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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Nie neuosie Auflage der Geflügelten löorte

Wer dies oder jenes Wort erfunden und in die Litteratur eingeführt hat, mag
es nun ein tsririmus wolmious wie Ästhetik, Atlas, Telegramm, Kalauer,
mag es sonst irgend eine Neubildung oder Wortzusammensetzung sein -- was
hat das mit den Zitaten zu thun? Es sind längst aufgcnommne Wörter, keine
Zitate. Wer Ästhetik u. dergl. unter die Zitate rechnet, der darf auch Tele¬
phon, Velociped, Lokomotive nicht ausschließen. Dergleichen gehört aber ebenso
wenig hierher, wie die in unsre Sprache aufgenvmmnen Übersetzungen von
Fremdwörtern, z. B. Philipp von Zehens "lustwandeln" und "Gottestisch,"
Campes "Zerrbild," "Zartgefühl," "Stelldichein," "Umwälzung," oder Zahns
"Volkstum"; wenigstens sieht man nicht ein, weshalb dann Excellenz Stephan
mit "postlagernd" und "Fernsprecher" fehlen soll. Ebenso enthält Kapitel 1:
Biblische Zitate, eine Menge von Dingen, die man hier nicht sucht. Es mag
ja sein -- ich bin außer stände, es nachzuprüfen --, daß wir Worte wie
Menschenkinder, Gotteshaus, Nächstenliebe, Gotteslästerung, Schandfleck, Feld¬
geschrei, Lückenbüßer, stockfinster, Jugendsünden u. a. in. vor Luthers Bibel¬
übersetzung in der uns noch vorliegenden Litteratur nicht nachweisen können;
es mag sogar sein, daß in einigen dieser Fälle Luther wirklich das Wort
zuerst gebildet hat; aber Zitate, biblische Zitate sind sie nicht, in keinem
Sinne des Wortes.

Das ist aber nicht die einzige unberechtigte Erweiterung, die der Begriff
Zitat bei Büchmann erfahren hat; noch starker ist die Zahl der Ausdrücke
und Namen, die in unsrer Sprache Typen geworden sind und hier irrtümlich
als Zitate aufgeführt werden. Nehmen wir gleich das schon berührte erste
Kapitel, um daran den Unterschied klar zu machen. Aussprüche wie: "Auge
um Auge, Zahn um Zahn" oder "Bleibe im Lande und nähre dich redlich"
sind Zitate; auch Ausdrücke wie "Tohuwabohu," "Baum der Erkenntnis,"
"zur Salzsäule werden" können noch dafür gelten. Aber die babylonische
Verwirrung, die ägyptische Finsternis, der Uriasbrief, die Hiobspost u. dergl.
sind keine Zitate, sondern biblische Ereignisse und Thatsachen, die in metapho¬
rischer Anwendung bei uns typisch geworden sind. Dasselbe gilt von den
biblischen Persönlichkeiten, von Methusalem und Nimrod, von Benjamin und
Goliath, vom keuschen Joseph und vom weisen Salomo; man zitirt sie nicht,
sondern man braucht sie als Typen für gewisse körperliche oder geistige Eigen¬
schaften. Ganz dieselbe ungehörige Erweiterung des Begriffs Zitat weisen aber
auch die andern Kapitel auf. So hat im zweiten Kapitel (Zitate aus deutschen
Schriftstellern) der Bramarbas, die Guru, der Rinaldo ebenso wenig etwas
zu suchen, wie Karlchen Mießnick oder Müller und Schultze oder Wippchen;
bei den französischen Zitaten gehört zu den aus dem bezeichnenden Grunde
auszuscheidenden Seladon, Amphitryon, Tartüffe, Chauviu, bei den englischen
Utopien, Heißsporn, Caliban, Othello, Liliput, John Bull u. a. in. Ganz be¬
sonders sind es die von mir früher in zwei Artikeln der Grenzboten behau-


Nie neuosie Auflage der Geflügelten löorte

Wer dies oder jenes Wort erfunden und in die Litteratur eingeführt hat, mag
es nun ein tsririmus wolmious wie Ästhetik, Atlas, Telegramm, Kalauer,
mag es sonst irgend eine Neubildung oder Wortzusammensetzung sein — was
hat das mit den Zitaten zu thun? Es sind längst aufgcnommne Wörter, keine
Zitate. Wer Ästhetik u. dergl. unter die Zitate rechnet, der darf auch Tele¬
phon, Velociped, Lokomotive nicht ausschließen. Dergleichen gehört aber ebenso
wenig hierher, wie die in unsre Sprache aufgenvmmnen Übersetzungen von
Fremdwörtern, z. B. Philipp von Zehens „lustwandeln" und „Gottestisch,"
Campes „Zerrbild," „Zartgefühl," „Stelldichein," „Umwälzung," oder Zahns
„Volkstum"; wenigstens sieht man nicht ein, weshalb dann Excellenz Stephan
mit „postlagernd" und „Fernsprecher" fehlen soll. Ebenso enthält Kapitel 1:
Biblische Zitate, eine Menge von Dingen, die man hier nicht sucht. Es mag
ja sein — ich bin außer stände, es nachzuprüfen —, daß wir Worte wie
Menschenkinder, Gotteshaus, Nächstenliebe, Gotteslästerung, Schandfleck, Feld¬
geschrei, Lückenbüßer, stockfinster, Jugendsünden u. a. in. vor Luthers Bibel¬
übersetzung in der uns noch vorliegenden Litteratur nicht nachweisen können;
es mag sogar sein, daß in einigen dieser Fälle Luther wirklich das Wort
zuerst gebildet hat; aber Zitate, biblische Zitate sind sie nicht, in keinem
Sinne des Wortes.

Das ist aber nicht die einzige unberechtigte Erweiterung, die der Begriff
Zitat bei Büchmann erfahren hat; noch starker ist die Zahl der Ausdrücke
und Namen, die in unsrer Sprache Typen geworden sind und hier irrtümlich
als Zitate aufgeführt werden. Nehmen wir gleich das schon berührte erste
Kapitel, um daran den Unterschied klar zu machen. Aussprüche wie: „Auge
um Auge, Zahn um Zahn" oder „Bleibe im Lande und nähre dich redlich"
sind Zitate; auch Ausdrücke wie „Tohuwabohu," „Baum der Erkenntnis,"
„zur Salzsäule werden" können noch dafür gelten. Aber die babylonische
Verwirrung, die ägyptische Finsternis, der Uriasbrief, die Hiobspost u. dergl.
sind keine Zitate, sondern biblische Ereignisse und Thatsachen, die in metapho¬
rischer Anwendung bei uns typisch geworden sind. Dasselbe gilt von den
biblischen Persönlichkeiten, von Methusalem und Nimrod, von Benjamin und
Goliath, vom keuschen Joseph und vom weisen Salomo; man zitirt sie nicht,
sondern man braucht sie als Typen für gewisse körperliche oder geistige Eigen¬
schaften. Ganz dieselbe ungehörige Erweiterung des Begriffs Zitat weisen aber
auch die andern Kapitel auf. So hat im zweiten Kapitel (Zitate aus deutschen
Schriftstellern) der Bramarbas, die Guru, der Rinaldo ebenso wenig etwas
zu suchen, wie Karlchen Mießnick oder Müller und Schultze oder Wippchen;
bei den französischen Zitaten gehört zu den aus dem bezeichnenden Grunde
auszuscheidenden Seladon, Amphitryon, Tartüffe, Chauviu, bei den englischen
Utopien, Heißsporn, Caliban, Othello, Liliput, John Bull u. a. in. Ganz be¬
sonders sind es die von mir früher in zwei Artikeln der Grenzboten behau-


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[0325] Nie neuosie Auflage der Geflügelten löorte Wer dies oder jenes Wort erfunden und in die Litteratur eingeführt hat, mag es nun ein tsririmus wolmious wie Ästhetik, Atlas, Telegramm, Kalauer, mag es sonst irgend eine Neubildung oder Wortzusammensetzung sein — was hat das mit den Zitaten zu thun? Es sind längst aufgcnommne Wörter, keine Zitate. Wer Ästhetik u. dergl. unter die Zitate rechnet, der darf auch Tele¬ phon, Velociped, Lokomotive nicht ausschließen. Dergleichen gehört aber ebenso wenig hierher, wie die in unsre Sprache aufgenvmmnen Übersetzungen von Fremdwörtern, z. B. Philipp von Zehens „lustwandeln" und „Gottestisch," Campes „Zerrbild," „Zartgefühl," „Stelldichein," „Umwälzung," oder Zahns „Volkstum"; wenigstens sieht man nicht ein, weshalb dann Excellenz Stephan mit „postlagernd" und „Fernsprecher" fehlen soll. Ebenso enthält Kapitel 1: Biblische Zitate, eine Menge von Dingen, die man hier nicht sucht. Es mag ja sein — ich bin außer stände, es nachzuprüfen —, daß wir Worte wie Menschenkinder, Gotteshaus, Nächstenliebe, Gotteslästerung, Schandfleck, Feld¬ geschrei, Lückenbüßer, stockfinster, Jugendsünden u. a. in. vor Luthers Bibel¬ übersetzung in der uns noch vorliegenden Litteratur nicht nachweisen können; es mag sogar sein, daß in einigen dieser Fälle Luther wirklich das Wort zuerst gebildet hat; aber Zitate, biblische Zitate sind sie nicht, in keinem Sinne des Wortes. Das ist aber nicht die einzige unberechtigte Erweiterung, die der Begriff Zitat bei Büchmann erfahren hat; noch starker ist die Zahl der Ausdrücke und Namen, die in unsrer Sprache Typen geworden sind und hier irrtümlich als Zitate aufgeführt werden. Nehmen wir gleich das schon berührte erste Kapitel, um daran den Unterschied klar zu machen. Aussprüche wie: „Auge um Auge, Zahn um Zahn" oder „Bleibe im Lande und nähre dich redlich" sind Zitate; auch Ausdrücke wie „Tohuwabohu," „Baum der Erkenntnis," „zur Salzsäule werden" können noch dafür gelten. Aber die babylonische Verwirrung, die ägyptische Finsternis, der Uriasbrief, die Hiobspost u. dergl. sind keine Zitate, sondern biblische Ereignisse und Thatsachen, die in metapho¬ rischer Anwendung bei uns typisch geworden sind. Dasselbe gilt von den biblischen Persönlichkeiten, von Methusalem und Nimrod, von Benjamin und Goliath, vom keuschen Joseph und vom weisen Salomo; man zitirt sie nicht, sondern man braucht sie als Typen für gewisse körperliche oder geistige Eigen¬ schaften. Ganz dieselbe ungehörige Erweiterung des Begriffs Zitat weisen aber auch die andern Kapitel auf. So hat im zweiten Kapitel (Zitate aus deutschen Schriftstellern) der Bramarbas, die Guru, der Rinaldo ebenso wenig etwas zu suchen, wie Karlchen Mießnick oder Müller und Schultze oder Wippchen; bei den französischen Zitaten gehört zu den aus dem bezeichnenden Grunde auszuscheidenden Seladon, Amphitryon, Tartüffe, Chauviu, bei den englischen Utopien, Heißsporn, Caliban, Othello, Liliput, John Bull u. a. in. Ganz be¬ sonders sind es die von mir früher in zwei Artikeln der Grenzboten behau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/325>, abgerufen am 26.05.2024.