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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Völkern galt, war nicht vernünftig, entsprach aber wenigstens den Anforderungen
eines rohen Gerechtigkeitsgefühls. Unsre heutige Strafrechtspflege kümmert
sich für gewöhnlich um die erste, wichtigere Art, Gerechtigkeit zu üben, gar
nicht, und entledigt sich der zweiten Aufgabe in der denkbar kläglichsten Weise.
Zwischen einer Beleidigung und nenn Monaten Gefängnis besteht gar kein
erkennbarer Zusammenhang, und die Strafabmessungen sind ganz willkürlich.
Ellis meint, die Richter könnten die Monate oder Jahre Gefängnis, die ver¬
hängt werden sollen, eben so gut auswürfeln, als mit Hilfe ihrer Paragraphen
ermitteln, das Ergebnis würde um kein Haar sonderbarer ausfallen; in Eng¬
land sei, so viel sich erkennen lasse, die einzige für Strafbestimmungen ma߬
gebende Regel die Bevorzugung von Zahlen, die durch 5 teilbar sind.

Für den Schutz der Gesellschaft sorgt unsre Strafjustiz so gut wie gar
nicht. Man sperrt zu taufenden Leute ein, von denen nicht die geringste Ge¬
fahr zu befürchten ist, und notorische Verbrecher, von denen man weiß, daß
sie sich durch nichts als durch neue Verbrechen ernähren werden und ernähren
können, Bestien in Menschengestalt, deren verderbliche Neigungen und Ge¬
wohnheiten man kennt, läßt man nach abgesessener Strafzeit ungefesselt auf
den friedlichen Bürger los.

Daß die Absicht, durch Strafen vom Verbrechen abzuschrecken, überhaupt
nicht erreichbar ist, sollte doch eine dreitausendjährige Erfahrung endlich ge¬
lehrt haben. Strafandrohungen verhindern nur solche Handlungen, deren
Begehung oder Unterlassung ganz in der Willkür des Bedrohten liegt, und
das sind gewöhnlich keine Verbrechen. Wenn ich eines Abends vor dem Wege,
auf dem ich meinen gewöhnlichen Spaziergang zu machen Pflege, eine Tafel
aufgepflanzt finde mit der Inschrift: Das Betreten dieses Weges ist bei
30 Mark Strafe verboten, so fluche ich zwar ein wenig, lenke aber dennoch
meine Schritte anderswohin, ich müßte denn ein ebenso reicher als eigen¬
sinniger Engländer sein iind für den täglichen Spaziergang 30 Mark zahlen
wollen. Wenn ich aus Berichten über Gerichtsverhandlungen ersehe, daß man
einem angesehenen Manne zwar Unwahrheiten vorwerfen, ihn aber nicht Lügner
nennen dürfe, nun gut, dann nenne ich ihn bei vorkommender Veranlassung nicht
Lügner, sondern sage bloß: er hat gelogen. Wird auch dieses als zu grob nicht
gestattet, so sage ich: er hat die Unwahrheit gesprochen. Wird auch dieses, wird
überhaupt jede mißbilligende Kritik öffentlicher Personen, Einrichtungen, Ma߬
regeln verboten, dann wasche ich meine Hände in Unschuld und lasse die
Dinge laufen, wie sie laufen wollen, bis sie bei Panama, oder auf dem Gröve-
platz, oder in einer ähnlichen schönen Gegend ankommen. Fällt es den Ge¬
setzgebern ein, Majestätsbeleidigungsparagraphen zu machen, und beliebt es
dann den Juristen, das Sitzenbleiben bei Hochrufen auf den Kaiser Majestäts¬
beleidigung zu nennen, gut, dann schreien, mit Ausnahme der Überzeugungs-
fanatikcr, alle Unterthanen ohne Ausnahme: Hoch lebe der Kaiser! und wenn


Völkern galt, war nicht vernünftig, entsprach aber wenigstens den Anforderungen
eines rohen Gerechtigkeitsgefühls. Unsre heutige Strafrechtspflege kümmert
sich für gewöhnlich um die erste, wichtigere Art, Gerechtigkeit zu üben, gar
nicht, und entledigt sich der zweiten Aufgabe in der denkbar kläglichsten Weise.
Zwischen einer Beleidigung und nenn Monaten Gefängnis besteht gar kein
erkennbarer Zusammenhang, und die Strafabmessungen sind ganz willkürlich.
Ellis meint, die Richter könnten die Monate oder Jahre Gefängnis, die ver¬
hängt werden sollen, eben so gut auswürfeln, als mit Hilfe ihrer Paragraphen
ermitteln, das Ergebnis würde um kein Haar sonderbarer ausfallen; in Eng¬
land sei, so viel sich erkennen lasse, die einzige für Strafbestimmungen ma߬
gebende Regel die Bevorzugung von Zahlen, die durch 5 teilbar sind.

Für den Schutz der Gesellschaft sorgt unsre Strafjustiz so gut wie gar
nicht. Man sperrt zu taufenden Leute ein, von denen nicht die geringste Ge¬
fahr zu befürchten ist, und notorische Verbrecher, von denen man weiß, daß
sie sich durch nichts als durch neue Verbrechen ernähren werden und ernähren
können, Bestien in Menschengestalt, deren verderbliche Neigungen und Ge¬
wohnheiten man kennt, läßt man nach abgesessener Strafzeit ungefesselt auf
den friedlichen Bürger los.

Daß die Absicht, durch Strafen vom Verbrechen abzuschrecken, überhaupt
nicht erreichbar ist, sollte doch eine dreitausendjährige Erfahrung endlich ge¬
lehrt haben. Strafandrohungen verhindern nur solche Handlungen, deren
Begehung oder Unterlassung ganz in der Willkür des Bedrohten liegt, und
das sind gewöhnlich keine Verbrechen. Wenn ich eines Abends vor dem Wege,
auf dem ich meinen gewöhnlichen Spaziergang zu machen Pflege, eine Tafel
aufgepflanzt finde mit der Inschrift: Das Betreten dieses Weges ist bei
30 Mark Strafe verboten, so fluche ich zwar ein wenig, lenke aber dennoch
meine Schritte anderswohin, ich müßte denn ein ebenso reicher als eigen¬
sinniger Engländer sein iind für den täglichen Spaziergang 30 Mark zahlen
wollen. Wenn ich aus Berichten über Gerichtsverhandlungen ersehe, daß man
einem angesehenen Manne zwar Unwahrheiten vorwerfen, ihn aber nicht Lügner
nennen dürfe, nun gut, dann nenne ich ihn bei vorkommender Veranlassung nicht
Lügner, sondern sage bloß: er hat gelogen. Wird auch dieses als zu grob nicht
gestattet, so sage ich: er hat die Unwahrheit gesprochen. Wird auch dieses, wird
überhaupt jede mißbilligende Kritik öffentlicher Personen, Einrichtungen, Ma߬
regeln verboten, dann wasche ich meine Hände in Unschuld und lasse die
Dinge laufen, wie sie laufen wollen, bis sie bei Panama, oder auf dem Gröve-
platz, oder in einer ähnlichen schönen Gegend ankommen. Fällt es den Ge¬
setzgebern ein, Majestätsbeleidigungsparagraphen zu machen, und beliebt es
dann den Juristen, das Sitzenbleiben bei Hochrufen auf den Kaiser Majestäts¬
beleidigung zu nennen, gut, dann schreien, mit Ausnahme der Überzeugungs-
fanatikcr, alle Unterthanen ohne Ausnahme: Hoch lebe der Kaiser! und wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/261>, abgerufen am 12.05.2024.