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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Parlament und Parlamentsdisziplin in England

längsten Regierung in der englischen Geschichte überhaupt -- ist diese Praxis
freilich vollständig außer Übung gekommen. Wahrscheinlich wird sie anch nie¬
mals wieder aufleben, da die Entwicklung des englischen Verfassungsrechts
dahin geht, daß der Souverän mehr und mehr in den Hintergrund tritt und
wenig mehr als das figürliche Haupt der Verfassung wird. Trotzdem giebt
es auch in dem Hause der Gemeinen gewisse herkömmliche Ehrfnrchtsbezeu-
gnngen bei Gelegenheit feierlicher vom Souverän aufgehender Eröffnungen,
Wenn Ihre Majestät dem Hause der Gemeinen eine wichtige Botschaft mitzu¬
teilen wünscht, die zugleich eine finanzielle Tragweite hat, so ist das Zere¬
moniell, daß der erste Minister oder der sogenannte Leiter des Hanfes an der
Schranke (dar) erscheint und verkündet, daß er vom Souverän eine Botschaft
erhalten habe. Der Sprecher fordert ihn auf, sie auf den Präsidenteusitz zu
bringen, und von dort aus wird sie dann verlesen. Die Etikette schreibt vor,
daß in dem Augenblick, wo der erste Minister die Botschaft des Souveräns
ankündigt, die Mitglieder des Hanfes ihre Häupter entblößen. Bei einer solchen
Gelegenheit, im Jahre 1882, lenkte ein Mitglied der Opposition "die Aufmerk¬
samkeit des Hauses auf die Thatsache." daß Mr. John Vright, der Quäker.
damals Mitglied der Regierung, seinen Hut nicht abgenommen habe, während
Mr. Gladstone die königliche Botschaft eingebracht habe. Der Sprecher suchte
der Sache mit der Behauptung auszuweichen, daß er nichts davon wahr¬
genommen habe, und als dasselbe Mitglied am nächsten Tage auf die Ange¬
legenheit zurückkam unter dem Vorwand, die Nichtigkeit des Sitzungsprvtokvlls
anzufechten, glitt der Sprecher über das Vorkommnis mit der Bemerkung
hinweg: es sei hergebrachte Sitte, den Hut abzunehmen, wenn eine Botschaft
des Souveräns angekündigt werde; sollte das irgend ein ehrenwertes Mitglied
unterlassen haben, so sei es wohl nur aus Unaufmerksamkeit geschehen. Dies
war das erste und letzte mal in einer sehr laugen Reihe von Jahren, daß die
Etiketteufrage in Sachen der Ehrfurchtsbezcugung vor dem regierenden Souverän
im englischen Parlament erhoben worden ist.

In dem Hause der Lords hat die Königin in Zwischenräumen von sechs
oder acht Jahren den Feierlichkeiten bei Eröffnung des Parlaments beigewohnt.
Wenn sie den Sitzungssaal betritt, so erheben sich die Lords jedesmal von
ihren Plätzen und bleiben eine Zeit lang stehen. Es ist jedoch schon viele
Jahre her, daß die Königin selbst die Thronrede verlesen hat. Diese Aufgabe
ist jetzt immer dem Lordkauzler zugefallen.

Abweichend von Deutschland sind im englischen Hause der Gemeinen die
Mitglieder der Regierung genau derselben Gerichtsbarkeit und Geschäftsord¬
nung unterworfen, wie die übrige" Mitglieder des Parlaments. Jeden Augen¬
blick kann jedes Mitglied gegen einen Kabiuetsminister oder ein Regiernngs-
mitglied zur Geschäftsordnung das Wort nehmen. Der Sprecher hat nicht
selten ein Mitglied der Negierung als out ok oräsr zurechtgewiesen, und inner-


Grenzbvten I 1895 39
Parlament und Parlamentsdisziplin in England

längsten Regierung in der englischen Geschichte überhaupt — ist diese Praxis
freilich vollständig außer Übung gekommen. Wahrscheinlich wird sie anch nie¬
mals wieder aufleben, da die Entwicklung des englischen Verfassungsrechts
dahin geht, daß der Souverän mehr und mehr in den Hintergrund tritt und
wenig mehr als das figürliche Haupt der Verfassung wird. Trotzdem giebt
es auch in dem Hause der Gemeinen gewisse herkömmliche Ehrfnrchtsbezeu-
gnngen bei Gelegenheit feierlicher vom Souverän aufgehender Eröffnungen,
Wenn Ihre Majestät dem Hause der Gemeinen eine wichtige Botschaft mitzu¬
teilen wünscht, die zugleich eine finanzielle Tragweite hat, so ist das Zere¬
moniell, daß der erste Minister oder der sogenannte Leiter des Hanfes an der
Schranke (dar) erscheint und verkündet, daß er vom Souverän eine Botschaft
erhalten habe. Der Sprecher fordert ihn auf, sie auf den Präsidenteusitz zu
bringen, und von dort aus wird sie dann verlesen. Die Etikette schreibt vor,
daß in dem Augenblick, wo der erste Minister die Botschaft des Souveräns
ankündigt, die Mitglieder des Hanfes ihre Häupter entblößen. Bei einer solchen
Gelegenheit, im Jahre 1882, lenkte ein Mitglied der Opposition „die Aufmerk¬
samkeit des Hauses auf die Thatsache." daß Mr. John Vright, der Quäker.
damals Mitglied der Regierung, seinen Hut nicht abgenommen habe, während
Mr. Gladstone die königliche Botschaft eingebracht habe. Der Sprecher suchte
der Sache mit der Behauptung auszuweichen, daß er nichts davon wahr¬
genommen habe, und als dasselbe Mitglied am nächsten Tage auf die Ange¬
legenheit zurückkam unter dem Vorwand, die Nichtigkeit des Sitzungsprvtokvlls
anzufechten, glitt der Sprecher über das Vorkommnis mit der Bemerkung
hinweg: es sei hergebrachte Sitte, den Hut abzunehmen, wenn eine Botschaft
des Souveräns angekündigt werde; sollte das irgend ein ehrenwertes Mitglied
unterlassen haben, so sei es wohl nur aus Unaufmerksamkeit geschehen. Dies
war das erste und letzte mal in einer sehr laugen Reihe von Jahren, daß die
Etiketteufrage in Sachen der Ehrfurchtsbezcugung vor dem regierenden Souverän
im englischen Parlament erhoben worden ist.

In dem Hause der Lords hat die Königin in Zwischenräumen von sechs
oder acht Jahren den Feierlichkeiten bei Eröffnung des Parlaments beigewohnt.
Wenn sie den Sitzungssaal betritt, so erheben sich die Lords jedesmal von
ihren Plätzen und bleiben eine Zeit lang stehen. Es ist jedoch schon viele
Jahre her, daß die Königin selbst die Thronrede verlesen hat. Diese Aufgabe
ist jetzt immer dem Lordkauzler zugefallen.

Abweichend von Deutschland sind im englischen Hause der Gemeinen die
Mitglieder der Regierung genau derselben Gerichtsbarkeit und Geschäftsord¬
nung unterworfen, wie die übrige» Mitglieder des Parlaments. Jeden Augen¬
blick kann jedes Mitglied gegen einen Kabiuetsminister oder ein Regiernngs-
mitglied zur Geschäftsordnung das Wort nehmen. Der Sprecher hat nicht
selten ein Mitglied der Negierung als out ok oräsr zurechtgewiesen, und inner-


Grenzbvten I 1895 39
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[0315] Parlament und Parlamentsdisziplin in England längsten Regierung in der englischen Geschichte überhaupt — ist diese Praxis freilich vollständig außer Übung gekommen. Wahrscheinlich wird sie anch nie¬ mals wieder aufleben, da die Entwicklung des englischen Verfassungsrechts dahin geht, daß der Souverän mehr und mehr in den Hintergrund tritt und wenig mehr als das figürliche Haupt der Verfassung wird. Trotzdem giebt es auch in dem Hause der Gemeinen gewisse herkömmliche Ehrfnrchtsbezeu- gnngen bei Gelegenheit feierlicher vom Souverän aufgehender Eröffnungen, Wenn Ihre Majestät dem Hause der Gemeinen eine wichtige Botschaft mitzu¬ teilen wünscht, die zugleich eine finanzielle Tragweite hat, so ist das Zere¬ moniell, daß der erste Minister oder der sogenannte Leiter des Hanfes an der Schranke (dar) erscheint und verkündet, daß er vom Souverän eine Botschaft erhalten habe. Der Sprecher fordert ihn auf, sie auf den Präsidenteusitz zu bringen, und von dort aus wird sie dann verlesen. Die Etikette schreibt vor, daß in dem Augenblick, wo der erste Minister die Botschaft des Souveräns ankündigt, die Mitglieder des Hanfes ihre Häupter entblößen. Bei einer solchen Gelegenheit, im Jahre 1882, lenkte ein Mitglied der Opposition „die Aufmerk¬ samkeit des Hauses auf die Thatsache." daß Mr. John Vright, der Quäker. damals Mitglied der Regierung, seinen Hut nicht abgenommen habe, während Mr. Gladstone die königliche Botschaft eingebracht habe. Der Sprecher suchte der Sache mit der Behauptung auszuweichen, daß er nichts davon wahr¬ genommen habe, und als dasselbe Mitglied am nächsten Tage auf die Ange¬ legenheit zurückkam unter dem Vorwand, die Nichtigkeit des Sitzungsprvtokvlls anzufechten, glitt der Sprecher über das Vorkommnis mit der Bemerkung hinweg: es sei hergebrachte Sitte, den Hut abzunehmen, wenn eine Botschaft des Souveräns angekündigt werde; sollte das irgend ein ehrenwertes Mitglied unterlassen haben, so sei es wohl nur aus Unaufmerksamkeit geschehen. Dies war das erste und letzte mal in einer sehr laugen Reihe von Jahren, daß die Etiketteufrage in Sachen der Ehrfurchtsbezcugung vor dem regierenden Souverän im englischen Parlament erhoben worden ist. In dem Hause der Lords hat die Königin in Zwischenräumen von sechs oder acht Jahren den Feierlichkeiten bei Eröffnung des Parlaments beigewohnt. Wenn sie den Sitzungssaal betritt, so erheben sich die Lords jedesmal von ihren Plätzen und bleiben eine Zeit lang stehen. Es ist jedoch schon viele Jahre her, daß die Königin selbst die Thronrede verlesen hat. Diese Aufgabe ist jetzt immer dem Lordkauzler zugefallen. Abweichend von Deutschland sind im englischen Hause der Gemeinen die Mitglieder der Regierung genau derselben Gerichtsbarkeit und Geschäftsord¬ nung unterworfen, wie die übrige» Mitglieder des Parlaments. Jeden Augen¬ blick kann jedes Mitglied gegen einen Kabiuetsminister oder ein Regiernngs- mitglied zur Geschäftsordnung das Wort nehmen. Der Sprecher hat nicht selten ein Mitglied der Negierung als out ok oräsr zurechtgewiesen, und inner- Grenzbvten I 1895 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/315>, abgerufen am 06.06.2024.