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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die rechtliche Stellung des Arztes

und Berufspflichi nicht verantworten zu können, lediglich frei, das Dienst¬
verhältnis zu lösen; die Befugnis, seine Absichten gegen den erklärten oder
zu verankerten Willen des zahlenden Dienstbercchtigten durchzusetzen, hat er
keineswegs, vielmehr gehört es zu den Obliegenheiten des Vermieters, daß
er innerhalb der gezognen Grenzen sein Verhalten nach den Anordnungen des
Abmieters richtet.

Aus dem Vertragsabschluß zwischen dem Arzt und dem Kranken, der
nicht etwa schriftlich oder anch nur ausdrücklich erfolgen muß, und zu dessen
Vollendung es völlig genügt, daß der Arzt auf den Ruf des Kranken oder
unter Umständen, aus denen er die Genehmigung des Kranken schließen darf,
die Behandlung übernimmt, ergiebt sich eine Folge, an deren Verständnis es
der Mehrzahl der Ärzte gebricht: die Einwilligung des Kranken stellt die allei¬
nige und zugleich unerläßliche Voraussetzung für die Befugnis zu allen ärzt¬
lichen Maßnahmen dar. An dieser mangelt es aber von dem Augenblicke an,
wo der Kranke über seinen Zustand, die Wirkung der zur Verwendung kom¬
menden Mittel und die Aussicht, die sich sür seine Wiederherstellung bietet,
im Unklaren erhalten oder gar getäuscht wird. Eine allgemeine Berufspflicht
des ärztlichen Standes zur Rettung der erkrankten Menschheit läßt sich aus
nichts herleiten, und bei der Uneinigkeit, die unter den namhaftesten Vertretern
der medizinischen Wissenschaft fast immer herrscht -- man denke an den Streit
zwischen Koch und Pettenkofer --, und bei dem Wechsel, dem die Therapie
unterworfen ist, kann es nur gebilligt werden, daß sich die Gesetzgebung so
zurückhaltend verhält und z. B. der Entwurf des Reichsseuchengesetzes nicht
vorgelegt worden ist, durch dessen Inkrafttreten den Amtsärzten die Macht zü
den ärgsten Eingriffen in das persönliche Selbstbestimmungsrecht verliehen
worden wäre.

Nun können ja Fälle vorkommen, wo es mit Rücksicht auf die Natur des
Kranken oder seines Leidens nützlich wäre, er erführe über seinen Zustand,
den Verlauf und den mutmaßlichen Ausgang der Krankheit möglichst wenig.
Ohne Verletzung der Vertragspflichten läßt sich diese Ungewißheit bei Unmün¬
digen und Geisteskranken erreichen, da bei ihnen nicht der Kranke, fordernder
Vater oder Vormund die Rechtszuständigkeiten des Dienstherrn verwaltet. Was
volljährige Kranke angeht, so versteht es sich von selbst, daß der Arzt, der
nicht ein unmittelbares Verschulden auf sich laden will, sie weder mit über¬
flüssigen und ängstigenden Einzelheiten behelligen, noch ihnen etwaige un¬
günstige Aussichten in schonungsloser Form eröffnen darf. Dagegen ist es
eine Rechtswidrigst, wenn der Arzt die ernstliche Frage eines selbständigen
Kranken oder, wenn es sich um ein Kind handelt, des Vaters ausweichend
"der gar mit einer Unwahrheit beantwortet, und wer als Arzt gegenüber der
Aufforderung seines Dienstherrn die Erteilung wahrheitsgetreuer Auskunft zu
umgehen suchen wollte, würde sich sein vertragsmäßiges Entgelt erschleichen,


Gnnzboten I 1895 34
Die rechtliche Stellung des Arztes

und Berufspflichi nicht verantworten zu können, lediglich frei, das Dienst¬
verhältnis zu lösen; die Befugnis, seine Absichten gegen den erklärten oder
zu verankerten Willen des zahlenden Dienstbercchtigten durchzusetzen, hat er
keineswegs, vielmehr gehört es zu den Obliegenheiten des Vermieters, daß
er innerhalb der gezognen Grenzen sein Verhalten nach den Anordnungen des
Abmieters richtet.

Aus dem Vertragsabschluß zwischen dem Arzt und dem Kranken, der
nicht etwa schriftlich oder anch nur ausdrücklich erfolgen muß, und zu dessen
Vollendung es völlig genügt, daß der Arzt auf den Ruf des Kranken oder
unter Umständen, aus denen er die Genehmigung des Kranken schließen darf,
die Behandlung übernimmt, ergiebt sich eine Folge, an deren Verständnis es
der Mehrzahl der Ärzte gebricht: die Einwilligung des Kranken stellt die allei¬
nige und zugleich unerläßliche Voraussetzung für die Befugnis zu allen ärzt¬
lichen Maßnahmen dar. An dieser mangelt es aber von dem Augenblicke an,
wo der Kranke über seinen Zustand, die Wirkung der zur Verwendung kom¬
menden Mittel und die Aussicht, die sich sür seine Wiederherstellung bietet,
im Unklaren erhalten oder gar getäuscht wird. Eine allgemeine Berufspflicht
des ärztlichen Standes zur Rettung der erkrankten Menschheit läßt sich aus
nichts herleiten, und bei der Uneinigkeit, die unter den namhaftesten Vertretern
der medizinischen Wissenschaft fast immer herrscht — man denke an den Streit
zwischen Koch und Pettenkofer —, und bei dem Wechsel, dem die Therapie
unterworfen ist, kann es nur gebilligt werden, daß sich die Gesetzgebung so
zurückhaltend verhält und z. B. der Entwurf des Reichsseuchengesetzes nicht
vorgelegt worden ist, durch dessen Inkrafttreten den Amtsärzten die Macht zü
den ärgsten Eingriffen in das persönliche Selbstbestimmungsrecht verliehen
worden wäre.

Nun können ja Fälle vorkommen, wo es mit Rücksicht auf die Natur des
Kranken oder seines Leidens nützlich wäre, er erführe über seinen Zustand,
den Verlauf und den mutmaßlichen Ausgang der Krankheit möglichst wenig.
Ohne Verletzung der Vertragspflichten läßt sich diese Ungewißheit bei Unmün¬
digen und Geisteskranken erreichen, da bei ihnen nicht der Kranke, fordernder
Vater oder Vormund die Rechtszuständigkeiten des Dienstherrn verwaltet. Was
volljährige Kranke angeht, so versteht es sich von selbst, daß der Arzt, der
nicht ein unmittelbares Verschulden auf sich laden will, sie weder mit über¬
flüssigen und ängstigenden Einzelheiten behelligen, noch ihnen etwaige un¬
günstige Aussichten in schonungsloser Form eröffnen darf. Dagegen ist es
eine Rechtswidrigst, wenn der Arzt die ernstliche Frage eines selbständigen
Kranken oder, wenn es sich um ein Kind handelt, des Vaters ausweichend
»der gar mit einer Unwahrheit beantwortet, und wer als Arzt gegenüber der
Aufforderung seines Dienstherrn die Erteilung wahrheitsgetreuer Auskunft zu
umgehen suchen wollte, würde sich sein vertragsmäßiges Entgelt erschleichen,


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[0273] Die rechtliche Stellung des Arztes und Berufspflichi nicht verantworten zu können, lediglich frei, das Dienst¬ verhältnis zu lösen; die Befugnis, seine Absichten gegen den erklärten oder zu verankerten Willen des zahlenden Dienstbercchtigten durchzusetzen, hat er keineswegs, vielmehr gehört es zu den Obliegenheiten des Vermieters, daß er innerhalb der gezognen Grenzen sein Verhalten nach den Anordnungen des Abmieters richtet. Aus dem Vertragsabschluß zwischen dem Arzt und dem Kranken, der nicht etwa schriftlich oder anch nur ausdrücklich erfolgen muß, und zu dessen Vollendung es völlig genügt, daß der Arzt auf den Ruf des Kranken oder unter Umständen, aus denen er die Genehmigung des Kranken schließen darf, die Behandlung übernimmt, ergiebt sich eine Folge, an deren Verständnis es der Mehrzahl der Ärzte gebricht: die Einwilligung des Kranken stellt die allei¬ nige und zugleich unerläßliche Voraussetzung für die Befugnis zu allen ärzt¬ lichen Maßnahmen dar. An dieser mangelt es aber von dem Augenblicke an, wo der Kranke über seinen Zustand, die Wirkung der zur Verwendung kom¬ menden Mittel und die Aussicht, die sich sür seine Wiederherstellung bietet, im Unklaren erhalten oder gar getäuscht wird. Eine allgemeine Berufspflicht des ärztlichen Standes zur Rettung der erkrankten Menschheit läßt sich aus nichts herleiten, und bei der Uneinigkeit, die unter den namhaftesten Vertretern der medizinischen Wissenschaft fast immer herrscht — man denke an den Streit zwischen Koch und Pettenkofer —, und bei dem Wechsel, dem die Therapie unterworfen ist, kann es nur gebilligt werden, daß sich die Gesetzgebung so zurückhaltend verhält und z. B. der Entwurf des Reichsseuchengesetzes nicht vorgelegt worden ist, durch dessen Inkrafttreten den Amtsärzten die Macht zü den ärgsten Eingriffen in das persönliche Selbstbestimmungsrecht verliehen worden wäre. Nun können ja Fälle vorkommen, wo es mit Rücksicht auf die Natur des Kranken oder seines Leidens nützlich wäre, er erführe über seinen Zustand, den Verlauf und den mutmaßlichen Ausgang der Krankheit möglichst wenig. Ohne Verletzung der Vertragspflichten läßt sich diese Ungewißheit bei Unmün¬ digen und Geisteskranken erreichen, da bei ihnen nicht der Kranke, fordernder Vater oder Vormund die Rechtszuständigkeiten des Dienstherrn verwaltet. Was volljährige Kranke angeht, so versteht es sich von selbst, daß der Arzt, der nicht ein unmittelbares Verschulden auf sich laden will, sie weder mit über¬ flüssigen und ängstigenden Einzelheiten behelligen, noch ihnen etwaige un¬ günstige Aussichten in schonungsloser Form eröffnen darf. Dagegen ist es eine Rechtswidrigst, wenn der Arzt die ernstliche Frage eines selbständigen Kranken oder, wenn es sich um ein Kind handelt, des Vaters ausweichend »der gar mit einer Unwahrheit beantwortet, und wer als Arzt gegenüber der Aufforderung seines Dienstherrn die Erteilung wahrheitsgetreuer Auskunft zu umgehen suchen wollte, würde sich sein vertragsmäßiges Entgelt erschleichen, Gnnzboten I 1895 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/273>, abgerufen am 17.06.2024.