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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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^latur und Behandlung des Verbrechers

Gefängnis bestraft werden, fondern nur mit Geld; Unvermögende haben die
Buße durch Arbeit aufzubringen, entweder so, daß sie ihnen nach und nach
von ihrem Wochenverdienst abgezogen, oder, wenn dieser nur eben zum Leben
hinreicht, daß ihnen eine in der Freiheit zu verrichtende Feierabendarbeit zu¬
gewiesen wird. Dagegen ist die Entschädigung des Geschädigten im vollen Um¬
fange wieder einzuführen und selbstverständlich nicht nach der unansfiudbareu
Schuld des Schädigers, sondern nach dem Bedürfnis des Geschädigten zu be¬
messen: der Mörder eines Familienvaters hat die verwaiste Familie zu er¬
halten (?), der Schwüngerer eines Mädchens hat dieses zu versorgen und
das Kind, nicht, wie der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches will, dem
Stande der Mutter, sondern seinem eignen Stande gemäß zu erziehen u. s. w.
Geborne, also unverbesserliche Verbrecher sind entweder zu töten, oder zum
Schutze der Gesellschaft in lebenslänglichen sichern Gewahrsam zu bringen.
Auch Trunkenbolde, Halbblödsinnige, mit vererbbarem Krankheiten und Mängeln
behaftete müssen in Gewahrsam gebracht werden, damit sie keine Kinder zeugen
können.

Personen, die aus Leidenschaft, oder aus jugendlichem Leichtsinn, oder
aus Not, oder als Sprößlinge verkvmmner Eltern Verbrechen begangen haben,
sind allerdings in Haft zu nehmen, aber nicht zur Strafe, sondern zur Be¬
obachtung oder Erziehung; bei Leidenschaftsverbrechern und leichtsinnigen jungen
Leuten kann man die bedingte Verurteilung umwenden, mit der seit einiger Zeit
in verschiednen Ländern, namentlich in Belgien und in Nordamerika, Versuche
angestellt werden; man läßt den für ein erstes Vergehen zur Haft verurteilten
vorläufig frei und zieht ihn nur dann ein, wenn er sich wieder etwas zu
Schulden kommen läßt. Die Haft hat also zunächst den Zweck, den Verhaf¬
teten zu beobachten. Überzeugt man sich im Verlauf von einigen Wochen oder
Monaten, daß der Mensch einen guten Charakter hat, und daß es eine außer¬
gewöhnliche Lage gewesen sein muß, was ihn einmal die Selbstbeherrschung
hat verlieren lassen, so entläßt man ihn; andernfalls wird er so lange in Be¬
handlung genommen, bis er ein normaler Mensch geworden ist. Wird diese
Behandlung Besserung genannt, so beruht diese Ausdrucksweise auf einer Vor¬
aussetzung, die vor der Wissenschaft und Erfahrung so wenig Stand hält wie
vor den Lehren des Neuen Testaments, nämlich, daß die Menschen, die ein
Verbrechen begangen haben, schlecht, und daß die, die über sie richten, gut
seien. Wir haben über Güte und Schlechtigkeit unsers eignen oder eines fremden
Charakters so wenig ein Urteil wie über den Grad der Schuld eines Ver¬
brechers. Das Neue Testament erklärt alle Menschen für Sünder, was in die
Sprache der Wissenschaft und Erfahrung übersetzt bedeutet, daß alle ohne Aus¬
nahme, wenn sie uuter denselben ungünstigen Verhältnissen geboren würden
und aufwuchsen wie der Verbrecher und in die Lage kämen, worin er die That
verübt hat, genau dasselbe thun würden. Es handelt sich also darum, den


^latur und Behandlung des Verbrechers

Gefängnis bestraft werden, fondern nur mit Geld; Unvermögende haben die
Buße durch Arbeit aufzubringen, entweder so, daß sie ihnen nach und nach
von ihrem Wochenverdienst abgezogen, oder, wenn dieser nur eben zum Leben
hinreicht, daß ihnen eine in der Freiheit zu verrichtende Feierabendarbeit zu¬
gewiesen wird. Dagegen ist die Entschädigung des Geschädigten im vollen Um¬
fange wieder einzuführen und selbstverständlich nicht nach der unansfiudbareu
Schuld des Schädigers, sondern nach dem Bedürfnis des Geschädigten zu be¬
messen: der Mörder eines Familienvaters hat die verwaiste Familie zu er¬
halten (?), der Schwüngerer eines Mädchens hat dieses zu versorgen und
das Kind, nicht, wie der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches will, dem
Stande der Mutter, sondern seinem eignen Stande gemäß zu erziehen u. s. w.
Geborne, also unverbesserliche Verbrecher sind entweder zu töten, oder zum
Schutze der Gesellschaft in lebenslänglichen sichern Gewahrsam zu bringen.
Auch Trunkenbolde, Halbblödsinnige, mit vererbbarem Krankheiten und Mängeln
behaftete müssen in Gewahrsam gebracht werden, damit sie keine Kinder zeugen
können.

Personen, die aus Leidenschaft, oder aus jugendlichem Leichtsinn, oder
aus Not, oder als Sprößlinge verkvmmner Eltern Verbrechen begangen haben,
sind allerdings in Haft zu nehmen, aber nicht zur Strafe, sondern zur Be¬
obachtung oder Erziehung; bei Leidenschaftsverbrechern und leichtsinnigen jungen
Leuten kann man die bedingte Verurteilung umwenden, mit der seit einiger Zeit
in verschiednen Ländern, namentlich in Belgien und in Nordamerika, Versuche
angestellt werden; man läßt den für ein erstes Vergehen zur Haft verurteilten
vorläufig frei und zieht ihn nur dann ein, wenn er sich wieder etwas zu
Schulden kommen läßt. Die Haft hat also zunächst den Zweck, den Verhaf¬
teten zu beobachten. Überzeugt man sich im Verlauf von einigen Wochen oder
Monaten, daß der Mensch einen guten Charakter hat, und daß es eine außer¬
gewöhnliche Lage gewesen sein muß, was ihn einmal die Selbstbeherrschung
hat verlieren lassen, so entläßt man ihn; andernfalls wird er so lange in Be¬
handlung genommen, bis er ein normaler Mensch geworden ist. Wird diese
Behandlung Besserung genannt, so beruht diese Ausdrucksweise auf einer Vor¬
aussetzung, die vor der Wissenschaft und Erfahrung so wenig Stand hält wie
vor den Lehren des Neuen Testaments, nämlich, daß die Menschen, die ein
Verbrechen begangen haben, schlecht, und daß die, die über sie richten, gut
seien. Wir haben über Güte und Schlechtigkeit unsers eignen oder eines fremden
Charakters so wenig ein Urteil wie über den Grad der Schuld eines Ver¬
brechers. Das Neue Testament erklärt alle Menschen für Sünder, was in die
Sprache der Wissenschaft und Erfahrung übersetzt bedeutet, daß alle ohne Aus¬
nahme, wenn sie uuter denselben ungünstigen Verhältnissen geboren würden
und aufwuchsen wie der Verbrecher und in die Lage kämen, worin er die That
verübt hat, genau dasselbe thun würden. Es handelt sich also darum, den


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[0268] ^latur und Behandlung des Verbrechers Gefängnis bestraft werden, fondern nur mit Geld; Unvermögende haben die Buße durch Arbeit aufzubringen, entweder so, daß sie ihnen nach und nach von ihrem Wochenverdienst abgezogen, oder, wenn dieser nur eben zum Leben hinreicht, daß ihnen eine in der Freiheit zu verrichtende Feierabendarbeit zu¬ gewiesen wird. Dagegen ist die Entschädigung des Geschädigten im vollen Um¬ fange wieder einzuführen und selbstverständlich nicht nach der unansfiudbareu Schuld des Schädigers, sondern nach dem Bedürfnis des Geschädigten zu be¬ messen: der Mörder eines Familienvaters hat die verwaiste Familie zu er¬ halten (?), der Schwüngerer eines Mädchens hat dieses zu versorgen und das Kind, nicht, wie der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches will, dem Stande der Mutter, sondern seinem eignen Stande gemäß zu erziehen u. s. w. Geborne, also unverbesserliche Verbrecher sind entweder zu töten, oder zum Schutze der Gesellschaft in lebenslänglichen sichern Gewahrsam zu bringen. Auch Trunkenbolde, Halbblödsinnige, mit vererbbarem Krankheiten und Mängeln behaftete müssen in Gewahrsam gebracht werden, damit sie keine Kinder zeugen können. Personen, die aus Leidenschaft, oder aus jugendlichem Leichtsinn, oder aus Not, oder als Sprößlinge verkvmmner Eltern Verbrechen begangen haben, sind allerdings in Haft zu nehmen, aber nicht zur Strafe, sondern zur Be¬ obachtung oder Erziehung; bei Leidenschaftsverbrechern und leichtsinnigen jungen Leuten kann man die bedingte Verurteilung umwenden, mit der seit einiger Zeit in verschiednen Ländern, namentlich in Belgien und in Nordamerika, Versuche angestellt werden; man läßt den für ein erstes Vergehen zur Haft verurteilten vorläufig frei und zieht ihn nur dann ein, wenn er sich wieder etwas zu Schulden kommen läßt. Die Haft hat also zunächst den Zweck, den Verhaf¬ teten zu beobachten. Überzeugt man sich im Verlauf von einigen Wochen oder Monaten, daß der Mensch einen guten Charakter hat, und daß es eine außer¬ gewöhnliche Lage gewesen sein muß, was ihn einmal die Selbstbeherrschung hat verlieren lassen, so entläßt man ihn; andernfalls wird er so lange in Be¬ handlung genommen, bis er ein normaler Mensch geworden ist. Wird diese Behandlung Besserung genannt, so beruht diese Ausdrucksweise auf einer Vor¬ aussetzung, die vor der Wissenschaft und Erfahrung so wenig Stand hält wie vor den Lehren des Neuen Testaments, nämlich, daß die Menschen, die ein Verbrechen begangen haben, schlecht, und daß die, die über sie richten, gut seien. Wir haben über Güte und Schlechtigkeit unsers eignen oder eines fremden Charakters so wenig ein Urteil wie über den Grad der Schuld eines Ver¬ brechers. Das Neue Testament erklärt alle Menschen für Sünder, was in die Sprache der Wissenschaft und Erfahrung übersetzt bedeutet, daß alle ohne Aus¬ nahme, wenn sie uuter denselben ungünstigen Verhältnissen geboren würden und aufwuchsen wie der Verbrecher und in die Lage kämen, worin er die That verübt hat, genau dasselbe thun würden. Es handelt sich also darum, den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/268>, abgerufen am 06.06.2024.