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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Der Untergang der Lide

Bremerhaven bis Terschelling-Feuerschiff sind 145 Seemeilen. Da die Elbe
16 Seemeilen in der Stunde lief und abends um sechs Uhr von Bremerhaven
abgefahren war, so kann man an der Hand der Karte leicht feststellen, in
welcher Gegend das Schiff gestanden haben muß.

Die öffentliche Meinung ist geneigt, die Schuld an dem schweren Mi߬
geschick ausschließlich dem englischen Dampfer Crathie beizumessen, wie sie sie
im Jahre 1883 dem Dampfer Sultan zugeschoben hat, als dieser nachts mit
der Cimbria zusammengestoßen war. Damals zeigte sich aber, daß die Cimbria
keineswegs freizusprechen war; die Aufstellung der Positions- oder Seiten¬
lichter war auf beiden Schiffen mangelhaft gewesen, es hatte mit dem Signal¬
apparat gehapert, und bei dem herrschenden Nebel hätte, der internationalen
Vorschrift gemäß, die Fahrt mehr eingeschränkt werden müssen. Die letzten Ur¬
sachen des Untergangs der Elbe sind noch nicht aufgeklärt, aber allem An¬
schein nach hat der englische Schiffer gegen das Straßenrecht gefehlt. nau¬
tisch mag der Fall wie so viele liegen: die Schiffe nähern sich einander,
und man erkennt, daß sich die Kurse schneiden werden; der zum Ausweichen
verpflichtete irrt sich aber hinsichtlich des Wo, weil er zwar die eigne, aber
nicht die fremde Geschwindigkeit genügend abzuschätzen vermag. Wahrscheinlich
lief der Personendampfer Elbe doppelt so rasch wie der Frachtdampfer Crathie.
Der Crathie erkannte die Elbe vermutlich nicht als Schnelldampfer und achtete
anfangs vielleicht mehr auf die in der Nähe befindlichen Fischerboote. Er
mochte glauben, den Schnittpunkt vor dem Gegner Passiren zu können. Un¬
glücklicherweise aber erreichte er ihn mit dem Gegner zu gleicher Zeit. In
solchen Fällen machen wohl beide Teile im letzten Augenblick noch eine ver¬
zweifelte Anstrengung, von einander loszukommen, ihr Schiff auf die Seite
zu bringen oder zurückzureißen. Allein entweder will es das Verhängnis,
daß diese Manöver einander nicht ergänzen, oder aber das Fahrzeug gehorcht
zu schwerfällig dem Ruder, wobei seine Bauart, die Art der Beladung und
der Wind mitsprechen, der diesmal mit großer Heftigkeit aus Südost geweht
haben soll. Die Elbe führte nur eine Schraube. Ehe ein großes Einschrauben¬
schiff aus der angenommnen Richtung gebracht werden kann, vergeht eine kost¬
bare Minute. Zweischraubenschiffe haben die Eigenschaft, daß sie unmittelbar
nach Umlegung des Ruders "abzufallen" beginnen, wenn die eine Maschine
rückwärts wirkt; das Schiff wird dann einerseits an seinem Orte festgehalten,
andrerseits mit der weiterstrebenden Kraft in der gewünschten Richtung gedreht.
Was auf der Elbe vor dem Zusammenstoß geschehen ist, welche Manöver der
Stellvertreter des Kapitäns im kritischen Augenblick angeordnet hat und ob sie
zweckmäßig waren, das zu ermitteln wird die zuständige Seebehörde bemüht
sein. Der Sachverhalt dürfte hier einfacher liegen als in dem Falle der Cimbria,
wo die nähere Feststellung sehr große Schwierigkeiten machte.

Von der Cimbria unterschied sich die Elbe ohne Zweifel durch größere


Der Untergang der Lide

Bremerhaven bis Terschelling-Feuerschiff sind 145 Seemeilen. Da die Elbe
16 Seemeilen in der Stunde lief und abends um sechs Uhr von Bremerhaven
abgefahren war, so kann man an der Hand der Karte leicht feststellen, in
welcher Gegend das Schiff gestanden haben muß.

Die öffentliche Meinung ist geneigt, die Schuld an dem schweren Mi߬
geschick ausschließlich dem englischen Dampfer Crathie beizumessen, wie sie sie
im Jahre 1883 dem Dampfer Sultan zugeschoben hat, als dieser nachts mit
der Cimbria zusammengestoßen war. Damals zeigte sich aber, daß die Cimbria
keineswegs freizusprechen war; die Aufstellung der Positions- oder Seiten¬
lichter war auf beiden Schiffen mangelhaft gewesen, es hatte mit dem Signal¬
apparat gehapert, und bei dem herrschenden Nebel hätte, der internationalen
Vorschrift gemäß, die Fahrt mehr eingeschränkt werden müssen. Die letzten Ur¬
sachen des Untergangs der Elbe sind noch nicht aufgeklärt, aber allem An¬
schein nach hat der englische Schiffer gegen das Straßenrecht gefehlt. nau¬
tisch mag der Fall wie so viele liegen: die Schiffe nähern sich einander,
und man erkennt, daß sich die Kurse schneiden werden; der zum Ausweichen
verpflichtete irrt sich aber hinsichtlich des Wo, weil er zwar die eigne, aber
nicht die fremde Geschwindigkeit genügend abzuschätzen vermag. Wahrscheinlich
lief der Personendampfer Elbe doppelt so rasch wie der Frachtdampfer Crathie.
Der Crathie erkannte die Elbe vermutlich nicht als Schnelldampfer und achtete
anfangs vielleicht mehr auf die in der Nähe befindlichen Fischerboote. Er
mochte glauben, den Schnittpunkt vor dem Gegner Passiren zu können. Un¬
glücklicherweise aber erreichte er ihn mit dem Gegner zu gleicher Zeit. In
solchen Fällen machen wohl beide Teile im letzten Augenblick noch eine ver¬
zweifelte Anstrengung, von einander loszukommen, ihr Schiff auf die Seite
zu bringen oder zurückzureißen. Allein entweder will es das Verhängnis,
daß diese Manöver einander nicht ergänzen, oder aber das Fahrzeug gehorcht
zu schwerfällig dem Ruder, wobei seine Bauart, die Art der Beladung und
der Wind mitsprechen, der diesmal mit großer Heftigkeit aus Südost geweht
haben soll. Die Elbe führte nur eine Schraube. Ehe ein großes Einschrauben¬
schiff aus der angenommnen Richtung gebracht werden kann, vergeht eine kost¬
bare Minute. Zweischraubenschiffe haben die Eigenschaft, daß sie unmittelbar
nach Umlegung des Ruders „abzufallen" beginnen, wenn die eine Maschine
rückwärts wirkt; das Schiff wird dann einerseits an seinem Orte festgehalten,
andrerseits mit der weiterstrebenden Kraft in der gewünschten Richtung gedreht.
Was auf der Elbe vor dem Zusammenstoß geschehen ist, welche Manöver der
Stellvertreter des Kapitäns im kritischen Augenblick angeordnet hat und ob sie
zweckmäßig waren, das zu ermitteln wird die zuständige Seebehörde bemüht
sein. Der Sachverhalt dürfte hier einfacher liegen als in dem Falle der Cimbria,
wo die nähere Feststellung sehr große Schwierigkeiten machte.

Von der Cimbria unterschied sich die Elbe ohne Zweifel durch größere


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[0356] Der Untergang der Lide Bremerhaven bis Terschelling-Feuerschiff sind 145 Seemeilen. Da die Elbe 16 Seemeilen in der Stunde lief und abends um sechs Uhr von Bremerhaven abgefahren war, so kann man an der Hand der Karte leicht feststellen, in welcher Gegend das Schiff gestanden haben muß. Die öffentliche Meinung ist geneigt, die Schuld an dem schweren Mi߬ geschick ausschließlich dem englischen Dampfer Crathie beizumessen, wie sie sie im Jahre 1883 dem Dampfer Sultan zugeschoben hat, als dieser nachts mit der Cimbria zusammengestoßen war. Damals zeigte sich aber, daß die Cimbria keineswegs freizusprechen war; die Aufstellung der Positions- oder Seiten¬ lichter war auf beiden Schiffen mangelhaft gewesen, es hatte mit dem Signal¬ apparat gehapert, und bei dem herrschenden Nebel hätte, der internationalen Vorschrift gemäß, die Fahrt mehr eingeschränkt werden müssen. Die letzten Ur¬ sachen des Untergangs der Elbe sind noch nicht aufgeklärt, aber allem An¬ schein nach hat der englische Schiffer gegen das Straßenrecht gefehlt. nau¬ tisch mag der Fall wie so viele liegen: die Schiffe nähern sich einander, und man erkennt, daß sich die Kurse schneiden werden; der zum Ausweichen verpflichtete irrt sich aber hinsichtlich des Wo, weil er zwar die eigne, aber nicht die fremde Geschwindigkeit genügend abzuschätzen vermag. Wahrscheinlich lief der Personendampfer Elbe doppelt so rasch wie der Frachtdampfer Crathie. Der Crathie erkannte die Elbe vermutlich nicht als Schnelldampfer und achtete anfangs vielleicht mehr auf die in der Nähe befindlichen Fischerboote. Er mochte glauben, den Schnittpunkt vor dem Gegner Passiren zu können. Un¬ glücklicherweise aber erreichte er ihn mit dem Gegner zu gleicher Zeit. In solchen Fällen machen wohl beide Teile im letzten Augenblick noch eine ver¬ zweifelte Anstrengung, von einander loszukommen, ihr Schiff auf die Seite zu bringen oder zurückzureißen. Allein entweder will es das Verhängnis, daß diese Manöver einander nicht ergänzen, oder aber das Fahrzeug gehorcht zu schwerfällig dem Ruder, wobei seine Bauart, die Art der Beladung und der Wind mitsprechen, der diesmal mit großer Heftigkeit aus Südost geweht haben soll. Die Elbe führte nur eine Schraube. Ehe ein großes Einschrauben¬ schiff aus der angenommnen Richtung gebracht werden kann, vergeht eine kost¬ bare Minute. Zweischraubenschiffe haben die Eigenschaft, daß sie unmittelbar nach Umlegung des Ruders „abzufallen" beginnen, wenn die eine Maschine rückwärts wirkt; das Schiff wird dann einerseits an seinem Orte festgehalten, andrerseits mit der weiterstrebenden Kraft in der gewünschten Richtung gedreht. Was auf der Elbe vor dem Zusammenstoß geschehen ist, welche Manöver der Stellvertreter des Kapitäns im kritischen Augenblick angeordnet hat und ob sie zweckmäßig waren, das zu ermitteln wird die zuständige Seebehörde bemüht sein. Der Sachverhalt dürfte hier einfacher liegen als in dem Falle der Cimbria, wo die nähere Feststellung sehr große Schwierigkeiten machte. Von der Cimbria unterschied sich die Elbe ohne Zweifel durch größere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/356>, abgerufen am 11.05.2024.