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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie Paniscus

Paulsen hat, das darf ohne Übertreibung behauptet werden, eine ganze
Reihe bisher streitiger Fragen so ins Reine gebracht, daß nur eigensinnige
Pedanten den Streit noch fortsetzen könnten; so vor allem die Frage nach
dem Begriff der Philosophie. Nachdem er klar gemacht hat, daß sich diese
Wissenschaft weder der Methode noch dem Inhalt nach von den übrigen
Wissenschaften unterscheiden lasse, fährt er fort: "Aber was bleibt dann
für ein Unterschied zwischen der Philosophie nud den übrigen Wissenschaften?
Wenn sie weder durch eine besondre Methode noch durch eine" besondern
Gegenstand von ihnen unterschieden ist, dann müssen sie ja zusammenfallen.
In der That, dies ist meine Ansicht. Philosophie ist von den Wissenschaften
nicht zu trennen, sie ist nichts andres, als der Inbegriff aller wissenschaft¬
lichen Erkenntnis. Alle Wissenschaften sind Glieder eines einheitlichen Systems,
einer univerÄtas K<zi<Zlltig,rmri, deren Gegenstand die gesamte Wirklichkeit ist.
Dieses nie vollendete System, an dem die Jahrtausende bauen, das ist die
Philosophie. Jede Wissenschaft erforscht einen bestimmten Ausschnitt der
Wirklichkeit; indem wir alle diese Erkenntnisse in eins fassen, um eine Ant¬
wort auf die Frage zu geben, was es mit der Wirklichkeit überhaupt auf
sich habe, haben wir Philosophie." Die Frage, wie alsdann heute noch Philo¬
sophie möglich sei, da ja beim Umfange des heutigen Wissens Universalität
nicht mehr möglich ist, beantwortet Paulsen mit der Gegenfrage, ob man des¬
wegen keine Professoren der Geschichte mehr anstellen dürfe, weil kein einzelner
das ganze Gebiet dieser Wissenschaft beherrscht. Der Drang, Sinn und Be¬
deutung der Dinge und ihren innern Zusammenhang zu erkennen, dieser Drang,
der schon das Kind und den gemeinen Manu zu Philosophen macht, berechtigt
um so mehr den Vertreter jeder einzelnen Wissenschaft, sich einen Philosophen
z" nennen. Und wie eine Wissenschaft, die ohne diesen Drang nur als Samm¬
lung von Thatsachen betrieben würde, kaum den Namen Wissenschaft verdienen
würde, so ist anch der kein wahrer Philosoph im höhern Sinne des Wortes,
der nicht wenigstens eine einzelne Wissenschaft betreibt. Von jeder beliebigen
Wissenschaft kann mau zur Erforschung des Zusammenhangs der Dinge im
allgemeinen aufsteigen, und es ist daher-gleichgiltig für den Erfolg, ob der
Manu, der sich zur philosophischen Betrachtung und Bearbeitung des Wissens¬
stoffs erhebt, von der Physik oder von der Astronomie oder von der Physio¬
logie oder von der Psychologie oder von der Geschichte oder von der Botanik
ausgeht.

Damit ist auch schon das Gebiet der Philosophie von dem der Religion
""gegrenzt, oder sollte es wenigstens sein, seitdem Kant zwischen theoretischer
und praktischer Vernunft, zwischen Wissen und Glauben so reinlich geschieden
hat. Es ist nichts neues, was Paulsen über diese brennende Frage sagt; er
spricht nur aus, was alle Gebildeten, denen die Not der Zeit zu Herzen geht,
fühlen, meinen und begehre": daß uns ein Glaube notthut, der die Vernunft


Die Philosophie Paniscus

Paulsen hat, das darf ohne Übertreibung behauptet werden, eine ganze
Reihe bisher streitiger Fragen so ins Reine gebracht, daß nur eigensinnige
Pedanten den Streit noch fortsetzen könnten; so vor allem die Frage nach
dem Begriff der Philosophie. Nachdem er klar gemacht hat, daß sich diese
Wissenschaft weder der Methode noch dem Inhalt nach von den übrigen
Wissenschaften unterscheiden lasse, fährt er fort: „Aber was bleibt dann
für ein Unterschied zwischen der Philosophie nud den übrigen Wissenschaften?
Wenn sie weder durch eine besondre Methode noch durch eine» besondern
Gegenstand von ihnen unterschieden ist, dann müssen sie ja zusammenfallen.
In der That, dies ist meine Ansicht. Philosophie ist von den Wissenschaften
nicht zu trennen, sie ist nichts andres, als der Inbegriff aller wissenschaft¬
lichen Erkenntnis. Alle Wissenschaften sind Glieder eines einheitlichen Systems,
einer univerÄtas K<zi<Zlltig,rmri, deren Gegenstand die gesamte Wirklichkeit ist.
Dieses nie vollendete System, an dem die Jahrtausende bauen, das ist die
Philosophie. Jede Wissenschaft erforscht einen bestimmten Ausschnitt der
Wirklichkeit; indem wir alle diese Erkenntnisse in eins fassen, um eine Ant¬
wort auf die Frage zu geben, was es mit der Wirklichkeit überhaupt auf
sich habe, haben wir Philosophie." Die Frage, wie alsdann heute noch Philo¬
sophie möglich sei, da ja beim Umfange des heutigen Wissens Universalität
nicht mehr möglich ist, beantwortet Paulsen mit der Gegenfrage, ob man des¬
wegen keine Professoren der Geschichte mehr anstellen dürfe, weil kein einzelner
das ganze Gebiet dieser Wissenschaft beherrscht. Der Drang, Sinn und Be¬
deutung der Dinge und ihren innern Zusammenhang zu erkennen, dieser Drang,
der schon das Kind und den gemeinen Manu zu Philosophen macht, berechtigt
um so mehr den Vertreter jeder einzelnen Wissenschaft, sich einen Philosophen
z» nennen. Und wie eine Wissenschaft, die ohne diesen Drang nur als Samm¬
lung von Thatsachen betrieben würde, kaum den Namen Wissenschaft verdienen
würde, so ist anch der kein wahrer Philosoph im höhern Sinne des Wortes,
der nicht wenigstens eine einzelne Wissenschaft betreibt. Von jeder beliebigen
Wissenschaft kann mau zur Erforschung des Zusammenhangs der Dinge im
allgemeinen aufsteigen, und es ist daher-gleichgiltig für den Erfolg, ob der
Manu, der sich zur philosophischen Betrachtung und Bearbeitung des Wissens¬
stoffs erhebt, von der Physik oder von der Astronomie oder von der Physio¬
logie oder von der Psychologie oder von der Geschichte oder von der Botanik
ausgeht.

Damit ist auch schon das Gebiet der Philosophie von dem der Religion
"»gegrenzt, oder sollte es wenigstens sein, seitdem Kant zwischen theoretischer
und praktischer Vernunft, zwischen Wissen und Glauben so reinlich geschieden
hat. Es ist nichts neues, was Paulsen über diese brennende Frage sagt; er
spricht nur aus, was alle Gebildeten, denen die Not der Zeit zu Herzen geht,
fühlen, meinen und begehre»: daß uns ein Glaube notthut, der die Vernunft


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[0019] Die Philosophie Paniscus Paulsen hat, das darf ohne Übertreibung behauptet werden, eine ganze Reihe bisher streitiger Fragen so ins Reine gebracht, daß nur eigensinnige Pedanten den Streit noch fortsetzen könnten; so vor allem die Frage nach dem Begriff der Philosophie. Nachdem er klar gemacht hat, daß sich diese Wissenschaft weder der Methode noch dem Inhalt nach von den übrigen Wissenschaften unterscheiden lasse, fährt er fort: „Aber was bleibt dann für ein Unterschied zwischen der Philosophie nud den übrigen Wissenschaften? Wenn sie weder durch eine besondre Methode noch durch eine» besondern Gegenstand von ihnen unterschieden ist, dann müssen sie ja zusammenfallen. In der That, dies ist meine Ansicht. Philosophie ist von den Wissenschaften nicht zu trennen, sie ist nichts andres, als der Inbegriff aller wissenschaft¬ lichen Erkenntnis. Alle Wissenschaften sind Glieder eines einheitlichen Systems, einer univerÄtas K<zi<Zlltig,rmri, deren Gegenstand die gesamte Wirklichkeit ist. Dieses nie vollendete System, an dem die Jahrtausende bauen, das ist die Philosophie. Jede Wissenschaft erforscht einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit; indem wir alle diese Erkenntnisse in eins fassen, um eine Ant¬ wort auf die Frage zu geben, was es mit der Wirklichkeit überhaupt auf sich habe, haben wir Philosophie." Die Frage, wie alsdann heute noch Philo¬ sophie möglich sei, da ja beim Umfange des heutigen Wissens Universalität nicht mehr möglich ist, beantwortet Paulsen mit der Gegenfrage, ob man des¬ wegen keine Professoren der Geschichte mehr anstellen dürfe, weil kein einzelner das ganze Gebiet dieser Wissenschaft beherrscht. Der Drang, Sinn und Be¬ deutung der Dinge und ihren innern Zusammenhang zu erkennen, dieser Drang, der schon das Kind und den gemeinen Manu zu Philosophen macht, berechtigt um so mehr den Vertreter jeder einzelnen Wissenschaft, sich einen Philosophen z» nennen. Und wie eine Wissenschaft, die ohne diesen Drang nur als Samm¬ lung von Thatsachen betrieben würde, kaum den Namen Wissenschaft verdienen würde, so ist anch der kein wahrer Philosoph im höhern Sinne des Wortes, der nicht wenigstens eine einzelne Wissenschaft betreibt. Von jeder beliebigen Wissenschaft kann mau zur Erforschung des Zusammenhangs der Dinge im allgemeinen aufsteigen, und es ist daher-gleichgiltig für den Erfolg, ob der Manu, der sich zur philosophischen Betrachtung und Bearbeitung des Wissens¬ stoffs erhebt, von der Physik oder von der Astronomie oder von der Physio¬ logie oder von der Psychologie oder von der Geschichte oder von der Botanik ausgeht. Damit ist auch schon das Gebiet der Philosophie von dem der Religion "»gegrenzt, oder sollte es wenigstens sein, seitdem Kant zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, zwischen Wissen und Glauben so reinlich geschieden hat. Es ist nichts neues, was Paulsen über diese brennende Frage sagt; er spricht nur aus, was alle Gebildeten, denen die Not der Zeit zu Herzen geht, fühlen, meinen und begehre»: daß uns ein Glaube notthut, der die Vernunft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/19>, abgerufen am 22.05.2024.