Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Neue Novellen die hochheilige "Sache" retten will, ihn durch eine teuflisch geschickte Benutzung Ganz im Gegensatz zu dem düstern Ernst der Vineentischen Erzählungen Neue Novellen die hochheilige „Sache" retten will, ihn durch eine teuflisch geschickte Benutzung Ganz im Gegensatz zu dem düstern Ernst der Vineentischen Erzählungen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0141" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219143"/> <fw type="header" place="top"> Neue Novellen</fw><lb/> <p xml:id="ID_398" prev="#ID_397"> die hochheilige „Sache" retten will, ihn durch eine teuflisch geschickte Benutzung<lb/> eines unterschlagnen Briefes mit Lytta entzweit, und als er rasend auf sie<lb/> eindringt, um sie womöglich mit eignen Händen zu erwürgen, schießt sie ihn<lb/> nieder wie einen tollen Hund und verfällt dann selbst in Wahnsinn. Noch<lb/> unerquicklicher als diese grell theatralische Novelle zeigt sich die kurz vor dem<lb/> Jahre 1900 spielende Zukunftsnovelle „Das Thal der Seligen," eine Ge¬<lb/> schichte aus dem dunkelsten Seelenleben, wie sie der Verfasser nennt. Alle<lb/> modernen Schlagworte vom Weltuntergang und der Welterlösung, von der<lb/> erblichen Belastung und von geheimnisvollen Snggestionsverbrechen, dazu der<lb/> Wahn, daß mit Mord gewonnene Millionen unermeßlichen Segen stiften können,<lb/> und der Traum von einer ethischen Gesellschaft, die die leidende Menschheit<lb/> fördern, die soziale Gefahr mindern soll, und nach deren Ethik Christus „ein<lb/> Hasser und Hetzer, ein Unduldsamer und Zwieträchtiger" war, als er die<lb/> Wechsler aus dem Tempel trieb und die Pharisäer strafte, spielen in dieser<lb/> phantastischen Geschichte mit, das Ganze zeigt eine Mischung von Realismus<lb/> und Shmbolismns, .die einen fruchtbaren Keim bergen mag, hier aber ent¬<lb/> schieden noch zu keiner einheitlichen Wirkung kommt.</p><lb/> <p xml:id="ID_399" next="#ID_400"> Ganz im Gegensatz zu dem düstern Ernst der Vineentischen Erzählungen<lb/> stehen die Geschichten Im Klub der Siebenundfünfziger von Friedrich<lb/> Corssen (Leipzig, Karl Reißner), ein Decamerone aus einer Berliner Wei߬<lb/> bierstube mit entschiednen Anspruch auf Witz und Humor. Ganz wohl wird<lb/> dem Leser bei der Nahmenerzählung nicht werden, auch nicht bei der Charakte¬<lb/> ristik der in Albert Schnitzes Bierstube bei der Zwölfapostelkirche verkehrenden<lb/> Persönlichkeiten und bei vielen ihrer Geschichten; Es ist ein gutes Stück<lb/> vou der weltstädtischen Blasirtheit und der trivialen Überhebung des räsonni-<lb/> renden Verlinertums in diesen Humoresken („Wer kann heute noch die Spreu<lb/> vom Weizen sondern? Wer hat Zeit und Lust dazu?"); auch die öde Frivo¬<lb/> lität, die betrügerische Bankiers und mit hundert Manuskripten zugleich han¬<lb/> delnde Schriftsteller für spaßhafte Erscheinungen ansieht, hat im Klub der<lb/> Siebenundfünfziger öfter das große Wort. In einzelnen Geschichten spielen<lb/> höchst fragwürdige moderne Ideale eine Rolle, die Berliner Schusterstochter,<lb/> die durch den Zirkus Salamonskh und die Heirat mit einem Clown hindurch<lb/> russische Fürstin wird, der Philosoph Namusch, der nebenbei Lederwnrenhändler<lb/> Schumann ist und auf die billigste Weise gestattet, alles Philosophiren für<lb/> „Blödsinn" zu erklären, nachdem er sich durch die Philosophie hindurch zur<lb/> Großstadtlhrik emporgeschwungen hat, und dergleichen mehr. Aber die Ge¬<lb/> schichten „Hundclatein," „Falsches Mitleid," „Die Pointe" und vollends die<lb/> Schlußgeschichte des braven Herrn von Pützlin „Die Krone der Genügsamkeit"<lb/> sind hübsch, und der Fechtbruder, der mit edelm Anstand erzählt, daß er vor<lb/> Zeiten einer der wildesten Häuscrspekulanten Berlins gewesen sei („die Häuser,<lb/> die ich in der Bauperiode nach dem Krieg aus der Erde habe wachsen lassen,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0141]
Neue Novellen
die hochheilige „Sache" retten will, ihn durch eine teuflisch geschickte Benutzung
eines unterschlagnen Briefes mit Lytta entzweit, und als er rasend auf sie
eindringt, um sie womöglich mit eignen Händen zu erwürgen, schießt sie ihn
nieder wie einen tollen Hund und verfällt dann selbst in Wahnsinn. Noch
unerquicklicher als diese grell theatralische Novelle zeigt sich die kurz vor dem
Jahre 1900 spielende Zukunftsnovelle „Das Thal der Seligen," eine Ge¬
schichte aus dem dunkelsten Seelenleben, wie sie der Verfasser nennt. Alle
modernen Schlagworte vom Weltuntergang und der Welterlösung, von der
erblichen Belastung und von geheimnisvollen Snggestionsverbrechen, dazu der
Wahn, daß mit Mord gewonnene Millionen unermeßlichen Segen stiften können,
und der Traum von einer ethischen Gesellschaft, die die leidende Menschheit
fördern, die soziale Gefahr mindern soll, und nach deren Ethik Christus „ein
Hasser und Hetzer, ein Unduldsamer und Zwieträchtiger" war, als er die
Wechsler aus dem Tempel trieb und die Pharisäer strafte, spielen in dieser
phantastischen Geschichte mit, das Ganze zeigt eine Mischung von Realismus
und Shmbolismns, .die einen fruchtbaren Keim bergen mag, hier aber ent¬
schieden noch zu keiner einheitlichen Wirkung kommt.
Ganz im Gegensatz zu dem düstern Ernst der Vineentischen Erzählungen
stehen die Geschichten Im Klub der Siebenundfünfziger von Friedrich
Corssen (Leipzig, Karl Reißner), ein Decamerone aus einer Berliner Wei߬
bierstube mit entschiednen Anspruch auf Witz und Humor. Ganz wohl wird
dem Leser bei der Nahmenerzählung nicht werden, auch nicht bei der Charakte¬
ristik der in Albert Schnitzes Bierstube bei der Zwölfapostelkirche verkehrenden
Persönlichkeiten und bei vielen ihrer Geschichten; Es ist ein gutes Stück
vou der weltstädtischen Blasirtheit und der trivialen Überhebung des räsonni-
renden Verlinertums in diesen Humoresken („Wer kann heute noch die Spreu
vom Weizen sondern? Wer hat Zeit und Lust dazu?"); auch die öde Frivo¬
lität, die betrügerische Bankiers und mit hundert Manuskripten zugleich han¬
delnde Schriftsteller für spaßhafte Erscheinungen ansieht, hat im Klub der
Siebenundfünfziger öfter das große Wort. In einzelnen Geschichten spielen
höchst fragwürdige moderne Ideale eine Rolle, die Berliner Schusterstochter,
die durch den Zirkus Salamonskh und die Heirat mit einem Clown hindurch
russische Fürstin wird, der Philosoph Namusch, der nebenbei Lederwnrenhändler
Schumann ist und auf die billigste Weise gestattet, alles Philosophiren für
„Blödsinn" zu erklären, nachdem er sich durch die Philosophie hindurch zur
Großstadtlhrik emporgeschwungen hat, und dergleichen mehr. Aber die Ge¬
schichten „Hundclatein," „Falsches Mitleid," „Die Pointe" und vollends die
Schlußgeschichte des braven Herrn von Pützlin „Die Krone der Genügsamkeit"
sind hübsch, und der Fechtbruder, der mit edelm Anstand erzählt, daß er vor
Zeiten einer der wildesten Häuscrspekulanten Berlins gewesen sei („die Häuser,
die ich in der Bauperiode nach dem Krieg aus der Erde habe wachsen lassen,
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |