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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Lin neues Buch über das alte Italien

halb der letzten fünf Jahre ist dieses Schicksal sogar dem großen Parlamen¬
tarier Mr. Gladstone widerfahren. Doch wird den Ministern thatsächlich,
um die Geschäftsführung zu erleichtern, eine gewisse größere Nachsicht zuge¬
standen. Aus demselben Grunde pflegt man ihnen auch längere Ausführungen
zu gestatten, während dieses Vorrecht dem gewöhnlichen Parlamentarier "in
Reih und Glied" verweigert wird. Doch bei allen solchen Gelegenheiten ge¬
nießen die Mitglieder der Regierung diese Freiheiten nur mit der stillschweigenden
Billigung oder Nachsicht des ganzen Hauses.

Ein altes verfassungsmäßiges Vorrecht der ?. (Parlamentsmitglieder)
ist es, daß sie während der Dauer der Parlamentssession nicht wegen Schulden
verhaftet werden dürfen. Der Gedanke ist, daß sie deshalb nicht verhindert
werden dürfen, ihre Schuldigkeit gegen den Staat zu thun. Dagegen können
die Mitglieder, die sich einer strafbaren Handlung (oriens) schuldig gemacht
haben, jederzeit von den Gerichtsbeamten verhaftet werden; thatsächlich sind sie
auch schon sogar im Bereich des Parlamentsgebäudes festgenommen und zur
Haft gebracht worden. Die Frage der Verhaftung von Parlamentsmitgliedern
wurde neuerdings im Jahre 1881 bei Beratung der irischen Zwangsgesetze
erörtert. Bei dieser Gelegenheit berief sich Mr. Gladstone auf den alten be¬
rühmten Kommentator der englischen Gesetzgebung Blackstone dafür, daß das
Haus niemals Mitglieder in Schutz genommen habe, die eines Verstoßes gegen
das gemeine Strafgesetz beschuldigt worden seien.

Diese kurzen Bemerkungen können und sollen den Gegenstand nicht er¬
schöpfen. Auf Autoritäten habe ich mich, wie man sieht, nur wenig beziehen
können. Aber ich habe schon im Eingange bemerkt, daß sich das britische
Parlament im allerweitesten Umfange auf Überlieferung und festgehaltene Prä-
zedenzsälle gründet, ganz besonders auch, was die Leitung der Geschäfte mit
Rücksicht auf Würde und Anstand betrifft. Bücher, die sich in freier Dar¬
stellung, abgelöst von dem Zopfstil der technischen Bezeichnungen, mit dem
Gegenstande beschäftigten, giebt es nicht. Nur wer (wie der Verfasser dieser
Zeilen) jahrelang mit dem parlamentarischen und politischen Leben zu thun
gehabt hat, ist imstande, eine einigermaßen verständliche Auskunft darüber zu
geben, wie die Geschäfte in der "Mutter der Parlamente" erledigt zu werden
Pflegen.


Lharles Palmer


Lin neues Buch über das alte Italien

halb der letzten fünf Jahre ist dieses Schicksal sogar dem großen Parlamen¬
tarier Mr. Gladstone widerfahren. Doch wird den Ministern thatsächlich,
um die Geschäftsführung zu erleichtern, eine gewisse größere Nachsicht zuge¬
standen. Aus demselben Grunde pflegt man ihnen auch längere Ausführungen
zu gestatten, während dieses Vorrecht dem gewöhnlichen Parlamentarier „in
Reih und Glied" verweigert wird. Doch bei allen solchen Gelegenheiten ge¬
nießen die Mitglieder der Regierung diese Freiheiten nur mit der stillschweigenden
Billigung oder Nachsicht des ganzen Hauses.

Ein altes verfassungsmäßiges Vorrecht der ?. (Parlamentsmitglieder)
ist es, daß sie während der Dauer der Parlamentssession nicht wegen Schulden
verhaftet werden dürfen. Der Gedanke ist, daß sie deshalb nicht verhindert
werden dürfen, ihre Schuldigkeit gegen den Staat zu thun. Dagegen können
die Mitglieder, die sich einer strafbaren Handlung (oriens) schuldig gemacht
haben, jederzeit von den Gerichtsbeamten verhaftet werden; thatsächlich sind sie
auch schon sogar im Bereich des Parlamentsgebäudes festgenommen und zur
Haft gebracht worden. Die Frage der Verhaftung von Parlamentsmitgliedern
wurde neuerdings im Jahre 1881 bei Beratung der irischen Zwangsgesetze
erörtert. Bei dieser Gelegenheit berief sich Mr. Gladstone auf den alten be¬
rühmten Kommentator der englischen Gesetzgebung Blackstone dafür, daß das
Haus niemals Mitglieder in Schutz genommen habe, die eines Verstoßes gegen
das gemeine Strafgesetz beschuldigt worden seien.

Diese kurzen Bemerkungen können und sollen den Gegenstand nicht er¬
schöpfen. Auf Autoritäten habe ich mich, wie man sieht, nur wenig beziehen
können. Aber ich habe schon im Eingange bemerkt, daß sich das britische
Parlament im allerweitesten Umfange auf Überlieferung und festgehaltene Prä-
zedenzsälle gründet, ganz besonders auch, was die Leitung der Geschäfte mit
Rücksicht auf Würde und Anstand betrifft. Bücher, die sich in freier Dar¬
stellung, abgelöst von dem Zopfstil der technischen Bezeichnungen, mit dem
Gegenstande beschäftigten, giebt es nicht. Nur wer (wie der Verfasser dieser
Zeilen) jahrelang mit dem parlamentarischen und politischen Leben zu thun
gehabt hat, ist imstande, eine einigermaßen verständliche Auskunft darüber zu
geben, wie die Geschäfte in der „Mutter der Parlamente" erledigt zu werden
Pflegen.


Lharles Palmer


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[0316] Lin neues Buch über das alte Italien halb der letzten fünf Jahre ist dieses Schicksal sogar dem großen Parlamen¬ tarier Mr. Gladstone widerfahren. Doch wird den Ministern thatsächlich, um die Geschäftsführung zu erleichtern, eine gewisse größere Nachsicht zuge¬ standen. Aus demselben Grunde pflegt man ihnen auch längere Ausführungen zu gestatten, während dieses Vorrecht dem gewöhnlichen Parlamentarier „in Reih und Glied" verweigert wird. Doch bei allen solchen Gelegenheiten ge¬ nießen die Mitglieder der Regierung diese Freiheiten nur mit der stillschweigenden Billigung oder Nachsicht des ganzen Hauses. Ein altes verfassungsmäßiges Vorrecht der ?. (Parlamentsmitglieder) ist es, daß sie während der Dauer der Parlamentssession nicht wegen Schulden verhaftet werden dürfen. Der Gedanke ist, daß sie deshalb nicht verhindert werden dürfen, ihre Schuldigkeit gegen den Staat zu thun. Dagegen können die Mitglieder, die sich einer strafbaren Handlung (oriens) schuldig gemacht haben, jederzeit von den Gerichtsbeamten verhaftet werden; thatsächlich sind sie auch schon sogar im Bereich des Parlamentsgebäudes festgenommen und zur Haft gebracht worden. Die Frage der Verhaftung von Parlamentsmitgliedern wurde neuerdings im Jahre 1881 bei Beratung der irischen Zwangsgesetze erörtert. Bei dieser Gelegenheit berief sich Mr. Gladstone auf den alten be¬ rühmten Kommentator der englischen Gesetzgebung Blackstone dafür, daß das Haus niemals Mitglieder in Schutz genommen habe, die eines Verstoßes gegen das gemeine Strafgesetz beschuldigt worden seien. Diese kurzen Bemerkungen können und sollen den Gegenstand nicht er¬ schöpfen. Auf Autoritäten habe ich mich, wie man sieht, nur wenig beziehen können. Aber ich habe schon im Eingange bemerkt, daß sich das britische Parlament im allerweitesten Umfange auf Überlieferung und festgehaltene Prä- zedenzsälle gründet, ganz besonders auch, was die Leitung der Geschäfte mit Rücksicht auf Würde und Anstand betrifft. Bücher, die sich in freier Dar¬ stellung, abgelöst von dem Zopfstil der technischen Bezeichnungen, mit dem Gegenstande beschäftigten, giebt es nicht. Nur wer (wie der Verfasser dieser Zeilen) jahrelang mit dem parlamentarischen und politischen Leben zu thun gehabt hat, ist imstande, eine einigermaßen verständliche Auskunft darüber zu geben, wie die Geschäfte in der „Mutter der Parlamente" erledigt zu werden Pflegen. Lharles Palmer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/316>, abgerufen am 12.05.2024.