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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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nicht unter das Joch eines Dogmas zwängt, und das; dieser Glaube vou dem
Fortschritte der Wissenschaften nicht das geringste zu fürchten hat, ja daß ihn
die echte Philosophie fordert. Aber er spricht diese Gedanken, die unser
heutiges Geschlecht im tiefsten Innern bewegen' so vielfach ans neue Weise
aus und verbreitet ein so schönes Licht über die Schwierigkeit und ihre Lösung,
daß mau seine Ausführungen mit wahrer Erbauung liest. Sie wollen im Zu¬
sammenhang gelesen werden, darumreißen wir keine einzelne heraus; nur eine
vou den Stellen wollen wir anführen, ans denen klar wird, wie gerade die
reinliche Scheidung der beiden Seiten der Menschenvernunft in der wissen¬
schaftlichen Untersuchung ihren harmonischen Zusammenklang im Leben sichert:

"Mir erscheint der negative Dogmatismus der Wissenschaft ^d. h. die an¬
maßende Behauptung, die Nichtexistenz Gottes sei wissenschaftlich erwiesenj als
das Gegenstück des positiven Dogmatismus der alten theologischen Orthodoxie.
Beide kommen überein in der Auffassung der Religion als einer Summe buch¬
stäblich zu fassender, mit dem Verstand aufzunehmender Lehrsätze, nur daß der
erste nein sagt, wo der zweite ja sagt. Sie kommen überein in dem harten
Intellektualismus, der für Dichtung und Kunst keinen Sinn hat. Sie kommen
oft auch überein in einem harten Moralismns, der für Individualität und
Freiheit des Geistigen keinen Sinn hat, nicht minder in herrschsüchtigen Fana¬
tismus, der von jedermann absolute Unterwerfung unter die eignen Bekenntnis¬
formeln, negative wie positive, fordert. . . . Philosophie ist nicht Religion und
kann nicht an ihre Stelle treten. Sie will nicht ein Glaube sein, sondern ein
Wissen. Dennoch enthält jede Philosophie, sofern sie Philosophie in dem alten
Sinn, Welt- und Lebensanschauung, sein will, auch ein Element des Glaubens
in sich, das die Wissenschaft als solche nicht enthält. Jede Philosophie geht
zuletzt darauf hinaus, Sinn in die Dinge zu bringe" oder vielmehr den Sinn,
der in den Dingen ist, aufzuzeigen. Dieser Sinn ist aber im letzten Grunde
immer eine Sache nicht des Wissens, sondern des Willens und Glaubens.
Was dem Philosophen selber das höchste Gut und letzte Ziel ist, das sieht er
in die Welt als ihr Gut und Ziel hinein und meint es nnn auch durch hinter¬
herkommende Betrachtung als solches darin zu finden. In diesem Sinne ist
das Augustinische Wort: licIoL prasesM rationem eine allgemein menschliche
Wahrheit, ja der eigentliche Schlüssel zum Verständnis der Philosophie."

Paulsen hätte noch das Wort des Anselm von Canterbury beifügen können:
eröäo ut, into11log.in. Er selbst hebt an einer andern Stelle hervor, daß die
Philosophie die Einzelwissenschaften ans sich hervorgetrieben habe; eben der
Glaube an die Vernünftigkeit der Welt und der Drang, diese Vernünftigkeit
im einzelnen nachzuweisen, ist es, was zur Forschung treibt. Friedrich Lange,
der Geschichtschreiber des Materialismus, hat auf den merkwürdigen Umstand
hingewiesen, daß gerade die idealistischen Perioden der Philosophie für die
Naturforschung am fruchtbarsten gewesen sind.


nicht unter das Joch eines Dogmas zwängt, und das; dieser Glaube vou dem
Fortschritte der Wissenschaften nicht das geringste zu fürchten hat, ja daß ihn
die echte Philosophie fordert. Aber er spricht diese Gedanken, die unser
heutiges Geschlecht im tiefsten Innern bewegen' so vielfach ans neue Weise
aus und verbreitet ein so schönes Licht über die Schwierigkeit und ihre Lösung,
daß mau seine Ausführungen mit wahrer Erbauung liest. Sie wollen im Zu¬
sammenhang gelesen werden, darumreißen wir keine einzelne heraus; nur eine
vou den Stellen wollen wir anführen, ans denen klar wird, wie gerade die
reinliche Scheidung der beiden Seiten der Menschenvernunft in der wissen¬
schaftlichen Untersuchung ihren harmonischen Zusammenklang im Leben sichert:

„Mir erscheint der negative Dogmatismus der Wissenschaft ^d. h. die an¬
maßende Behauptung, die Nichtexistenz Gottes sei wissenschaftlich erwiesenj als
das Gegenstück des positiven Dogmatismus der alten theologischen Orthodoxie.
Beide kommen überein in der Auffassung der Religion als einer Summe buch¬
stäblich zu fassender, mit dem Verstand aufzunehmender Lehrsätze, nur daß der
erste nein sagt, wo der zweite ja sagt. Sie kommen überein in dem harten
Intellektualismus, der für Dichtung und Kunst keinen Sinn hat. Sie kommen
oft auch überein in einem harten Moralismns, der für Individualität und
Freiheit des Geistigen keinen Sinn hat, nicht minder in herrschsüchtigen Fana¬
tismus, der von jedermann absolute Unterwerfung unter die eignen Bekenntnis¬
formeln, negative wie positive, fordert. . . . Philosophie ist nicht Religion und
kann nicht an ihre Stelle treten. Sie will nicht ein Glaube sein, sondern ein
Wissen. Dennoch enthält jede Philosophie, sofern sie Philosophie in dem alten
Sinn, Welt- und Lebensanschauung, sein will, auch ein Element des Glaubens
in sich, das die Wissenschaft als solche nicht enthält. Jede Philosophie geht
zuletzt darauf hinaus, Sinn in die Dinge zu bringe» oder vielmehr den Sinn,
der in den Dingen ist, aufzuzeigen. Dieser Sinn ist aber im letzten Grunde
immer eine Sache nicht des Wissens, sondern des Willens und Glaubens.
Was dem Philosophen selber das höchste Gut und letzte Ziel ist, das sieht er
in die Welt als ihr Gut und Ziel hinein und meint es nnn auch durch hinter¬
herkommende Betrachtung als solches darin zu finden. In diesem Sinne ist
das Augustinische Wort: licIoL prasesM rationem eine allgemein menschliche
Wahrheit, ja der eigentliche Schlüssel zum Verständnis der Philosophie."

Paulsen hätte noch das Wort des Anselm von Canterbury beifügen können:
eröäo ut, into11log.in. Er selbst hebt an einer andern Stelle hervor, daß die
Philosophie die Einzelwissenschaften ans sich hervorgetrieben habe; eben der
Glaube an die Vernünftigkeit der Welt und der Drang, diese Vernünftigkeit
im einzelnen nachzuweisen, ist es, was zur Forschung treibt. Friedrich Lange,
der Geschichtschreiber des Materialismus, hat auf den merkwürdigen Umstand
hingewiesen, daß gerade die idealistischen Perioden der Philosophie für die
Naturforschung am fruchtbarsten gewesen sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/20>, abgerufen am 15.06.2024.