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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Umsturzvorlage und der Reichstag

graphen einen unbedcnklichern Inhalt zu geben. Wir haben von vornherein
nicht bestritten, daß zwei oder drei von ihnen den, wenn auch stark verhüllten
und maßlos übertriebnen Ansatz eines richtigen gesetzgeberischen Gedankens ent¬
halten. Allein diese Gedanken herauszuschälen und ihnen eine brauchbare Form
zu geben, kann nicht Sache des Reichstags sein. Er mag eine gewisse mora¬
lische Verpflichtung hierzu haben, wenn eine Regierungsvorlage wenigstens die
grundsätzliche Zustimmung der Volksvertretung bereits gefunden hat, vielleicht
auf ihre eigne Anregung erst ausgearbeitet worden war. Aber selbst dann bleibt
diese Mitwirkung ein heikles Ding. Nicht wenige unsrer Gesetze tragen die
Spuren ungenügend überlegter, oft erst in der letzten Stunde durchgedrückter
Kompromisse, deren schädliche Tragweite erst später bei der Anwendung des
Gesetzes hervorgetreten ist. Dieser Übelstand wird zu einer schweren Gefahr
für die Nation, wenn es sich um politische Strafgesetze handelt, deren Wichtigkeit
hinter den Verfassungsbestimmungen selbst nicht zurücksteht.

Wir hoffen deshalb nach wie vor, und wir werden durch den Gesamt-
eindruck der ersten Lesung in dieser Hoffnung bestärkt, daß der Reichstag die
Umsturzvorlage schließlich mit einem runden Nein zurückweisen werde. Hat
doch auch der andre Faktor der Gesetzgebung, der Bundesrat, von diesem runden
Nein dem Reichstage gegenüber oft genug Gebrauch gemacht, so z. B. in der
seit 1870 vom Reichstag immer dringender geforderten Reform des Militär¬
strafgerichtsverfahrens. Der Reichstag dürfte um so weniger Veranlassung
haben, gerade zu einer Umgestaltung der verunglückten Vorlage die Hand zu
bieten, wenn er sich der Geschichte ihrer Entstehung erinnert. Wie man sich
auch in den letzten Wochen abgemüht hat, ihre Notwendigkeit zu beweisen,
gewiß ist, daß noch bis in den Sommer 1894 hinein keine zehn Menschen in
Deutschland an diese Notwendigkeit gedacht haben. Auch der früheste und
lauteste Rufer im Streit, der grimme Freiherr von Stumm, saug in der ihm
nahestehenden Presse monatelang seine Rachearien allein, ohne Chor und Or¬
chester, untermischt nur mit einem gelegentlichen Klagelied über die Vertrauens¬
seligkeit des deutscheu Philisters, dem es vor dem ringsum drohenden Umsturz
so gar nicht gruselig werden wollte. Wenn die Neichsregierung schließlich
dieser einzelnen Stimme gefolgt ist und nun die Entdeckung macht, daß ihre
Vorlage, so wie sie eingebracht ist, weder im Volke noch im Reichstage Zu¬
stimmung findet, so ist es nicht zuviel verlangt, daß sie selbst auch die neuen
Vorschläge formulire, zu denen sie hoffen kann, künftig etwa eine Mehrheit
im Reichstage zu finden.

Allem Vermuten nach wird sich die Regierung hierzu uicht entschließen,
sondern es eher auf die Auflösung und Neuwahl des Reichstags ankommen
lassen. Wir würden das aufrichtig willkommen heißen. Es ist in der That
dringend notwendig, zur Klarheit darüber zu kommen, wie sich denn eigent¬
lich die Gesamtheit des deutschen Volks in einer für die ganze Zukunft der


Grenzboten I 1895 18
Die Umsturzvorlage und der Reichstag

graphen einen unbedcnklichern Inhalt zu geben. Wir haben von vornherein
nicht bestritten, daß zwei oder drei von ihnen den, wenn auch stark verhüllten
und maßlos übertriebnen Ansatz eines richtigen gesetzgeberischen Gedankens ent¬
halten. Allein diese Gedanken herauszuschälen und ihnen eine brauchbare Form
zu geben, kann nicht Sache des Reichstags sein. Er mag eine gewisse mora¬
lische Verpflichtung hierzu haben, wenn eine Regierungsvorlage wenigstens die
grundsätzliche Zustimmung der Volksvertretung bereits gefunden hat, vielleicht
auf ihre eigne Anregung erst ausgearbeitet worden war. Aber selbst dann bleibt
diese Mitwirkung ein heikles Ding. Nicht wenige unsrer Gesetze tragen die
Spuren ungenügend überlegter, oft erst in der letzten Stunde durchgedrückter
Kompromisse, deren schädliche Tragweite erst später bei der Anwendung des
Gesetzes hervorgetreten ist. Dieser Übelstand wird zu einer schweren Gefahr
für die Nation, wenn es sich um politische Strafgesetze handelt, deren Wichtigkeit
hinter den Verfassungsbestimmungen selbst nicht zurücksteht.

Wir hoffen deshalb nach wie vor, und wir werden durch den Gesamt-
eindruck der ersten Lesung in dieser Hoffnung bestärkt, daß der Reichstag die
Umsturzvorlage schließlich mit einem runden Nein zurückweisen werde. Hat
doch auch der andre Faktor der Gesetzgebung, der Bundesrat, von diesem runden
Nein dem Reichstage gegenüber oft genug Gebrauch gemacht, so z. B. in der
seit 1870 vom Reichstag immer dringender geforderten Reform des Militär¬
strafgerichtsverfahrens. Der Reichstag dürfte um so weniger Veranlassung
haben, gerade zu einer Umgestaltung der verunglückten Vorlage die Hand zu
bieten, wenn er sich der Geschichte ihrer Entstehung erinnert. Wie man sich
auch in den letzten Wochen abgemüht hat, ihre Notwendigkeit zu beweisen,
gewiß ist, daß noch bis in den Sommer 1894 hinein keine zehn Menschen in
Deutschland an diese Notwendigkeit gedacht haben. Auch der früheste und
lauteste Rufer im Streit, der grimme Freiherr von Stumm, saug in der ihm
nahestehenden Presse monatelang seine Rachearien allein, ohne Chor und Or¬
chester, untermischt nur mit einem gelegentlichen Klagelied über die Vertrauens¬
seligkeit des deutscheu Philisters, dem es vor dem ringsum drohenden Umsturz
so gar nicht gruselig werden wollte. Wenn die Neichsregierung schließlich
dieser einzelnen Stimme gefolgt ist und nun die Entdeckung macht, daß ihre
Vorlage, so wie sie eingebracht ist, weder im Volke noch im Reichstage Zu¬
stimmung findet, so ist es nicht zuviel verlangt, daß sie selbst auch die neuen
Vorschläge formulire, zu denen sie hoffen kann, künftig etwa eine Mehrheit
im Reichstage zu finden.

Allem Vermuten nach wird sich die Regierung hierzu uicht entschließen,
sondern es eher auf die Auflösung und Neuwahl des Reichstags ankommen
lassen. Wir würden das aufrichtig willkommen heißen. Es ist in der That
dringend notwendig, zur Klarheit darüber zu kommen, wie sich denn eigent¬
lich die Gesamtheit des deutschen Volks in einer für die ganze Zukunft der


Grenzboten I 1895 18
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[0145] Die Umsturzvorlage und der Reichstag graphen einen unbedcnklichern Inhalt zu geben. Wir haben von vornherein nicht bestritten, daß zwei oder drei von ihnen den, wenn auch stark verhüllten und maßlos übertriebnen Ansatz eines richtigen gesetzgeberischen Gedankens ent¬ halten. Allein diese Gedanken herauszuschälen und ihnen eine brauchbare Form zu geben, kann nicht Sache des Reichstags sein. Er mag eine gewisse mora¬ lische Verpflichtung hierzu haben, wenn eine Regierungsvorlage wenigstens die grundsätzliche Zustimmung der Volksvertretung bereits gefunden hat, vielleicht auf ihre eigne Anregung erst ausgearbeitet worden war. Aber selbst dann bleibt diese Mitwirkung ein heikles Ding. Nicht wenige unsrer Gesetze tragen die Spuren ungenügend überlegter, oft erst in der letzten Stunde durchgedrückter Kompromisse, deren schädliche Tragweite erst später bei der Anwendung des Gesetzes hervorgetreten ist. Dieser Übelstand wird zu einer schweren Gefahr für die Nation, wenn es sich um politische Strafgesetze handelt, deren Wichtigkeit hinter den Verfassungsbestimmungen selbst nicht zurücksteht. Wir hoffen deshalb nach wie vor, und wir werden durch den Gesamt- eindruck der ersten Lesung in dieser Hoffnung bestärkt, daß der Reichstag die Umsturzvorlage schließlich mit einem runden Nein zurückweisen werde. Hat doch auch der andre Faktor der Gesetzgebung, der Bundesrat, von diesem runden Nein dem Reichstage gegenüber oft genug Gebrauch gemacht, so z. B. in der seit 1870 vom Reichstag immer dringender geforderten Reform des Militär¬ strafgerichtsverfahrens. Der Reichstag dürfte um so weniger Veranlassung haben, gerade zu einer Umgestaltung der verunglückten Vorlage die Hand zu bieten, wenn er sich der Geschichte ihrer Entstehung erinnert. Wie man sich auch in den letzten Wochen abgemüht hat, ihre Notwendigkeit zu beweisen, gewiß ist, daß noch bis in den Sommer 1894 hinein keine zehn Menschen in Deutschland an diese Notwendigkeit gedacht haben. Auch der früheste und lauteste Rufer im Streit, der grimme Freiherr von Stumm, saug in der ihm nahestehenden Presse monatelang seine Rachearien allein, ohne Chor und Or¬ chester, untermischt nur mit einem gelegentlichen Klagelied über die Vertrauens¬ seligkeit des deutscheu Philisters, dem es vor dem ringsum drohenden Umsturz so gar nicht gruselig werden wollte. Wenn die Neichsregierung schließlich dieser einzelnen Stimme gefolgt ist und nun die Entdeckung macht, daß ihre Vorlage, so wie sie eingebracht ist, weder im Volke noch im Reichstage Zu¬ stimmung findet, so ist es nicht zuviel verlangt, daß sie selbst auch die neuen Vorschläge formulire, zu denen sie hoffen kann, künftig etwa eine Mehrheit im Reichstage zu finden. Allem Vermuten nach wird sich die Regierung hierzu uicht entschließen, sondern es eher auf die Auflösung und Neuwahl des Reichstags ankommen lassen. Wir würden das aufrichtig willkommen heißen. Es ist in der That dringend notwendig, zur Klarheit darüber zu kommen, wie sich denn eigent¬ lich die Gesamtheit des deutschen Volks in einer für die ganze Zukunft der Grenzboten I 1895 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/145>, abgerufen am 27.05.2024.