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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Noch ein Wort über Irrsinns erklärung

In dem Leitsätze Ur. 5->. wird gesagt, daß für die Entscheidung im Ent-
mündigungsverfahreu nicht der medizinische Krankheitsbegriff, sondern die Frage
der rechtsgeschäftlichen Handlungsfähigkeit maßgebend sein müsse. Was soll
das heißen? Stellen etwa die Mediziner einen Begriff ^von Geisteskrankheit
auf, wonach diese nicht nach den Handlungen des Menschen, sondern nach
etwas anderen zu beurteilen wäre? Das ist doch kaum zu glauben. Oder
soll etwa, wenn die Handlungen eines Menschen seine Geisteskrankheit er¬
geben, auch noch seine rechtsgeschäftliche Handlungsfähigkeit einer besondern
Untersuchung unterworfen werden? Soll also z. B. der Irrsinnige, wenn
sein Zustand von der Art ist, daß er alle Welt mit Verbrechen bedroht,
doch einstweilen freibleiben, weil er noch keine unvernünftigen Rechtsgeschäfte
abgeschlossen hat?

Der Kernpunkt der ganzen Aufstellung freilich liegt in dem Satze Ur. 5d:
"Die Entmündigung kann nur durch die Entmündigungskammer des Land¬
gerichts ausgesprochen werden. Diese wird gebildet aus einer Zivilkammer des
Landgerichts und vier zur Entscheidung unberufner Beisitzern aus dem Laien¬
stande." Neben diesem Satze kann man alles übrige wohl als bloßes Beiwerk
betrachten. Verstehen wir den Satz recht, so soll damit der ganze bisherige
Apparat sür den Ausspruch der Entmündigung über Bord geworfen und dnrch
den alleinigen Spruch der "Entmündigungskammer" ersetzt werden. Jetzt findet
die Entmündigung in folgender Weise statt. Den ersten Ausspruch auf den
Entmündigungscmtrag hat das Amtsgericht als Gericht der freiwilligen Ge¬
richtsbarkeit zu geben. Auf diese Weise wurde bisher die große Mehrzahl der
Entmündignngssachen einfach und ohne große Kosten erledigt. Sind die Be¬
teiligten mit dem Ausspruche der Entmündigung durch das Amtsgericht uicht
zufrieden, so können sie ihn durch die förmliche Klage beim Landgerichte an¬
fechten. Nun treten zwei Anwälte ans; es werden die ordentlichen Gerichts¬
kosten erhoben, die Sache wird also kostspielig. Auch können die höhern In¬
stanzen, Oberlandesgericht und Reichsgericht, angegangen werden. Es be¬
stehen hiernach für die Frage der Entmündigung zur Zeit drei oder, wenn
man die Entscheidung des Reichsgerichts, das allerdings auf Rechtsfragen be¬
schränkt ist, mitzählen will, vier Instanzen. Glücklicherweise kommen diese nur
selten zur Anwendung. Nach den in Preußen gemachten Erfahrungen haben
bisher in 99,17 Prozent der Fälle die Beteiligten sich bei der Entscheidung
des Amtsgerichts beruhigt; und nur in 0,8,'! Prozent der Fälle ist die An¬
fechtungsklage erhoben worden. An die Stelle dieses ganzen Apparats soll
nun -- so muß man annehmen -- die eine Landgerichtskammer treten, die
aber als "Entmündigungskammer" durch den Hinzutritt von vier Laien ver¬
mehrt werden soll.

Damit wäre zunächst die Instanz der freiwilligen Gerichtsbarkeit beim
Amtsgericht beseitigt, und alle Sachen , auch die ganz unzweifelhaften, wären


Noch ein Wort über Irrsinns erklärung

In dem Leitsätze Ur. 5->. wird gesagt, daß für die Entscheidung im Ent-
mündigungsverfahreu nicht der medizinische Krankheitsbegriff, sondern die Frage
der rechtsgeschäftlichen Handlungsfähigkeit maßgebend sein müsse. Was soll
das heißen? Stellen etwa die Mediziner einen Begriff ^von Geisteskrankheit
auf, wonach diese nicht nach den Handlungen des Menschen, sondern nach
etwas anderen zu beurteilen wäre? Das ist doch kaum zu glauben. Oder
soll etwa, wenn die Handlungen eines Menschen seine Geisteskrankheit er¬
geben, auch noch seine rechtsgeschäftliche Handlungsfähigkeit einer besondern
Untersuchung unterworfen werden? Soll also z. B. der Irrsinnige, wenn
sein Zustand von der Art ist, daß er alle Welt mit Verbrechen bedroht,
doch einstweilen freibleiben, weil er noch keine unvernünftigen Rechtsgeschäfte
abgeschlossen hat?

Der Kernpunkt der ganzen Aufstellung freilich liegt in dem Satze Ur. 5d:
„Die Entmündigung kann nur durch die Entmündigungskammer des Land¬
gerichts ausgesprochen werden. Diese wird gebildet aus einer Zivilkammer des
Landgerichts und vier zur Entscheidung unberufner Beisitzern aus dem Laien¬
stande." Neben diesem Satze kann man alles übrige wohl als bloßes Beiwerk
betrachten. Verstehen wir den Satz recht, so soll damit der ganze bisherige
Apparat sür den Ausspruch der Entmündigung über Bord geworfen und dnrch
den alleinigen Spruch der „Entmündigungskammer" ersetzt werden. Jetzt findet
die Entmündigung in folgender Weise statt. Den ersten Ausspruch auf den
Entmündigungscmtrag hat das Amtsgericht als Gericht der freiwilligen Ge¬
richtsbarkeit zu geben. Auf diese Weise wurde bisher die große Mehrzahl der
Entmündignngssachen einfach und ohne große Kosten erledigt. Sind die Be¬
teiligten mit dem Ausspruche der Entmündigung durch das Amtsgericht uicht
zufrieden, so können sie ihn durch die förmliche Klage beim Landgerichte an¬
fechten. Nun treten zwei Anwälte ans; es werden die ordentlichen Gerichts¬
kosten erhoben, die Sache wird also kostspielig. Auch können die höhern In¬
stanzen, Oberlandesgericht und Reichsgericht, angegangen werden. Es be¬
stehen hiernach für die Frage der Entmündigung zur Zeit drei oder, wenn
man die Entscheidung des Reichsgerichts, das allerdings auf Rechtsfragen be¬
schränkt ist, mitzählen will, vier Instanzen. Glücklicherweise kommen diese nur
selten zur Anwendung. Nach den in Preußen gemachten Erfahrungen haben
bisher in 99,17 Prozent der Fälle die Beteiligten sich bei der Entscheidung
des Amtsgerichts beruhigt; und nur in 0,8,'! Prozent der Fälle ist die An¬
fechtungsklage erhoben worden. An die Stelle dieses ganzen Apparats soll
nun — so muß man annehmen — die eine Landgerichtskammer treten, die
aber als „Entmündigungskammer" durch den Hinzutritt von vier Laien ver¬
mehrt werden soll.

Damit wäre zunächst die Instanz der freiwilligen Gerichtsbarkeit beim
Amtsgericht beseitigt, und alle Sachen , auch die ganz unzweifelhaften, wären


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[0414] Noch ein Wort über Irrsinns erklärung In dem Leitsätze Ur. 5->. wird gesagt, daß für die Entscheidung im Ent- mündigungsverfahreu nicht der medizinische Krankheitsbegriff, sondern die Frage der rechtsgeschäftlichen Handlungsfähigkeit maßgebend sein müsse. Was soll das heißen? Stellen etwa die Mediziner einen Begriff ^von Geisteskrankheit auf, wonach diese nicht nach den Handlungen des Menschen, sondern nach etwas anderen zu beurteilen wäre? Das ist doch kaum zu glauben. Oder soll etwa, wenn die Handlungen eines Menschen seine Geisteskrankheit er¬ geben, auch noch seine rechtsgeschäftliche Handlungsfähigkeit einer besondern Untersuchung unterworfen werden? Soll also z. B. der Irrsinnige, wenn sein Zustand von der Art ist, daß er alle Welt mit Verbrechen bedroht, doch einstweilen freibleiben, weil er noch keine unvernünftigen Rechtsgeschäfte abgeschlossen hat? Der Kernpunkt der ganzen Aufstellung freilich liegt in dem Satze Ur. 5d: „Die Entmündigung kann nur durch die Entmündigungskammer des Land¬ gerichts ausgesprochen werden. Diese wird gebildet aus einer Zivilkammer des Landgerichts und vier zur Entscheidung unberufner Beisitzern aus dem Laien¬ stande." Neben diesem Satze kann man alles übrige wohl als bloßes Beiwerk betrachten. Verstehen wir den Satz recht, so soll damit der ganze bisherige Apparat sür den Ausspruch der Entmündigung über Bord geworfen und dnrch den alleinigen Spruch der „Entmündigungskammer" ersetzt werden. Jetzt findet die Entmündigung in folgender Weise statt. Den ersten Ausspruch auf den Entmündigungscmtrag hat das Amtsgericht als Gericht der freiwilligen Ge¬ richtsbarkeit zu geben. Auf diese Weise wurde bisher die große Mehrzahl der Entmündignngssachen einfach und ohne große Kosten erledigt. Sind die Be¬ teiligten mit dem Ausspruche der Entmündigung durch das Amtsgericht uicht zufrieden, so können sie ihn durch die förmliche Klage beim Landgerichte an¬ fechten. Nun treten zwei Anwälte ans; es werden die ordentlichen Gerichts¬ kosten erhoben, die Sache wird also kostspielig. Auch können die höhern In¬ stanzen, Oberlandesgericht und Reichsgericht, angegangen werden. Es be¬ stehen hiernach für die Frage der Entmündigung zur Zeit drei oder, wenn man die Entscheidung des Reichsgerichts, das allerdings auf Rechtsfragen be¬ schränkt ist, mitzählen will, vier Instanzen. Glücklicherweise kommen diese nur selten zur Anwendung. Nach den in Preußen gemachten Erfahrungen haben bisher in 99,17 Prozent der Fälle die Beteiligten sich bei der Entscheidung des Amtsgerichts beruhigt; und nur in 0,8,'! Prozent der Fälle ist die An¬ fechtungsklage erhoben worden. An die Stelle dieses ganzen Apparats soll nun — so muß man annehmen — die eine Landgerichtskammer treten, die aber als „Entmündigungskammer" durch den Hinzutritt von vier Laien ver¬ mehrt werden soll. Damit wäre zunächst die Instanz der freiwilligen Gerichtsbarkeit beim Amtsgericht beseitigt, und alle Sachen , auch die ganz unzweifelhaften, wären

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/414>, abgerufen am 16.06.2024.