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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Der Untergang der Lide

doch die Erfahrung gezeigt, daß schon der Bug eines schwachen Segelschiffes
dem mächtigsten Dampfer den Todesstoß geben kann. Schöner, größer, stärker
als die Elbe war die Oregon der englischen Cunardgesellschaft (1886), und
dennoch gereichte ihr die Begegnung mit einem kleinen hölzernen Kohlenschiffe
zum Verderben. An der amerikanischen Küste, angesichts eines Leuchtturmes,
rannte der Kohlenschuner, dessen Lichter anscheinend nicht richtig brannten,
der mit Volldampf fahrenden Oregon in die Flanke und riß ihr unter der
Wasserlinie ein gewaltiges Loch. Der Schuler verschwand fast unmittelbar
darauf mit Mann und Maus, die Oregon vermochte noch etwa acht Stunden
zu schwimmen, dank dem Umstände, daß der Stoß zunächst die Kohlenbunker
getroffen hatte und dadurch geschwächt worden war. Die Maschinisten fanden
Zeit, die nach dem Maschinenranm führenden Thüren zu schließen. Die Boote
konnten bequem "klar gemacht" werden. Zwei in der Nähe kreuzende kleine
Segelfahrzeuge kamen auf Signal heran und nahmen die Schiffbrüchigen auf:
240 Kajütenfahrgäste, 389 aus dem Zwischendeck und 255 Mann Besatzung
(100 Mann mehr, als die Elbe führte). Alles ging in der glattesten Weise
von statten, und bald kam ein Llohddampfer vorüber, der den übervollen
Seglern die Menschenlast abnahm. Fürwahr ein seltnes Zusammentreffen
günstiger Umstünde! Wie viel grausamer verfuhr das Schicksal mit der Elbe,
die es mit dem Eisensteven eines Dampfers zu thun hatte und einsam versinken
mußte, ohne sich auf ihre Hilfsmittel besinnen zu können!

Der Untergang der Oregon erregte in den Kreisen der Sachverständigen
das größte Aufsehen; hätten die Schotten das von ihnen erwartete geleistet,
so durfte das Schiff nicht versinken. Auch bei der Elbe wird man nicht ver¬
fehlen, nach dem Werte der Schotten zu fragen. Als vor einigen Jahren dem
Llohddampfer Spree die Schraubenwelle in der Stopfbüchse zersprungen und
das Hinterschiff bedeutend verletzt worden war, wehrte das nächste Schott er¬
folgreich dem Zudrange des Wassers; die zu schützende Fläche war verhältnis¬
mäßig klein, weil sich die Schiffe nach den Enden hin verjüngen. Die Oregon
sowohl wie die Elbe aber wurde in der Gegend ihrer größten Breite ver¬
wundet, das von den Schotten gehaltn" Waffer strebte mit gewaltigem Druck
nach Ausdehnung. Mehr als einmal hat man schon darauf hingewiesen, daß
die Prüfung der Widerstandsfähigkeit der Schotten nicht bei theoretischen Be¬
rechnungen stehen bleiben dürfe, sondern daß die eine oder andre Abteilung
thatsächlich mit Wasser gefüllt werden müsse. In zahlreichen Unglücksfällen
haben die Schotten nachgegeben, oder ihre Zahl war im Verhältnis zur Neserve-
schwimmkraft, die bei den Schnelldampfern mindestens ein Drittel der Gesamt¬
schwimmkraft beträgt, nicht ausreichend. Je mächtiger das Schiff ist, desto
eher wird es, bei sonst gleicher Größe der wasserdichten Abteilungen, ein¬
gedrungne Wassermassen tragen können. So hielt sich z. B. der englisch-ameri¬
kanische Dampfer Cith of Paris (1890), der an Rcmmgehalt die Elbe um


Der Untergang der Lide

doch die Erfahrung gezeigt, daß schon der Bug eines schwachen Segelschiffes
dem mächtigsten Dampfer den Todesstoß geben kann. Schöner, größer, stärker
als die Elbe war die Oregon der englischen Cunardgesellschaft (1886), und
dennoch gereichte ihr die Begegnung mit einem kleinen hölzernen Kohlenschiffe
zum Verderben. An der amerikanischen Küste, angesichts eines Leuchtturmes,
rannte der Kohlenschuner, dessen Lichter anscheinend nicht richtig brannten,
der mit Volldampf fahrenden Oregon in die Flanke und riß ihr unter der
Wasserlinie ein gewaltiges Loch. Der Schuler verschwand fast unmittelbar
darauf mit Mann und Maus, die Oregon vermochte noch etwa acht Stunden
zu schwimmen, dank dem Umstände, daß der Stoß zunächst die Kohlenbunker
getroffen hatte und dadurch geschwächt worden war. Die Maschinisten fanden
Zeit, die nach dem Maschinenranm führenden Thüren zu schließen. Die Boote
konnten bequem „klar gemacht" werden. Zwei in der Nähe kreuzende kleine
Segelfahrzeuge kamen auf Signal heran und nahmen die Schiffbrüchigen auf:
240 Kajütenfahrgäste, 389 aus dem Zwischendeck und 255 Mann Besatzung
(100 Mann mehr, als die Elbe führte). Alles ging in der glattesten Weise
von statten, und bald kam ein Llohddampfer vorüber, der den übervollen
Seglern die Menschenlast abnahm. Fürwahr ein seltnes Zusammentreffen
günstiger Umstünde! Wie viel grausamer verfuhr das Schicksal mit der Elbe,
die es mit dem Eisensteven eines Dampfers zu thun hatte und einsam versinken
mußte, ohne sich auf ihre Hilfsmittel besinnen zu können!

Der Untergang der Oregon erregte in den Kreisen der Sachverständigen
das größte Aufsehen; hätten die Schotten das von ihnen erwartete geleistet,
so durfte das Schiff nicht versinken. Auch bei der Elbe wird man nicht ver¬
fehlen, nach dem Werte der Schotten zu fragen. Als vor einigen Jahren dem
Llohddampfer Spree die Schraubenwelle in der Stopfbüchse zersprungen und
das Hinterschiff bedeutend verletzt worden war, wehrte das nächste Schott er¬
folgreich dem Zudrange des Wassers; die zu schützende Fläche war verhältnis¬
mäßig klein, weil sich die Schiffe nach den Enden hin verjüngen. Die Oregon
sowohl wie die Elbe aber wurde in der Gegend ihrer größten Breite ver¬
wundet, das von den Schotten gehaltn« Waffer strebte mit gewaltigem Druck
nach Ausdehnung. Mehr als einmal hat man schon darauf hingewiesen, daß
die Prüfung der Widerstandsfähigkeit der Schotten nicht bei theoretischen Be¬
rechnungen stehen bleiben dürfe, sondern daß die eine oder andre Abteilung
thatsächlich mit Wasser gefüllt werden müsse. In zahlreichen Unglücksfällen
haben die Schotten nachgegeben, oder ihre Zahl war im Verhältnis zur Neserve-
schwimmkraft, die bei den Schnelldampfern mindestens ein Drittel der Gesamt¬
schwimmkraft beträgt, nicht ausreichend. Je mächtiger das Schiff ist, desto
eher wird es, bei sonst gleicher Größe der wasserdichten Abteilungen, ein¬
gedrungne Wassermassen tragen können. So hielt sich z. B. der englisch-ameri¬
kanische Dampfer Cith of Paris (1890), der an Rcmmgehalt die Elbe um


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[0358] Der Untergang der Lide doch die Erfahrung gezeigt, daß schon der Bug eines schwachen Segelschiffes dem mächtigsten Dampfer den Todesstoß geben kann. Schöner, größer, stärker als die Elbe war die Oregon der englischen Cunardgesellschaft (1886), und dennoch gereichte ihr die Begegnung mit einem kleinen hölzernen Kohlenschiffe zum Verderben. An der amerikanischen Küste, angesichts eines Leuchtturmes, rannte der Kohlenschuner, dessen Lichter anscheinend nicht richtig brannten, der mit Volldampf fahrenden Oregon in die Flanke und riß ihr unter der Wasserlinie ein gewaltiges Loch. Der Schuler verschwand fast unmittelbar darauf mit Mann und Maus, die Oregon vermochte noch etwa acht Stunden zu schwimmen, dank dem Umstände, daß der Stoß zunächst die Kohlenbunker getroffen hatte und dadurch geschwächt worden war. Die Maschinisten fanden Zeit, die nach dem Maschinenranm führenden Thüren zu schließen. Die Boote konnten bequem „klar gemacht" werden. Zwei in der Nähe kreuzende kleine Segelfahrzeuge kamen auf Signal heran und nahmen die Schiffbrüchigen auf: 240 Kajütenfahrgäste, 389 aus dem Zwischendeck und 255 Mann Besatzung (100 Mann mehr, als die Elbe führte). Alles ging in der glattesten Weise von statten, und bald kam ein Llohddampfer vorüber, der den übervollen Seglern die Menschenlast abnahm. Fürwahr ein seltnes Zusammentreffen günstiger Umstünde! Wie viel grausamer verfuhr das Schicksal mit der Elbe, die es mit dem Eisensteven eines Dampfers zu thun hatte und einsam versinken mußte, ohne sich auf ihre Hilfsmittel besinnen zu können! Der Untergang der Oregon erregte in den Kreisen der Sachverständigen das größte Aufsehen; hätten die Schotten das von ihnen erwartete geleistet, so durfte das Schiff nicht versinken. Auch bei der Elbe wird man nicht ver¬ fehlen, nach dem Werte der Schotten zu fragen. Als vor einigen Jahren dem Llohddampfer Spree die Schraubenwelle in der Stopfbüchse zersprungen und das Hinterschiff bedeutend verletzt worden war, wehrte das nächste Schott er¬ folgreich dem Zudrange des Wassers; die zu schützende Fläche war verhältnis¬ mäßig klein, weil sich die Schiffe nach den Enden hin verjüngen. Die Oregon sowohl wie die Elbe aber wurde in der Gegend ihrer größten Breite ver¬ wundet, das von den Schotten gehaltn« Waffer strebte mit gewaltigem Druck nach Ausdehnung. Mehr als einmal hat man schon darauf hingewiesen, daß die Prüfung der Widerstandsfähigkeit der Schotten nicht bei theoretischen Be¬ rechnungen stehen bleiben dürfe, sondern daß die eine oder andre Abteilung thatsächlich mit Wasser gefüllt werden müsse. In zahlreichen Unglücksfällen haben die Schotten nachgegeben, oder ihre Zahl war im Verhältnis zur Neserve- schwimmkraft, die bei den Schnelldampfern mindestens ein Drittel der Gesamt¬ schwimmkraft beträgt, nicht ausreichend. Je mächtiger das Schiff ist, desto eher wird es, bei sonst gleicher Größe der wasserdichten Abteilungen, ein¬ gedrungne Wassermassen tragen können. So hielt sich z. B. der englisch-ameri¬ kanische Dampfer Cith of Paris (1890), der an Rcmmgehalt die Elbe um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/358>, abgerufen am 16.06.2024.