragte. Ent¬
weder haben die Reservisten den Hauptmann, oder der Hanptmnnn hat die
Reservisten mißverstanden. Vielleicht war er auch zufällig an Leute aus einer
Moorkolonie geraten. Aber das sind keine Friesen, sondern fahrende Leute,
von irgendwoher zugewandert und im Torfmoor angesiedelt. Die erkennt der
Ostfriese nicht für voll an, ja er hat sie auf dem Strich und hängt ihnen gern
etwas an. So sagen ihnen die Eingebornen nach, daß, wenn ein junges


Grenzvoten II 1893 58
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breit als „Herberge der Gerechtigkeit" berühmt ward, als eine Freistatt für
die um des Glaubens und Gewissens willen verfolgten aus aller Herren
Ländern. Und wie jede Wohlthat ihren Lohn findet, so verdankte diese alte,
nachher durch Unverstand und Gleichgültigkeit so schmählich vernachlässigte,
dnrch Engherzigkeit und Thorheit bös an die Wand gedrückte, um ihren schönen,
herrlichen Seehafen betrogue, in ihrem Handel traurig lahm gelegte Stadt
damals den beherbergten Fremden einen gewaltigen Aufschwung. Es waren
ja überall nicht die schlechtesten, die um ihres Glaubens willen fliehen mußten.
Wo sie hinkamen, da brachten sie Segen mit. Ein Mann wie der Pole
Johannes a Laseo, der Reformator Ostfrieslands, genoß die ostfriesische Gast¬
freundschaft nicht sowohl empfangend als vielmehr gebend und königlich lohnend.

Was nun gar die Schule, besonders die Volksschule betrifft, so steht Ost¬
friesland an der Spitze aller deutschen Stämme und ist ganz Europa mit
gutem Beispiel vorangegangen. Hier ward zuerst Ernst gemacht mit der all¬
gemeinen Schulpflicht, und sie blieb nicht bloß auf dem Papier stehen, sondern
wurde energisch gehandhabt. Auch hier haben sich die „Brüder vom gemein¬
samen Leben," die sich mitten in der Welt ohne Mönchsgelübde und klöster¬
liche Abgeschiedenheit der Laster und der Roheit ihrer Zeit erwehrten, ein
großes, unbestreitbares Verdienst erworben. Für höhere Schulen sorgte der
Staat im eignen Interesse von selbst, weil er Beamte brauchte. Sie aber
regten ihn an, auch für niedere Schulen zu sorgen, und so haben sie den
Boden bereitet, in dem der Volksschnlgedcmke Luthers rasch und kräftig Wurzel
schlagen konnte. Schon eine „Ordincmz" des Grafen Enno II. vom Jahre
1529 redet von „dnitschc Schoten beide vor de knechten und megede," ja selbst
von Dörfern, „dar to voren ein schole inne gewest." Dieselbe Ordincmz ver-
vcrfügt: „Dat vordan ein idermann seine Kinder to schole fette, beide in unser
steten und dörfen, darmede de jöget (Jugend) so jammerlick nicht verdorvcn
werde." Als Lehrer sollen keine „snpers" (Säufer), noch „fus (sonst) lose
luide" angenommen werden. Kein Wunder, daß bei solchen Anfängen das
Schulwesen einen fröhlichen Fortgang nahm, den selbst die Stürme des dreißig¬
jährigen Krieges, die schrecklich und verheerend über das blühende Land einher¬
brausten und es zur Wüste machten, nicht ganz zu hemmen, geschweige denn
auf längere Zeit zu stören vermochten. Es muß daher wohl ein Mißverständnis
obgewaltet haben, als vor einigen Jahren hierzulande ein Hauptmann seine
Reservisten vergeblich nach dem Namen Kaiser Wilhelms II. fragte. Ent¬
weder haben die Reservisten den Hauptmann, oder der Hanptmnnn hat die
Reservisten mißverstanden. Vielleicht war er auch zufällig an Leute aus einer
Moorkolonie geraten. Aber das sind keine Friesen, sondern fahrende Leute,
von irgendwoher zugewandert und im Torfmoor angesiedelt. Die erkennt der
Ostfriese nicht für voll an, ja er hat sie auf dem Strich und hängt ihnen gern
etwas an. So sagen ihnen die Eingebornen nach, daß, wenn ein junges


Grenzvoten II 1893 58
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[0466] Land und Leute in Gstfrieslcmd breit als „Herberge der Gerechtigkeit" berühmt ward, als eine Freistatt für die um des Glaubens und Gewissens willen verfolgten aus aller Herren Ländern. Und wie jede Wohlthat ihren Lohn findet, so verdankte diese alte, nachher durch Unverstand und Gleichgültigkeit so schmählich vernachlässigte, dnrch Engherzigkeit und Thorheit bös an die Wand gedrückte, um ihren schönen, herrlichen Seehafen betrogue, in ihrem Handel traurig lahm gelegte Stadt damals den beherbergten Fremden einen gewaltigen Aufschwung. Es waren ja überall nicht die schlechtesten, die um ihres Glaubens willen fliehen mußten. Wo sie hinkamen, da brachten sie Segen mit. Ein Mann wie der Pole Johannes a Laseo, der Reformator Ostfrieslands, genoß die ostfriesische Gast¬ freundschaft nicht sowohl empfangend als vielmehr gebend und königlich lohnend. Was nun gar die Schule, besonders die Volksschule betrifft, so steht Ost¬ friesland an der Spitze aller deutschen Stämme und ist ganz Europa mit gutem Beispiel vorangegangen. Hier ward zuerst Ernst gemacht mit der all¬ gemeinen Schulpflicht, und sie blieb nicht bloß auf dem Papier stehen, sondern wurde energisch gehandhabt. Auch hier haben sich die „Brüder vom gemein¬ samen Leben," die sich mitten in der Welt ohne Mönchsgelübde und klöster¬ liche Abgeschiedenheit der Laster und der Roheit ihrer Zeit erwehrten, ein großes, unbestreitbares Verdienst erworben. Für höhere Schulen sorgte der Staat im eignen Interesse von selbst, weil er Beamte brauchte. Sie aber regten ihn an, auch für niedere Schulen zu sorgen, und so haben sie den Boden bereitet, in dem der Volksschnlgedcmke Luthers rasch und kräftig Wurzel schlagen konnte. Schon eine „Ordincmz" des Grafen Enno II. vom Jahre 1529 redet von „dnitschc Schoten beide vor de knechten und megede," ja selbst von Dörfern, „dar to voren ein schole inne gewest." Dieselbe Ordincmz ver- vcrfügt: „Dat vordan ein idermann seine Kinder to schole fette, beide in unser steten und dörfen, darmede de jöget (Jugend) so jammerlick nicht verdorvcn werde." Als Lehrer sollen keine „snpers" (Säufer), noch „fus (sonst) lose luide" angenommen werden. Kein Wunder, daß bei solchen Anfängen das Schulwesen einen fröhlichen Fortgang nahm, den selbst die Stürme des dreißig¬ jährigen Krieges, die schrecklich und verheerend über das blühende Land einher¬ brausten und es zur Wüste machten, nicht ganz zu hemmen, geschweige denn auf längere Zeit zu stören vermochten. Es muß daher wohl ein Mißverständnis obgewaltet haben, als vor einigen Jahren hierzulande ein Hauptmann seine Reservisten vergeblich nach dem Namen Kaiser Wilhelms II. fragte. Ent¬ weder haben die Reservisten den Hauptmann, oder der Hanptmnnn hat die Reservisten mißverstanden. Vielleicht war er auch zufällig an Leute aus einer Moorkolonie geraten. Aber das sind keine Friesen, sondern fahrende Leute, von irgendwoher zugewandert und im Torfmoor angesiedelt. Die erkennt der Ostfriese nicht für voll an, ja er hat sie auf dem Strich und hängt ihnen gern etwas an. So sagen ihnen die Eingebornen nach, daß, wenn ein junges Grenzvoten II 1893 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/466>, abgerufen am 10.06.2024.