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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

und mir ein paar gute Tage gemacht habe, werde ich mich sofort wieder ver¬
haften lassen. Darf ich Sie dann wohl um die Freundlichkeit bitten, mich,
wenn ich zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt werde, für Clcnrvaux zu
reklamiren? Ich werde Sie seinerzeit von Ort und Zeit unterrichten; haben
Sie unterdessen die Güte, einen Platz für mich zu reserviren. Weder Sie
noch ich werden diese Übereinkunft bereuen." Und in einem sizilianischen
"Volksliede" heißt es:

(Dem, der von der Vicaria -- einem Gefängnis zu Palermo -- schlecht
spricht, müßte das Gesicht zerschnitten werden, und wenn einer das Gefängnis
für eine Strafe hält, wie täuschest du dich, armer Narr? Hier allein findest
du Brüder und Freunde, Geld, gutes Essen und frohe Ruhe; draußen bist
du immer von Feinden umgeben, und kannst du nicht arbeiten, so stirbst du
Hungers.) Das nennt man heute in dem glorreich befreiten Italien Volks¬
lieder! Vielleicht bekommen wir Deutschen auch noch solche, da unsre alten
ja unter den heutigen Verhältnissen gar nicht mehr verstanden werden können,
und vielleicht auch nächstens als wider die Ordnung und gute Sitte verstoßend
werden verboten werden. Wie sehr das Gefängnis anch bei uns schon, im
Winter wenigstens, zur ersehnten Zufluchtsstätte geworden ist, wissen wir alle;
wie oft kommt es in Berlin vor, daß sich bei unfreundlichem Winterwetter
Leute zur Abbüßung einer Gefängnisstrafe melden und traurig wieder abziehen
müssen, weil kein Platz mehr frei ist!

schneidige Herren raten, den Verbrechern und Vagabunden die Freude
am Gefängnis durch Lattenarrest, Fasten und Schläge auszutreiben. Das
würde nun zunächst die Zahl der Selbstmorde bedeutend vermehren, was ja
unter den heutigen Umständen ein volkswirtschaftlicher Vorteil, aber den Ma߬
gebenden aus verschiednen Gründen sehr unbequem sein würde. Sodann sind
fortgesetzte Mißhandlungen nichts andres als eine langsame Hinrichtung, die
der kurzen und darum weit billigern einfachen Hinrichtung vorzuziehen höchst
unpraktisch wäre. Endlich erklären sich die meisten höhern Gefängnisbeamten
gegen das Prügelsystcm, weil häufiges Schlagen, wenn es wirkungsvoll aus¬
geführt wird, d. h. so, daß der Geprügelte vor Schmerz brüllt, sowohl die
Gefangnen wie das Gefängnispersonal brutalisirt, also die Gemütsverfassung,
ans der die Verbrechen hervorgehen, verallgemeinert. Was sollte auch ein


Natur und Behandlung des Verbrechers

und mir ein paar gute Tage gemacht habe, werde ich mich sofort wieder ver¬
haften lassen. Darf ich Sie dann wohl um die Freundlichkeit bitten, mich,
wenn ich zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt werde, für Clcnrvaux zu
reklamiren? Ich werde Sie seinerzeit von Ort und Zeit unterrichten; haben
Sie unterdessen die Güte, einen Platz für mich zu reserviren. Weder Sie
noch ich werden diese Übereinkunft bereuen." Und in einem sizilianischen
„Volksliede" heißt es:

(Dem, der von der Vicaria — einem Gefängnis zu Palermo — schlecht
spricht, müßte das Gesicht zerschnitten werden, und wenn einer das Gefängnis
für eine Strafe hält, wie täuschest du dich, armer Narr? Hier allein findest
du Brüder und Freunde, Geld, gutes Essen und frohe Ruhe; draußen bist
du immer von Feinden umgeben, und kannst du nicht arbeiten, so stirbst du
Hungers.) Das nennt man heute in dem glorreich befreiten Italien Volks¬
lieder! Vielleicht bekommen wir Deutschen auch noch solche, da unsre alten
ja unter den heutigen Verhältnissen gar nicht mehr verstanden werden können,
und vielleicht auch nächstens als wider die Ordnung und gute Sitte verstoßend
werden verboten werden. Wie sehr das Gefängnis anch bei uns schon, im
Winter wenigstens, zur ersehnten Zufluchtsstätte geworden ist, wissen wir alle;
wie oft kommt es in Berlin vor, daß sich bei unfreundlichem Winterwetter
Leute zur Abbüßung einer Gefängnisstrafe melden und traurig wieder abziehen
müssen, weil kein Platz mehr frei ist!

schneidige Herren raten, den Verbrechern und Vagabunden die Freude
am Gefängnis durch Lattenarrest, Fasten und Schläge auszutreiben. Das
würde nun zunächst die Zahl der Selbstmorde bedeutend vermehren, was ja
unter den heutigen Umständen ein volkswirtschaftlicher Vorteil, aber den Ma߬
gebenden aus verschiednen Gründen sehr unbequem sein würde. Sodann sind
fortgesetzte Mißhandlungen nichts andres als eine langsame Hinrichtung, die
der kurzen und darum weit billigern einfachen Hinrichtung vorzuziehen höchst
unpraktisch wäre. Endlich erklären sich die meisten höhern Gefängnisbeamten
gegen das Prügelsystcm, weil häufiges Schlagen, wenn es wirkungsvoll aus¬
geführt wird, d. h. so, daß der Geprügelte vor Schmerz brüllt, sowohl die
Gefangnen wie das Gefängnispersonal brutalisirt, also die Gemütsverfassung,
ans der die Verbrechen hervorgehen, verallgemeinert. Was sollte auch ein


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[0263] Natur und Behandlung des Verbrechers und mir ein paar gute Tage gemacht habe, werde ich mich sofort wieder ver¬ haften lassen. Darf ich Sie dann wohl um die Freundlichkeit bitten, mich, wenn ich zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt werde, für Clcnrvaux zu reklamiren? Ich werde Sie seinerzeit von Ort und Zeit unterrichten; haben Sie unterdessen die Güte, einen Platz für mich zu reserviren. Weder Sie noch ich werden diese Übereinkunft bereuen." Und in einem sizilianischen „Volksliede" heißt es: (Dem, der von der Vicaria — einem Gefängnis zu Palermo — schlecht spricht, müßte das Gesicht zerschnitten werden, und wenn einer das Gefängnis für eine Strafe hält, wie täuschest du dich, armer Narr? Hier allein findest du Brüder und Freunde, Geld, gutes Essen und frohe Ruhe; draußen bist du immer von Feinden umgeben, und kannst du nicht arbeiten, so stirbst du Hungers.) Das nennt man heute in dem glorreich befreiten Italien Volks¬ lieder! Vielleicht bekommen wir Deutschen auch noch solche, da unsre alten ja unter den heutigen Verhältnissen gar nicht mehr verstanden werden können, und vielleicht auch nächstens als wider die Ordnung und gute Sitte verstoßend werden verboten werden. Wie sehr das Gefängnis anch bei uns schon, im Winter wenigstens, zur ersehnten Zufluchtsstätte geworden ist, wissen wir alle; wie oft kommt es in Berlin vor, daß sich bei unfreundlichem Winterwetter Leute zur Abbüßung einer Gefängnisstrafe melden und traurig wieder abziehen müssen, weil kein Platz mehr frei ist! schneidige Herren raten, den Verbrechern und Vagabunden die Freude am Gefängnis durch Lattenarrest, Fasten und Schläge auszutreiben. Das würde nun zunächst die Zahl der Selbstmorde bedeutend vermehren, was ja unter den heutigen Umständen ein volkswirtschaftlicher Vorteil, aber den Ma߬ gebenden aus verschiednen Gründen sehr unbequem sein würde. Sodann sind fortgesetzte Mißhandlungen nichts andres als eine langsame Hinrichtung, die der kurzen und darum weit billigern einfachen Hinrichtung vorzuziehen höchst unpraktisch wäre. Endlich erklären sich die meisten höhern Gefängnisbeamten gegen das Prügelsystcm, weil häufiges Schlagen, wenn es wirkungsvoll aus¬ geführt wird, d. h. so, daß der Geprügelte vor Schmerz brüllt, sowohl die Gefangnen wie das Gefängnispersonal brutalisirt, also die Gemütsverfassung, ans der die Verbrechen hervorgehen, verallgemeinert. Was sollte auch ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/263>, abgerufen am 16.06.2024.