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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur U?ürdigung der gegenwärtigen Aunstbestrebungen

oder Rufes verdankt, die Forderung, die Corneliusschen Kartons aus der
Nationalgalerie zu entfernen, damit Raum werde für die Bilder seiner Freunde.
Damals lächelte man noch über diese Forderung; heute ist sie schon halb er¬
füllt, denn im ersten Cvrneliussaale stehen bereits zwei Riesengemälde von
Kaulbach und Keller und verschiedne kleinere Sachen, der zweite aber wird zu
wechselnden Ausstellungen benutzt, wobei die Kartons zum großen Teile be¬
deckt werden. Man sollte die Kartons, von denen einige ohnehin schon stark
gelitten haben, seitdem sie sich in der Nationalgaleric befinden, zusammenrollen
und für spätere Zeiten aufbewahren, die den großen Künstler besser zu wür¬
digen wissen, als die Gegenwart mit ihrer "reinen Kunst" für das "sinnlich
genießende Auge."

Man macht für diese Richtung der Gegenwart vielfach die falsche Er¬
ziehung verantwortlich, die die jungen Künstler auf den Akademien empfangen.
Hieran mag ja etwas Wahres sein, im großen und ganzen aber ist es falsch.
Im allgemeinen geben die Akademien das, was an der Kunst lcrnbar ist, in
vorzüglicher Weise, sie vermitteln eine vollkommne Beherrschung der Dar-
stellungsmittel. Wieviel man ihnen auch vorwerfen mag, sie verschulden doch
nicht den Mangel an Geist und Erfindungskraft, der der Kunst der Jungen
seinen Stempel ausdruckt. Dieser Mangel verführt naturgemäß zur Hervor¬
hebung der Darstellungsmittel, zu Künsteleien, Gesuchtheiten und Übertreibungen,
zum Virtuosentum, zum Manierismus und -- zum Verfall. Die Akademien
können nicht Geist und Phantasie, Gaben und Talente verleihen, sie können
auch nicht Zeitströmungeu, also auch nicht die gegenwärtige der rein sinnlichen
Kunst, verhindern. Nicht von ihnen kann das Heil kommen, sondern es kann
nur von der Auferstehung eines echten Kunstgeistes kommen, der mit den ver¬
kehrten Dogmen der heutigen Strömung bricht.

Herr Begas sagt in seinen "Aphorismen" weiter: "Der Genuß an der
reinen Form, wie wir ihn bei den Griechen verkörpert (!) sehen, genügt dem
Deutschen nicht, er will sich bei einem Kunstwerke auch etwas denken können."
Der Satz sieht ans wie Sinn und ist doch Unsinn. Ich frage zuerst: wie
kann ein "Genuß verkörpert" sein? Ferner: war der Genuß an der reinen
Form bei den Griechen wirklich verkörpert? Und drittens will sich der Deutsche
bei einem Kunstwerke wirklich nnr etwas denken können? Immer wieder die
alte Verwirrung von Gedanken und Begriffen! Herr Begas scheint gemeint zu
haben, daß einst in Hellas das Volk an den Werken seiner Künstler nur die
"reine Form" genossen habe, aber weit davon entfernt gewesen sei, sich dabei
auch etwas denken zu wollen. Welche Unwissenheit! Weiß er denn nicht, daß
die ganz von Geist und Poesie erfüllte Gricchenreligion in jenen Kunstwerken
verkörpert war? daß der griechische Künstler, wenigstens der guten Zeit, mit
heiliger Scheu in dem Bewußtsein arbeitete, daß die Götter sahen, was er
schuf und machte? Weiß er nicht, daß Phidias, für den er ja zu schwärmen


Zur U?ürdigung der gegenwärtigen Aunstbestrebungen

oder Rufes verdankt, die Forderung, die Corneliusschen Kartons aus der
Nationalgalerie zu entfernen, damit Raum werde für die Bilder seiner Freunde.
Damals lächelte man noch über diese Forderung; heute ist sie schon halb er¬
füllt, denn im ersten Cvrneliussaale stehen bereits zwei Riesengemälde von
Kaulbach und Keller und verschiedne kleinere Sachen, der zweite aber wird zu
wechselnden Ausstellungen benutzt, wobei die Kartons zum großen Teile be¬
deckt werden. Man sollte die Kartons, von denen einige ohnehin schon stark
gelitten haben, seitdem sie sich in der Nationalgaleric befinden, zusammenrollen
und für spätere Zeiten aufbewahren, die den großen Künstler besser zu wür¬
digen wissen, als die Gegenwart mit ihrer „reinen Kunst" für das „sinnlich
genießende Auge."

Man macht für diese Richtung der Gegenwart vielfach die falsche Er¬
ziehung verantwortlich, die die jungen Künstler auf den Akademien empfangen.
Hieran mag ja etwas Wahres sein, im großen und ganzen aber ist es falsch.
Im allgemeinen geben die Akademien das, was an der Kunst lcrnbar ist, in
vorzüglicher Weise, sie vermitteln eine vollkommne Beherrschung der Dar-
stellungsmittel. Wieviel man ihnen auch vorwerfen mag, sie verschulden doch
nicht den Mangel an Geist und Erfindungskraft, der der Kunst der Jungen
seinen Stempel ausdruckt. Dieser Mangel verführt naturgemäß zur Hervor¬
hebung der Darstellungsmittel, zu Künsteleien, Gesuchtheiten und Übertreibungen,
zum Virtuosentum, zum Manierismus und — zum Verfall. Die Akademien
können nicht Geist und Phantasie, Gaben und Talente verleihen, sie können
auch nicht Zeitströmungeu, also auch nicht die gegenwärtige der rein sinnlichen
Kunst, verhindern. Nicht von ihnen kann das Heil kommen, sondern es kann
nur von der Auferstehung eines echten Kunstgeistes kommen, der mit den ver¬
kehrten Dogmen der heutigen Strömung bricht.

Herr Begas sagt in seinen „Aphorismen" weiter: „Der Genuß an der
reinen Form, wie wir ihn bei den Griechen verkörpert (!) sehen, genügt dem
Deutschen nicht, er will sich bei einem Kunstwerke auch etwas denken können."
Der Satz sieht ans wie Sinn und ist doch Unsinn. Ich frage zuerst: wie
kann ein „Genuß verkörpert" sein? Ferner: war der Genuß an der reinen
Form bei den Griechen wirklich verkörpert? Und drittens will sich der Deutsche
bei einem Kunstwerke wirklich nnr etwas denken können? Immer wieder die
alte Verwirrung von Gedanken und Begriffen! Herr Begas scheint gemeint zu
haben, daß einst in Hellas das Volk an den Werken seiner Künstler nur die
„reine Form" genossen habe, aber weit davon entfernt gewesen sei, sich dabei
auch etwas denken zu wollen. Welche Unwissenheit! Weiß er denn nicht, daß
die ganz von Geist und Poesie erfüllte Gricchenreligion in jenen Kunstwerken
verkörpert war? daß der griechische Künstler, wenigstens der guten Zeit, mit
heiliger Scheu in dem Bewußtsein arbeitete, daß die Götter sahen, was er
schuf und machte? Weiß er nicht, daß Phidias, für den er ja zu schwärmen


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[0187] Zur U?ürdigung der gegenwärtigen Aunstbestrebungen oder Rufes verdankt, die Forderung, die Corneliusschen Kartons aus der Nationalgalerie zu entfernen, damit Raum werde für die Bilder seiner Freunde. Damals lächelte man noch über diese Forderung; heute ist sie schon halb er¬ füllt, denn im ersten Cvrneliussaale stehen bereits zwei Riesengemälde von Kaulbach und Keller und verschiedne kleinere Sachen, der zweite aber wird zu wechselnden Ausstellungen benutzt, wobei die Kartons zum großen Teile be¬ deckt werden. Man sollte die Kartons, von denen einige ohnehin schon stark gelitten haben, seitdem sie sich in der Nationalgaleric befinden, zusammenrollen und für spätere Zeiten aufbewahren, die den großen Künstler besser zu wür¬ digen wissen, als die Gegenwart mit ihrer „reinen Kunst" für das „sinnlich genießende Auge." Man macht für diese Richtung der Gegenwart vielfach die falsche Er¬ ziehung verantwortlich, die die jungen Künstler auf den Akademien empfangen. Hieran mag ja etwas Wahres sein, im großen und ganzen aber ist es falsch. Im allgemeinen geben die Akademien das, was an der Kunst lcrnbar ist, in vorzüglicher Weise, sie vermitteln eine vollkommne Beherrschung der Dar- stellungsmittel. Wieviel man ihnen auch vorwerfen mag, sie verschulden doch nicht den Mangel an Geist und Erfindungskraft, der der Kunst der Jungen seinen Stempel ausdruckt. Dieser Mangel verführt naturgemäß zur Hervor¬ hebung der Darstellungsmittel, zu Künsteleien, Gesuchtheiten und Übertreibungen, zum Virtuosentum, zum Manierismus und — zum Verfall. Die Akademien können nicht Geist und Phantasie, Gaben und Talente verleihen, sie können auch nicht Zeitströmungeu, also auch nicht die gegenwärtige der rein sinnlichen Kunst, verhindern. Nicht von ihnen kann das Heil kommen, sondern es kann nur von der Auferstehung eines echten Kunstgeistes kommen, der mit den ver¬ kehrten Dogmen der heutigen Strömung bricht. Herr Begas sagt in seinen „Aphorismen" weiter: „Der Genuß an der reinen Form, wie wir ihn bei den Griechen verkörpert (!) sehen, genügt dem Deutschen nicht, er will sich bei einem Kunstwerke auch etwas denken können." Der Satz sieht ans wie Sinn und ist doch Unsinn. Ich frage zuerst: wie kann ein „Genuß verkörpert" sein? Ferner: war der Genuß an der reinen Form bei den Griechen wirklich verkörpert? Und drittens will sich der Deutsche bei einem Kunstwerke wirklich nnr etwas denken können? Immer wieder die alte Verwirrung von Gedanken und Begriffen! Herr Begas scheint gemeint zu haben, daß einst in Hellas das Volk an den Werken seiner Künstler nur die „reine Form" genossen habe, aber weit davon entfernt gewesen sei, sich dabei auch etwas denken zu wollen. Welche Unwissenheit! Weiß er denn nicht, daß die ganz von Geist und Poesie erfüllte Gricchenreligion in jenen Kunstwerken verkörpert war? daß der griechische Künstler, wenigstens der guten Zeit, mit heiliger Scheu in dem Bewußtsein arbeitete, daß die Götter sahen, was er schuf und machte? Weiß er nicht, daß Phidias, für den er ja zu schwärmen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/187>, abgerufen am 16.06.2024.