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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Umsturzvorlage uiid der Reichstag

zur Bekämpfung des Umsturzes! Die konservative Partei verschließt sich
wenigstens nicht der Erkenntnis, daß die Unterdrückung der Umsturzbestrebungen,
wenn sie wirken solle, mit einem kräftigen Vorwärtsschreiten auf der Bahn
sozialer Reformen Hand in Hand gehen müsse. In der That verkündet soeben
der Reichsanzeiger, daß die dem Bundesrate vorbehaltenen Ausführungsbestim¬
mungen betreffend die Sonntagsruhe in der Industrie bereits am 1. April
1895, also genau drei Jahre und neun Monate nach Erlaß des Gesetzes,
wirklich in Kraft treten sollen! Die nationalliberale Partei scheint uns doch
einigermaßen stutzig geworden zu sein, ob denn wirklich ein beträchtlicher Teil der
allgemeinen bürgerlichen Freiheit, an deren Ausbau sie einst hervorragend mitge¬
wirkt hat. darüber hinaus aber, wenn Rom wieder in Deutschland mächtig werden
sollte, auch die Denk- und Gewissensfreiheit dem plötzlich hervorgezauberten
Nevolutionsgespenst zum Opfer gebracht werden soll. Die übrigen bürgerlichen
Parteien -- und wir bedauern, uns dabei völlig auf ihre Seite stellen zu
müssen -- erwarten von der Vorlage, selbst wenn sie in abgeschwächter Gestalt
Gesetz werden sollte, lediglich eine Unterbrechung des Gesundungsprozesses, der
innerhalb der Sozialdemokratie, wenn auch in schüchternen Anfängen, doch
begonnen hatte, eine Verschärfung der unseligen Klassengegensätze bis zur
Hoffnungslosigkeit, einen weitern Rückgang des schon stark erschütterten Ver¬
trauens auf die Unparteilichkeit der Behörden und Gerichte, wie er beim Über¬
handnehmen politischer Prozesse trotz loyalster Gesetzesanwendung unausbleiblich
ist, endlich eine gefahrdrohende Schwächung des Reichs inmitten lauernder
Feinde und unzuverlässiger Bundesgenossen. Diesen sichern Einbußen steht
die Wahrscheinlichkeit, um nicht zu sagen Gewißheit gegenüber, daß die Sozial-
demokratie aus der von neuem und ohne sichtbaren Anlaß über sie herein¬
brechenden Verfolgung eine neue gewaltige Steigerung ihres Solidaritäts¬
gefühls schöpfen wird, die sie befähigt, der neuerrichteten Schranken für die
öffentliche Meinungsäußerung zu spotten und sie, selbst wenn sie an Zahl
zurückgehen sollte, zur unversöhnlichen Feindin des Staates und der Gesell¬
schaft machen würde.

Wie unter solchen Umständen die Kommissionsberatung zu einem Er¬
gebnis sühren soll, kann man sich schwer vorstellen. Nicht eine einzige der im
Reichstage vertretnen Parteien ist imstande gewesen, die Tendenz der neuen
Vorlage grundsätzlich und vorbehaltlos gut zu heißen. Über die Vorfrage,
ob die geplanten schärfern Maßregeln nicht besser und -- ehrlicher in ein Aus¬
nahmegesetz gehören, bestehen, wie die Verhandlungen gezeigt haben, selbst
unter den sogenannten Freunden der Vorlage ernste Meinungsverschieden¬
heiten. Laue Freunde und entschiedne Gegner des Entwurfs werden sich vor¬
aussichtlich auch bei den fernern Beratungen die Wage halten. Wir halten
es deshalb für Verlorne Liebesmühe, wenn sichs die Kommission ernstlich an¬
gelegen sein lassen wollte, dem einen oder dem andern der vorgelegten Para-


Die Umsturzvorlage uiid der Reichstag

zur Bekämpfung des Umsturzes! Die konservative Partei verschließt sich
wenigstens nicht der Erkenntnis, daß die Unterdrückung der Umsturzbestrebungen,
wenn sie wirken solle, mit einem kräftigen Vorwärtsschreiten auf der Bahn
sozialer Reformen Hand in Hand gehen müsse. In der That verkündet soeben
der Reichsanzeiger, daß die dem Bundesrate vorbehaltenen Ausführungsbestim¬
mungen betreffend die Sonntagsruhe in der Industrie bereits am 1. April
1895, also genau drei Jahre und neun Monate nach Erlaß des Gesetzes,
wirklich in Kraft treten sollen! Die nationalliberale Partei scheint uns doch
einigermaßen stutzig geworden zu sein, ob denn wirklich ein beträchtlicher Teil der
allgemeinen bürgerlichen Freiheit, an deren Ausbau sie einst hervorragend mitge¬
wirkt hat. darüber hinaus aber, wenn Rom wieder in Deutschland mächtig werden
sollte, auch die Denk- und Gewissensfreiheit dem plötzlich hervorgezauberten
Nevolutionsgespenst zum Opfer gebracht werden soll. Die übrigen bürgerlichen
Parteien — und wir bedauern, uns dabei völlig auf ihre Seite stellen zu
müssen — erwarten von der Vorlage, selbst wenn sie in abgeschwächter Gestalt
Gesetz werden sollte, lediglich eine Unterbrechung des Gesundungsprozesses, der
innerhalb der Sozialdemokratie, wenn auch in schüchternen Anfängen, doch
begonnen hatte, eine Verschärfung der unseligen Klassengegensätze bis zur
Hoffnungslosigkeit, einen weitern Rückgang des schon stark erschütterten Ver¬
trauens auf die Unparteilichkeit der Behörden und Gerichte, wie er beim Über¬
handnehmen politischer Prozesse trotz loyalster Gesetzesanwendung unausbleiblich
ist, endlich eine gefahrdrohende Schwächung des Reichs inmitten lauernder
Feinde und unzuverlässiger Bundesgenossen. Diesen sichern Einbußen steht
die Wahrscheinlichkeit, um nicht zu sagen Gewißheit gegenüber, daß die Sozial-
demokratie aus der von neuem und ohne sichtbaren Anlaß über sie herein¬
brechenden Verfolgung eine neue gewaltige Steigerung ihres Solidaritäts¬
gefühls schöpfen wird, die sie befähigt, der neuerrichteten Schranken für die
öffentliche Meinungsäußerung zu spotten und sie, selbst wenn sie an Zahl
zurückgehen sollte, zur unversöhnlichen Feindin des Staates und der Gesell¬
schaft machen würde.

Wie unter solchen Umständen die Kommissionsberatung zu einem Er¬
gebnis sühren soll, kann man sich schwer vorstellen. Nicht eine einzige der im
Reichstage vertretnen Parteien ist imstande gewesen, die Tendenz der neuen
Vorlage grundsätzlich und vorbehaltlos gut zu heißen. Über die Vorfrage,
ob die geplanten schärfern Maßregeln nicht besser und — ehrlicher in ein Aus¬
nahmegesetz gehören, bestehen, wie die Verhandlungen gezeigt haben, selbst
unter den sogenannten Freunden der Vorlage ernste Meinungsverschieden¬
heiten. Laue Freunde und entschiedne Gegner des Entwurfs werden sich vor¬
aussichtlich auch bei den fernern Beratungen die Wage halten. Wir halten
es deshalb für Verlorne Liebesmühe, wenn sichs die Kommission ernstlich an¬
gelegen sein lassen wollte, dem einen oder dem andern der vorgelegten Para-


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[0144] Die Umsturzvorlage uiid der Reichstag zur Bekämpfung des Umsturzes! Die konservative Partei verschließt sich wenigstens nicht der Erkenntnis, daß die Unterdrückung der Umsturzbestrebungen, wenn sie wirken solle, mit einem kräftigen Vorwärtsschreiten auf der Bahn sozialer Reformen Hand in Hand gehen müsse. In der That verkündet soeben der Reichsanzeiger, daß die dem Bundesrate vorbehaltenen Ausführungsbestim¬ mungen betreffend die Sonntagsruhe in der Industrie bereits am 1. April 1895, also genau drei Jahre und neun Monate nach Erlaß des Gesetzes, wirklich in Kraft treten sollen! Die nationalliberale Partei scheint uns doch einigermaßen stutzig geworden zu sein, ob denn wirklich ein beträchtlicher Teil der allgemeinen bürgerlichen Freiheit, an deren Ausbau sie einst hervorragend mitge¬ wirkt hat. darüber hinaus aber, wenn Rom wieder in Deutschland mächtig werden sollte, auch die Denk- und Gewissensfreiheit dem plötzlich hervorgezauberten Nevolutionsgespenst zum Opfer gebracht werden soll. Die übrigen bürgerlichen Parteien — und wir bedauern, uns dabei völlig auf ihre Seite stellen zu müssen — erwarten von der Vorlage, selbst wenn sie in abgeschwächter Gestalt Gesetz werden sollte, lediglich eine Unterbrechung des Gesundungsprozesses, der innerhalb der Sozialdemokratie, wenn auch in schüchternen Anfängen, doch begonnen hatte, eine Verschärfung der unseligen Klassengegensätze bis zur Hoffnungslosigkeit, einen weitern Rückgang des schon stark erschütterten Ver¬ trauens auf die Unparteilichkeit der Behörden und Gerichte, wie er beim Über¬ handnehmen politischer Prozesse trotz loyalster Gesetzesanwendung unausbleiblich ist, endlich eine gefahrdrohende Schwächung des Reichs inmitten lauernder Feinde und unzuverlässiger Bundesgenossen. Diesen sichern Einbußen steht die Wahrscheinlichkeit, um nicht zu sagen Gewißheit gegenüber, daß die Sozial- demokratie aus der von neuem und ohne sichtbaren Anlaß über sie herein¬ brechenden Verfolgung eine neue gewaltige Steigerung ihres Solidaritäts¬ gefühls schöpfen wird, die sie befähigt, der neuerrichteten Schranken für die öffentliche Meinungsäußerung zu spotten und sie, selbst wenn sie an Zahl zurückgehen sollte, zur unversöhnlichen Feindin des Staates und der Gesell¬ schaft machen würde. Wie unter solchen Umständen die Kommissionsberatung zu einem Er¬ gebnis sühren soll, kann man sich schwer vorstellen. Nicht eine einzige der im Reichstage vertretnen Parteien ist imstande gewesen, die Tendenz der neuen Vorlage grundsätzlich und vorbehaltlos gut zu heißen. Über die Vorfrage, ob die geplanten schärfern Maßregeln nicht besser und — ehrlicher in ein Aus¬ nahmegesetz gehören, bestehen, wie die Verhandlungen gezeigt haben, selbst unter den sogenannten Freunden der Vorlage ernste Meinungsverschieden¬ heiten. Laue Freunde und entschiedne Gegner des Entwurfs werden sich vor¬ aussichtlich auch bei den fernern Beratungen die Wage halten. Wir halten es deshalb für Verlorne Liebesmühe, wenn sichs die Kommission ernstlich an¬ gelegen sein lassen wollte, dem einen oder dem andern der vorgelegten Para-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/144>, abgerufen am 12.05.2024.