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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Christentum und die soziale Frage

höchster und ausschließlicher Zweck; bleibt sie das nicht, so bleibt sie über¬
haupt nicht lebendig. Carlyle hat das aufs schärfste in den bekannten Worten
ausgesprochen: "Denke dir einen Menschen, der seinen Mitmenschen empfiehlt,
an Gott zu glauben, damit der Chartismus ins Hintertreffen komme und die
Arbeiter in Manchester ruhig an ihren Spinnmaschinen bleiben. Diese Idee
ist toller als die um irgend einer Plakatstange, die man bis jetzt auf einer
öffentlichen Straße gesehen hat. Mein Freund, du wirst finden, daß aller
Chartismus, alle Manchesterprozesse, die parlamentarische Unfähigkeit, die Wind¬
beutelministerien, die wildeste soziale Auflösung, ja das Verbrennen des ganzen
Planeten im Vergleich damit eine ungeheure Kleinigkeit sind. Ebenso gut
könnte ich mir einfallen lassen, Milchstraßen und Sonnensysteme zu schaffen,
damit kleine Heringsschiffe sich darnach richteten, als deshalb Religion zu pre¬
digen, damit der Konstabler möglich bleibe." Carlyle hat die Vertreter solcher
Ansichten sicherlich zu den "Teuselskindern" schlimmster Art gerechnet. Das
Christentum hat nur ein Ziel: ein Leben zu wecken, das nicht von dieser Welt
ist; diesem Ziele muß sich alles andre unterordnen. Darum kann es nur ge¬
deihen, wenn es um sein selbst willen ohne alle Nebengedanken gepflegt wird.
Will man es andern Zwecken dienstbar machen, so verwelkt es; es ist und
leistet dann gar nichts.

Ebenso gefährlich ist es, wenn sich das Christentum auf irgend etwas
andres stützen soll als auf sein eigenstes inneres Wesen, auf die Kraft des
göttlichen Lebens, die in ihm ist. Kingsleys bester Roman "Hypatia" schildert
meisterhaft die traurigen Folgen jedes solchen Versuchs. Sohm hat im ersten
Bande seines Kirchenrechts die Unvereinbarkeit äußerer Rechtsmittel mit dem
Wesen der Kirche dargethan; was er ausführt, gilt ebenso gegen jeden Versuch,
die Kirche für eine besondre soziale Thätigkeit als ihre heutige Aufgabe in
Anspruch zu nehmen.

Solche Gedanken werden ja auch von Männern der verschiedensten theolo¬
gischen und kirchlichen Richtung betont; es wird kaum einen Theologen geben,
der sie nicht theoretisch zugäbe. Aber in der Anwendung jener einfachen Sätze
auf die Fragen unsrer Zeit zeigt sich unendlich viel Verwirrung und Unklar¬
heit. Und doch sollte darin nicht viel Zweifel möglich sein. --

Das Christentum ist Religion, Gewißheit eines überweltlichen Lebens,
dem das irdische Leben mit seinen Gütern dienen soll. Damit ist auch un¬
mittelbar gegeben der Gegensatz von Gut und Vöse, von Recht und Unrecht,
von Wahrheit und Lüge. Das staatliche und soziale Gebiet wird der Christ
stets als Mittel zu einem höhern ansehen und für seine Thätigkeit darin die
Forderung des Rechten, Guten, Wahren in allem Thun und Lassen festhalten.

Aber die Religion giebt ihm nur Auskunft über das letzte Ziel des
Menschenlebens und über das Verhältnis der irdischen Lebensgebiete zu dem
höchsten Leben, sie giebt ihm, um einen gebräuchlichen Ausdruck anzuwenden,


Das Christentum und die soziale Frage

höchster und ausschließlicher Zweck; bleibt sie das nicht, so bleibt sie über¬
haupt nicht lebendig. Carlyle hat das aufs schärfste in den bekannten Worten
ausgesprochen: „Denke dir einen Menschen, der seinen Mitmenschen empfiehlt,
an Gott zu glauben, damit der Chartismus ins Hintertreffen komme und die
Arbeiter in Manchester ruhig an ihren Spinnmaschinen bleiben. Diese Idee
ist toller als die um irgend einer Plakatstange, die man bis jetzt auf einer
öffentlichen Straße gesehen hat. Mein Freund, du wirst finden, daß aller
Chartismus, alle Manchesterprozesse, die parlamentarische Unfähigkeit, die Wind¬
beutelministerien, die wildeste soziale Auflösung, ja das Verbrennen des ganzen
Planeten im Vergleich damit eine ungeheure Kleinigkeit sind. Ebenso gut
könnte ich mir einfallen lassen, Milchstraßen und Sonnensysteme zu schaffen,
damit kleine Heringsschiffe sich darnach richteten, als deshalb Religion zu pre¬
digen, damit der Konstabler möglich bleibe." Carlyle hat die Vertreter solcher
Ansichten sicherlich zu den „Teuselskindern" schlimmster Art gerechnet. Das
Christentum hat nur ein Ziel: ein Leben zu wecken, das nicht von dieser Welt
ist; diesem Ziele muß sich alles andre unterordnen. Darum kann es nur ge¬
deihen, wenn es um sein selbst willen ohne alle Nebengedanken gepflegt wird.
Will man es andern Zwecken dienstbar machen, so verwelkt es; es ist und
leistet dann gar nichts.

Ebenso gefährlich ist es, wenn sich das Christentum auf irgend etwas
andres stützen soll als auf sein eigenstes inneres Wesen, auf die Kraft des
göttlichen Lebens, die in ihm ist. Kingsleys bester Roman „Hypatia" schildert
meisterhaft die traurigen Folgen jedes solchen Versuchs. Sohm hat im ersten
Bande seines Kirchenrechts die Unvereinbarkeit äußerer Rechtsmittel mit dem
Wesen der Kirche dargethan; was er ausführt, gilt ebenso gegen jeden Versuch,
die Kirche für eine besondre soziale Thätigkeit als ihre heutige Aufgabe in
Anspruch zu nehmen.

Solche Gedanken werden ja auch von Männern der verschiedensten theolo¬
gischen und kirchlichen Richtung betont; es wird kaum einen Theologen geben,
der sie nicht theoretisch zugäbe. Aber in der Anwendung jener einfachen Sätze
auf die Fragen unsrer Zeit zeigt sich unendlich viel Verwirrung und Unklar¬
heit. Und doch sollte darin nicht viel Zweifel möglich sein. —

Das Christentum ist Religion, Gewißheit eines überweltlichen Lebens,
dem das irdische Leben mit seinen Gütern dienen soll. Damit ist auch un¬
mittelbar gegeben der Gegensatz von Gut und Vöse, von Recht und Unrecht,
von Wahrheit und Lüge. Das staatliche und soziale Gebiet wird der Christ
stets als Mittel zu einem höhern ansehen und für seine Thätigkeit darin die
Forderung des Rechten, Guten, Wahren in allem Thun und Lassen festhalten.

Aber die Religion giebt ihm nur Auskunft über das letzte Ziel des
Menschenlebens und über das Verhältnis der irdischen Lebensgebiete zu dem
höchsten Leben, sie giebt ihm, um einen gebräuchlichen Ausdruck anzuwenden,


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[0251] Das Christentum und die soziale Frage höchster und ausschließlicher Zweck; bleibt sie das nicht, so bleibt sie über¬ haupt nicht lebendig. Carlyle hat das aufs schärfste in den bekannten Worten ausgesprochen: „Denke dir einen Menschen, der seinen Mitmenschen empfiehlt, an Gott zu glauben, damit der Chartismus ins Hintertreffen komme und die Arbeiter in Manchester ruhig an ihren Spinnmaschinen bleiben. Diese Idee ist toller als die um irgend einer Plakatstange, die man bis jetzt auf einer öffentlichen Straße gesehen hat. Mein Freund, du wirst finden, daß aller Chartismus, alle Manchesterprozesse, die parlamentarische Unfähigkeit, die Wind¬ beutelministerien, die wildeste soziale Auflösung, ja das Verbrennen des ganzen Planeten im Vergleich damit eine ungeheure Kleinigkeit sind. Ebenso gut könnte ich mir einfallen lassen, Milchstraßen und Sonnensysteme zu schaffen, damit kleine Heringsschiffe sich darnach richteten, als deshalb Religion zu pre¬ digen, damit der Konstabler möglich bleibe." Carlyle hat die Vertreter solcher Ansichten sicherlich zu den „Teuselskindern" schlimmster Art gerechnet. Das Christentum hat nur ein Ziel: ein Leben zu wecken, das nicht von dieser Welt ist; diesem Ziele muß sich alles andre unterordnen. Darum kann es nur ge¬ deihen, wenn es um sein selbst willen ohne alle Nebengedanken gepflegt wird. Will man es andern Zwecken dienstbar machen, so verwelkt es; es ist und leistet dann gar nichts. Ebenso gefährlich ist es, wenn sich das Christentum auf irgend etwas andres stützen soll als auf sein eigenstes inneres Wesen, auf die Kraft des göttlichen Lebens, die in ihm ist. Kingsleys bester Roman „Hypatia" schildert meisterhaft die traurigen Folgen jedes solchen Versuchs. Sohm hat im ersten Bande seines Kirchenrechts die Unvereinbarkeit äußerer Rechtsmittel mit dem Wesen der Kirche dargethan; was er ausführt, gilt ebenso gegen jeden Versuch, die Kirche für eine besondre soziale Thätigkeit als ihre heutige Aufgabe in Anspruch zu nehmen. Solche Gedanken werden ja auch von Männern der verschiedensten theolo¬ gischen und kirchlichen Richtung betont; es wird kaum einen Theologen geben, der sie nicht theoretisch zugäbe. Aber in der Anwendung jener einfachen Sätze auf die Fragen unsrer Zeit zeigt sich unendlich viel Verwirrung und Unklar¬ heit. Und doch sollte darin nicht viel Zweifel möglich sein. — Das Christentum ist Religion, Gewißheit eines überweltlichen Lebens, dem das irdische Leben mit seinen Gütern dienen soll. Damit ist auch un¬ mittelbar gegeben der Gegensatz von Gut und Vöse, von Recht und Unrecht, von Wahrheit und Lüge. Das staatliche und soziale Gebiet wird der Christ stets als Mittel zu einem höhern ansehen und für seine Thätigkeit darin die Forderung des Rechten, Guten, Wahren in allem Thun und Lassen festhalten. Aber die Religion giebt ihm nur Auskunft über das letzte Ziel des Menschenlebens und über das Verhältnis der irdischen Lebensgebiete zu dem höchsten Leben, sie giebt ihm, um einen gebräuchlichen Ausdruck anzuwenden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/251>, abgerufen am 27.05.2024.