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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

es Leute giebt, die ein Attentat oder eine Revolution vorbereiten, dann schreien
diese am allerlautesten und freuen sich der Byzantiner, die ihnen einen so
bequemen Deckmantel für ihre Pläne bereitet haben. Also von Übertretung
solcher willkürliche" Verbote schrecken Strafandrohungen ab, aber von Ver¬
brechen nicht. Denn Verbrechen werden nicht so willkürlich begangen, daß
sich der Verbrecher in dem Augenblick vorher sagte: das kannst du nun thun,
kannst es auch lassen, wie man des Abends beim Viere sagt: jetzt könnte ich
noch einen Schnitt trinken, kanns aber auch lassen. Sondern sie werden
entweder in der Lage begangen, wo man nur die Wahl hat zwischen ihnen
und zwischen einem andern großen Übel, wie Hunger oder Selbstmord, oder
sie werden unter der Herrschaft einer großen Leidenschaft verübt, die jede ruhige
Überlegung ausschließt. Gerade die bösartigsten, mit Überlegung begangnen
Verbrechen aber werden so sorgfältig vorbereitet, daß der Thäter die begrün¬
dete Aussicht hat, verborgen zu bleiben, also der Strafe zu entgehen, und
überhaupt werden ja die Verbrechen gewöhnlich nicht vor Zeugen und an
Orten verübt, wo man so leicht gesehen werden kann, wie bei einem Spazier-
gange auf verbotnen Wegen. Wenn ein Mann von Ehrgefühl, der in die
äußerste Not geraten ist, lieber in den Tod geht, als daß er bettelte oder
einem reichen Bäcker eine Fünfpfennigsemmel entwendete, so handelt er so,
nicht weil er etwa das Betteln oder die kleine Entwertung für eine unsühn-
bare Sünde hielte -- was nicht Gewissenhaftigkeit, sondern Narrheit wäre --,
noch weniger aus Furcht vor ein paar Tagen Gefängnis, denn die Karzer¬
strafe wegen eines Studentenstreichs oder ein paar Monate Festung wegen
eines Duells fürchtet er nicht, sondern weil ihn ein gemeines Vergehen für
immer von der Gesellschaft ausschließen würde, und weil der kleine Diebstahl
und der Psennigbettel für die gemeinsten aller Vergehungen gelten -- nur
der kleine Diebstahl und nur der Pfennigbettel. Bettelarmut schändet eben
heutzutage, und wer sie nicht länger verbergen kann, dem bleibt nur die Wahl
zwischen dem Leben des Geächteten und dem Tode.

Ist aber einer außerhalb der Gesellschaft geboren oder hat er sich in
die Lage des Ausgestoßenen gefunden, dann hat das heutige Gefängnis nichts
schreckliches mehr für ihn. Die englischen Sachkundigen, die Ellis anführt,
bezeugen übereinstimmend, daß die Lage des Gefangnen fast in jeder Be¬
ziehung angenehmer sei als die des ungelernten Arbeiters, und in Frankreich
kommt es nicht selten vor, daß Verbrecher das Gefängnis zu dem Zwecke auf¬
suchen, ihre geschwächte Gesundheit wieder herzustellen. Ein alter Sträfling,
dessen air vorn'-Ms -- ein Vorzug vieler alten Sträflinge -- sehr an Thiers
erinnerte, schrieb einst folgenden Brief an den Gefüngnisdirektor: "Mein Herr,
Sie kennen mich, Sie wissen, was ich wert bin und welche Dienste ich Ihnen
leisten kann. Ich soll nun demnächst wieder in die Welt gestoßen werden,
wo ich nichts anzufangen weiß. Sobald ich meine Ersparnisse aufgebraucht


Natur und Behandlung des Verbrechers

es Leute giebt, die ein Attentat oder eine Revolution vorbereiten, dann schreien
diese am allerlautesten und freuen sich der Byzantiner, die ihnen einen so
bequemen Deckmantel für ihre Pläne bereitet haben. Also von Übertretung
solcher willkürliche» Verbote schrecken Strafandrohungen ab, aber von Ver¬
brechen nicht. Denn Verbrechen werden nicht so willkürlich begangen, daß
sich der Verbrecher in dem Augenblick vorher sagte: das kannst du nun thun,
kannst es auch lassen, wie man des Abends beim Viere sagt: jetzt könnte ich
noch einen Schnitt trinken, kanns aber auch lassen. Sondern sie werden
entweder in der Lage begangen, wo man nur die Wahl hat zwischen ihnen
und zwischen einem andern großen Übel, wie Hunger oder Selbstmord, oder
sie werden unter der Herrschaft einer großen Leidenschaft verübt, die jede ruhige
Überlegung ausschließt. Gerade die bösartigsten, mit Überlegung begangnen
Verbrechen aber werden so sorgfältig vorbereitet, daß der Thäter die begrün¬
dete Aussicht hat, verborgen zu bleiben, also der Strafe zu entgehen, und
überhaupt werden ja die Verbrechen gewöhnlich nicht vor Zeugen und an
Orten verübt, wo man so leicht gesehen werden kann, wie bei einem Spazier-
gange auf verbotnen Wegen. Wenn ein Mann von Ehrgefühl, der in die
äußerste Not geraten ist, lieber in den Tod geht, als daß er bettelte oder
einem reichen Bäcker eine Fünfpfennigsemmel entwendete, so handelt er so,
nicht weil er etwa das Betteln oder die kleine Entwertung für eine unsühn-
bare Sünde hielte — was nicht Gewissenhaftigkeit, sondern Narrheit wäre —,
noch weniger aus Furcht vor ein paar Tagen Gefängnis, denn die Karzer¬
strafe wegen eines Studentenstreichs oder ein paar Monate Festung wegen
eines Duells fürchtet er nicht, sondern weil ihn ein gemeines Vergehen für
immer von der Gesellschaft ausschließen würde, und weil der kleine Diebstahl
und der Psennigbettel für die gemeinsten aller Vergehungen gelten — nur
der kleine Diebstahl und nur der Pfennigbettel. Bettelarmut schändet eben
heutzutage, und wer sie nicht länger verbergen kann, dem bleibt nur die Wahl
zwischen dem Leben des Geächteten und dem Tode.

Ist aber einer außerhalb der Gesellschaft geboren oder hat er sich in
die Lage des Ausgestoßenen gefunden, dann hat das heutige Gefängnis nichts
schreckliches mehr für ihn. Die englischen Sachkundigen, die Ellis anführt,
bezeugen übereinstimmend, daß die Lage des Gefangnen fast in jeder Be¬
ziehung angenehmer sei als die des ungelernten Arbeiters, und in Frankreich
kommt es nicht selten vor, daß Verbrecher das Gefängnis zu dem Zwecke auf¬
suchen, ihre geschwächte Gesundheit wieder herzustellen. Ein alter Sträfling,
dessen air vorn'-Ms — ein Vorzug vieler alten Sträflinge — sehr an Thiers
erinnerte, schrieb einst folgenden Brief an den Gefüngnisdirektor: „Mein Herr,
Sie kennen mich, Sie wissen, was ich wert bin und welche Dienste ich Ihnen
leisten kann. Ich soll nun demnächst wieder in die Welt gestoßen werden,
wo ich nichts anzufangen weiß. Sobald ich meine Ersparnisse aufgebraucht


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[0262] Natur und Behandlung des Verbrechers es Leute giebt, die ein Attentat oder eine Revolution vorbereiten, dann schreien diese am allerlautesten und freuen sich der Byzantiner, die ihnen einen so bequemen Deckmantel für ihre Pläne bereitet haben. Also von Übertretung solcher willkürliche» Verbote schrecken Strafandrohungen ab, aber von Ver¬ brechen nicht. Denn Verbrechen werden nicht so willkürlich begangen, daß sich der Verbrecher in dem Augenblick vorher sagte: das kannst du nun thun, kannst es auch lassen, wie man des Abends beim Viere sagt: jetzt könnte ich noch einen Schnitt trinken, kanns aber auch lassen. Sondern sie werden entweder in der Lage begangen, wo man nur die Wahl hat zwischen ihnen und zwischen einem andern großen Übel, wie Hunger oder Selbstmord, oder sie werden unter der Herrschaft einer großen Leidenschaft verübt, die jede ruhige Überlegung ausschließt. Gerade die bösartigsten, mit Überlegung begangnen Verbrechen aber werden so sorgfältig vorbereitet, daß der Thäter die begrün¬ dete Aussicht hat, verborgen zu bleiben, also der Strafe zu entgehen, und überhaupt werden ja die Verbrechen gewöhnlich nicht vor Zeugen und an Orten verübt, wo man so leicht gesehen werden kann, wie bei einem Spazier- gange auf verbotnen Wegen. Wenn ein Mann von Ehrgefühl, der in die äußerste Not geraten ist, lieber in den Tod geht, als daß er bettelte oder einem reichen Bäcker eine Fünfpfennigsemmel entwendete, so handelt er so, nicht weil er etwa das Betteln oder die kleine Entwertung für eine unsühn- bare Sünde hielte — was nicht Gewissenhaftigkeit, sondern Narrheit wäre —, noch weniger aus Furcht vor ein paar Tagen Gefängnis, denn die Karzer¬ strafe wegen eines Studentenstreichs oder ein paar Monate Festung wegen eines Duells fürchtet er nicht, sondern weil ihn ein gemeines Vergehen für immer von der Gesellschaft ausschließen würde, und weil der kleine Diebstahl und der Psennigbettel für die gemeinsten aller Vergehungen gelten — nur der kleine Diebstahl und nur der Pfennigbettel. Bettelarmut schändet eben heutzutage, und wer sie nicht länger verbergen kann, dem bleibt nur die Wahl zwischen dem Leben des Geächteten und dem Tode. Ist aber einer außerhalb der Gesellschaft geboren oder hat er sich in die Lage des Ausgestoßenen gefunden, dann hat das heutige Gefängnis nichts schreckliches mehr für ihn. Die englischen Sachkundigen, die Ellis anführt, bezeugen übereinstimmend, daß die Lage des Gefangnen fast in jeder Be¬ ziehung angenehmer sei als die des ungelernten Arbeiters, und in Frankreich kommt es nicht selten vor, daß Verbrecher das Gefängnis zu dem Zwecke auf¬ suchen, ihre geschwächte Gesundheit wieder herzustellen. Ein alter Sträfling, dessen air vorn'-Ms — ein Vorzug vieler alten Sträflinge — sehr an Thiers erinnerte, schrieb einst folgenden Brief an den Gefüngnisdirektor: „Mein Herr, Sie kennen mich, Sie wissen, was ich wert bin und welche Dienste ich Ihnen leisten kann. Ich soll nun demnächst wieder in die Welt gestoßen werden, wo ich nichts anzufangen weiß. Sobald ich meine Ersparnisse aufgebraucht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/262>, abgerufen am 23.05.2024.