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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Lin neues Buch über das alte Italien

die Tibcrregulirung nötig war, und daß dabei manches Stück alter Kunst und
Kultur zum Opfer fallen mußte, wird kein vernünftiger Mensch der Stadt¬
verwaltung zum Vorwurf machen. Das war eine That, die dem Gemeinwohl,
namentlich in gesundheitlicher Beziehung, zu gute kommen wird. Warum hat
man aber nicht die Kraft gehabt oder die Macht geübt, der gemeinen Ban-
spekulatiou einen Riegel vorzuschieben? Wir hatten schon viel in den Zei¬
tungen von der Verwüstung des alten Roms, von der Verschleuderung alten
Grundbesitzes durch die römischen Adelsfamilien gelesen. Aber die meisten
deutschen Leser haben die üble Gewohnheit, jede nicht amtlich dnrch den Reichs-
anzeiger verbürgte Nachricht für eine Lüge oder doch sür eine mehr oder
weniger starke Übertreibung zu halten. Nun, bei Gsell-Fels lesen wir alles
klipp und klar. Eine Villa Ludovisi giebt es wirklich nicht mehr. Das Terrain
ist parzcllirt, um mit Mietkasernen bebaut zu werden, die berühmten Skulp¬
turen sind nach dem in der Nähe liegenden Pcilazzo Piombino geschafft worden,
und nur das angeblich von Domenichino erbaute Kasino mit den Fresken
Guercinvs ist -- auf wie lange noch? -- übrig geblieben.

Wir wollen diese melancholischen Betrachtungen nicht weiterspinnen. Wenn
auch Rom die Zentralsonne ist und bleiben wird, der alle nach Italien fah¬
renden zustreben, so giebt es doch noch so viele wenig besuchte Stätten alter
Kultur, namentlich im Osten der Apenninen, die die Denkmäler ihrer Ver¬
gangenheit besser gehütet und die Natur weniger verunstaltet haben als Rom,
daß die Reisenden, die den Ärger über das Verlorne durch neue Eindrücke be¬
sänftigen oder verwischen wollen, einmal von der großen Heerstraße abweichen
und sich in den von der modernen Kultur weniger berührten Städten und
Ortschaften in der östlichen Hälfte Italiens umsehen sollten. An bequemen
Eisenbahnverbindungen fehlt es nicht. Von Mailand und von Venedig gehen
Züge uach Bologna und von da nach Rimini. Hier tritt die Eisenbahnlinie
dicht ans Adriatischc Meer, das sie bis Brindisi begleitet. Aber die meisten
Reisenden, die diese Bahnlinie benutzen, wollen nach Griechenland, nach Kon¬
stantinopel, Ägypten und dem weitern Orient. Für den Freund der alten
Kunst und der italienischen Geschichte hört die Küstenfahrt spätestens bei Ancona
auf. Die Hauptpunkte, die ihn in den durch die Stationen Venedig, Bologna
und Ancona bezeichneten Spitzen des Eisenbahndreiecks auf längere Zeit fesseln,
sind Ferrara, Ravenna und Rimini.

An diese dritte Klasse von Reisenden dachte ich, als mir der Herausgeber
dieser Blätter vor einigen Wochen ein Buch übersandte, das schon darum eine
eigentümliche Stellung einnimmt, weil es -- in Deutschland ganz unerhört --
nicht auf dem Büchermarkte verkauft wird. Um so schwieriger ist meine Auf¬
gabe: ein Buch besprechen, das einer, der nicht in enger Beziehung zum Ver¬
fasser steht, nicht daraufhin kontrolliren kann, ob der Rezensent zu viel daran
gelobt oder zu viel daran getadelt hat! Doch findet sich am Ende ans allen


Lin neues Buch über das alte Italien

die Tibcrregulirung nötig war, und daß dabei manches Stück alter Kunst und
Kultur zum Opfer fallen mußte, wird kein vernünftiger Mensch der Stadt¬
verwaltung zum Vorwurf machen. Das war eine That, die dem Gemeinwohl,
namentlich in gesundheitlicher Beziehung, zu gute kommen wird. Warum hat
man aber nicht die Kraft gehabt oder die Macht geübt, der gemeinen Ban-
spekulatiou einen Riegel vorzuschieben? Wir hatten schon viel in den Zei¬
tungen von der Verwüstung des alten Roms, von der Verschleuderung alten
Grundbesitzes durch die römischen Adelsfamilien gelesen. Aber die meisten
deutschen Leser haben die üble Gewohnheit, jede nicht amtlich dnrch den Reichs-
anzeiger verbürgte Nachricht für eine Lüge oder doch sür eine mehr oder
weniger starke Übertreibung zu halten. Nun, bei Gsell-Fels lesen wir alles
klipp und klar. Eine Villa Ludovisi giebt es wirklich nicht mehr. Das Terrain
ist parzcllirt, um mit Mietkasernen bebaut zu werden, die berühmten Skulp¬
turen sind nach dem in der Nähe liegenden Pcilazzo Piombino geschafft worden,
und nur das angeblich von Domenichino erbaute Kasino mit den Fresken
Guercinvs ist — auf wie lange noch? — übrig geblieben.

Wir wollen diese melancholischen Betrachtungen nicht weiterspinnen. Wenn
auch Rom die Zentralsonne ist und bleiben wird, der alle nach Italien fah¬
renden zustreben, so giebt es doch noch so viele wenig besuchte Stätten alter
Kultur, namentlich im Osten der Apenninen, die die Denkmäler ihrer Ver¬
gangenheit besser gehütet und die Natur weniger verunstaltet haben als Rom,
daß die Reisenden, die den Ärger über das Verlorne durch neue Eindrücke be¬
sänftigen oder verwischen wollen, einmal von der großen Heerstraße abweichen
und sich in den von der modernen Kultur weniger berührten Städten und
Ortschaften in der östlichen Hälfte Italiens umsehen sollten. An bequemen
Eisenbahnverbindungen fehlt es nicht. Von Mailand und von Venedig gehen
Züge uach Bologna und von da nach Rimini. Hier tritt die Eisenbahnlinie
dicht ans Adriatischc Meer, das sie bis Brindisi begleitet. Aber die meisten
Reisenden, die diese Bahnlinie benutzen, wollen nach Griechenland, nach Kon¬
stantinopel, Ägypten und dem weitern Orient. Für den Freund der alten
Kunst und der italienischen Geschichte hört die Küstenfahrt spätestens bei Ancona
auf. Die Hauptpunkte, die ihn in den durch die Stationen Venedig, Bologna
und Ancona bezeichneten Spitzen des Eisenbahndreiecks auf längere Zeit fesseln,
sind Ferrara, Ravenna und Rimini.

An diese dritte Klasse von Reisenden dachte ich, als mir der Herausgeber
dieser Blätter vor einigen Wochen ein Buch übersandte, das schon darum eine
eigentümliche Stellung einnimmt, weil es — in Deutschland ganz unerhört —
nicht auf dem Büchermarkte verkauft wird. Um so schwieriger ist meine Auf¬
gabe: ein Buch besprechen, das einer, der nicht in enger Beziehung zum Ver¬
fasser steht, nicht daraufhin kontrolliren kann, ob der Rezensent zu viel daran
gelobt oder zu viel daran getadelt hat! Doch findet sich am Ende ans allen


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[0318] Lin neues Buch über das alte Italien die Tibcrregulirung nötig war, und daß dabei manches Stück alter Kunst und Kultur zum Opfer fallen mußte, wird kein vernünftiger Mensch der Stadt¬ verwaltung zum Vorwurf machen. Das war eine That, die dem Gemeinwohl, namentlich in gesundheitlicher Beziehung, zu gute kommen wird. Warum hat man aber nicht die Kraft gehabt oder die Macht geübt, der gemeinen Ban- spekulatiou einen Riegel vorzuschieben? Wir hatten schon viel in den Zei¬ tungen von der Verwüstung des alten Roms, von der Verschleuderung alten Grundbesitzes durch die römischen Adelsfamilien gelesen. Aber die meisten deutschen Leser haben die üble Gewohnheit, jede nicht amtlich dnrch den Reichs- anzeiger verbürgte Nachricht für eine Lüge oder doch sür eine mehr oder weniger starke Übertreibung zu halten. Nun, bei Gsell-Fels lesen wir alles klipp und klar. Eine Villa Ludovisi giebt es wirklich nicht mehr. Das Terrain ist parzcllirt, um mit Mietkasernen bebaut zu werden, die berühmten Skulp¬ turen sind nach dem in der Nähe liegenden Pcilazzo Piombino geschafft worden, und nur das angeblich von Domenichino erbaute Kasino mit den Fresken Guercinvs ist — auf wie lange noch? — übrig geblieben. Wir wollen diese melancholischen Betrachtungen nicht weiterspinnen. Wenn auch Rom die Zentralsonne ist und bleiben wird, der alle nach Italien fah¬ renden zustreben, so giebt es doch noch so viele wenig besuchte Stätten alter Kultur, namentlich im Osten der Apenninen, die die Denkmäler ihrer Ver¬ gangenheit besser gehütet und die Natur weniger verunstaltet haben als Rom, daß die Reisenden, die den Ärger über das Verlorne durch neue Eindrücke be¬ sänftigen oder verwischen wollen, einmal von der großen Heerstraße abweichen und sich in den von der modernen Kultur weniger berührten Städten und Ortschaften in der östlichen Hälfte Italiens umsehen sollten. An bequemen Eisenbahnverbindungen fehlt es nicht. Von Mailand und von Venedig gehen Züge uach Bologna und von da nach Rimini. Hier tritt die Eisenbahnlinie dicht ans Adriatischc Meer, das sie bis Brindisi begleitet. Aber die meisten Reisenden, die diese Bahnlinie benutzen, wollen nach Griechenland, nach Kon¬ stantinopel, Ägypten und dem weitern Orient. Für den Freund der alten Kunst und der italienischen Geschichte hört die Küstenfahrt spätestens bei Ancona auf. Die Hauptpunkte, die ihn in den durch die Stationen Venedig, Bologna und Ancona bezeichneten Spitzen des Eisenbahndreiecks auf längere Zeit fesseln, sind Ferrara, Ravenna und Rimini. An diese dritte Klasse von Reisenden dachte ich, als mir der Herausgeber dieser Blätter vor einigen Wochen ein Buch übersandte, das schon darum eine eigentümliche Stellung einnimmt, weil es — in Deutschland ganz unerhört — nicht auf dem Büchermarkte verkauft wird. Um so schwieriger ist meine Auf¬ gabe: ein Buch besprechen, das einer, der nicht in enger Beziehung zum Ver¬ fasser steht, nicht daraufhin kontrolliren kann, ob der Rezensent zu viel daran gelobt oder zu viel daran getadelt hat! Doch findet sich am Ende ans allen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/318>, abgerufen am 13.05.2024.