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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Vie Wissenschaft

mit dem komplizirtesten Organismus, mit dem menschlichen, beginnt, recht¬
fertigt sich aus dem Grunde, daß dieser der einzige ist, bei dessen Erforschung
wir nicht bloß ans unsre Sinne angewiesen sind, in dessen innerstes Wesen
wir gleichzeitig noch von einer andern Seite her eindringen -- durch die
Selbstbeobachtung, den innern Sinn, um der von außen vordringenden Physik
die Hand zu reichen." Auf diese Auseinandersetzung sagt Herr Dubois-Reh-
mvnd: "Ich muß gestehen, daß es mir unmöglich ist, mit ihr einen Sinn zu
verbinden," worauf ihn Carriere fragt: "Aber ist er denn nicht selbst lebendig,
und hat er nicht sein Lebensgefühl, das er nicht mit Augen außer sich sieht,
aber in sich spürt? Und erfaßt er sich nicht als Ich, und ist er damit nicht seiner
Selbstbestimmung inne?" Ich überlasse die Beantwortung dieser Fragen
Herrn Dubois-Rehmvnd oder dein Leser, füge aber noch hinzu: Unser Ich
erkennt (denkt) uicht allein, nein, es fühlt anch und will. Giebt es einen
Naturforscher, der diese Thatsache leugnet? Schwerlich. Wenn es also eine
Thatsache ist und die Naturforschung die Aufgabe hat, Thatsachen zu ermitteln,
zu beobachten und unter das Gesetz zu bringen, warum macht sie Halt vor
der Aufgabe, das Ich eben dieser Untersuchung zu unterwerfen? Bisher
lautete die Antwort: Wir untersuchen das Ich deshalb nicht, weil es keine
äußere, sondern eine innere Thatsache, eine Thatsache des Bewußtseins ist,
die wir nicht mit unsern fünf Sinnen, sondern nur mit dem innern Sinn be¬
obachten können. Heute ist aber dieser Zwang oder diese Bescheidenheit, die
sich die Naturforschung auferlegt, nicht mehr angebracht; verzichtet sie noch
weiter auf die Untersuchung des einen von zwei gleich wichtigen Teilen der
Untersuchung, so unterschreibt sie selbst die BankrvtterMrnng, die man ihr ans
dem einen Gebiet mit Unrecht aufhalste. Freilich sagen die Exakten: Es ist
das alte Gespenst des Vitalismus, das aus seinem lange verschlossenen Grabe
wieder aufersteht, um die Sinne zu verwirren und verhängnisvolle Wahn¬
ideen zu erzeugen. Ich aber sage: Es ist der menschliche Geist selbst, der seine Auf¬
erstehung feiert und sich der Außenwelt gegenüber wieder zur Geltung bringt: es
ist das Ich, das sich auf sein Selbstbewußtsein und seine Einheitlichkeit besinnt
und sich wieder bewußt wird, daß es etwas mehr ist, als ein Komplex von Ato¬
men, deren Bewegungen durch ihre von der Zeit unabhängigen Zentralkräfte be¬
wirkt werden. Visher hat das Ich, der Egoismus, seine Triumphe in der Außen¬
welt gefeiert und neben den wunderbaren Fortschritten der Kultur Zustände ge¬
schaffen, die die menschliche Gesellschaft an den Rand des Verderbens gebracht
haben; das sich nach innen richtende Ich, der Egoismus der Zukunft, wird das
Gefühl der Persönlichkeit und der Selbstverantwortlichkeit wieder erstarken und
die Seiten des menschlichen Seins wieder aufleben lasten, die im Ringen nach
der Beherrschung und Unterwerfung der Natur nur zu sehr in deu Hintergrund
gedrängt waren, die Sittlichkeit und den Willen. Möge es der "Wissenschaft"
vergönnt sein, an dieser Aufgabe erfolgreich mitzuarbeiten!




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Vie Wissenschaft

mit dem komplizirtesten Organismus, mit dem menschlichen, beginnt, recht¬
fertigt sich aus dem Grunde, daß dieser der einzige ist, bei dessen Erforschung
wir nicht bloß ans unsre Sinne angewiesen sind, in dessen innerstes Wesen
wir gleichzeitig noch von einer andern Seite her eindringen — durch die
Selbstbeobachtung, den innern Sinn, um der von außen vordringenden Physik
die Hand zu reichen." Auf diese Auseinandersetzung sagt Herr Dubois-Reh-
mvnd: „Ich muß gestehen, daß es mir unmöglich ist, mit ihr einen Sinn zu
verbinden," worauf ihn Carriere fragt: „Aber ist er denn nicht selbst lebendig,
und hat er nicht sein Lebensgefühl, das er nicht mit Augen außer sich sieht,
aber in sich spürt? Und erfaßt er sich nicht als Ich, und ist er damit nicht seiner
Selbstbestimmung inne?" Ich überlasse die Beantwortung dieser Fragen
Herrn Dubois-Rehmvnd oder dein Leser, füge aber noch hinzu: Unser Ich
erkennt (denkt) uicht allein, nein, es fühlt anch und will. Giebt es einen
Naturforscher, der diese Thatsache leugnet? Schwerlich. Wenn es also eine
Thatsache ist und die Naturforschung die Aufgabe hat, Thatsachen zu ermitteln,
zu beobachten und unter das Gesetz zu bringen, warum macht sie Halt vor
der Aufgabe, das Ich eben dieser Untersuchung zu unterwerfen? Bisher
lautete die Antwort: Wir untersuchen das Ich deshalb nicht, weil es keine
äußere, sondern eine innere Thatsache, eine Thatsache des Bewußtseins ist,
die wir nicht mit unsern fünf Sinnen, sondern nur mit dem innern Sinn be¬
obachten können. Heute ist aber dieser Zwang oder diese Bescheidenheit, die
sich die Naturforschung auferlegt, nicht mehr angebracht; verzichtet sie noch
weiter auf die Untersuchung des einen von zwei gleich wichtigen Teilen der
Untersuchung, so unterschreibt sie selbst die BankrvtterMrnng, die man ihr ans
dem einen Gebiet mit Unrecht aufhalste. Freilich sagen die Exakten: Es ist
das alte Gespenst des Vitalismus, das aus seinem lange verschlossenen Grabe
wieder aufersteht, um die Sinne zu verwirren und verhängnisvolle Wahn¬
ideen zu erzeugen. Ich aber sage: Es ist der menschliche Geist selbst, der seine Auf¬
erstehung feiert und sich der Außenwelt gegenüber wieder zur Geltung bringt: es
ist das Ich, das sich auf sein Selbstbewußtsein und seine Einheitlichkeit besinnt
und sich wieder bewußt wird, daß es etwas mehr ist, als ein Komplex von Ato¬
men, deren Bewegungen durch ihre von der Zeit unabhängigen Zentralkräfte be¬
wirkt werden. Visher hat das Ich, der Egoismus, seine Triumphe in der Außen¬
welt gefeiert und neben den wunderbaren Fortschritten der Kultur Zustände ge¬
schaffen, die die menschliche Gesellschaft an den Rand des Verderbens gebracht
haben; das sich nach innen richtende Ich, der Egoismus der Zukunft, wird das
Gefühl der Persönlichkeit und der Selbstverantwortlichkeit wieder erstarken und
die Seiten des menschlichen Seins wieder aufleben lasten, die im Ringen nach
der Beherrschung und Unterwerfung der Natur nur zu sehr in deu Hintergrund
gedrängt waren, die Sittlichkeit und den Willen. Möge es der „Wissenschaft"
vergönnt sein, an dieser Aufgabe erfolgreich mitzuarbeiten!




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[0427] Vie Wissenschaft mit dem komplizirtesten Organismus, mit dem menschlichen, beginnt, recht¬ fertigt sich aus dem Grunde, daß dieser der einzige ist, bei dessen Erforschung wir nicht bloß ans unsre Sinne angewiesen sind, in dessen innerstes Wesen wir gleichzeitig noch von einer andern Seite her eindringen — durch die Selbstbeobachtung, den innern Sinn, um der von außen vordringenden Physik die Hand zu reichen." Auf diese Auseinandersetzung sagt Herr Dubois-Reh- mvnd: „Ich muß gestehen, daß es mir unmöglich ist, mit ihr einen Sinn zu verbinden," worauf ihn Carriere fragt: „Aber ist er denn nicht selbst lebendig, und hat er nicht sein Lebensgefühl, das er nicht mit Augen außer sich sieht, aber in sich spürt? Und erfaßt er sich nicht als Ich, und ist er damit nicht seiner Selbstbestimmung inne?" Ich überlasse die Beantwortung dieser Fragen Herrn Dubois-Rehmvnd oder dein Leser, füge aber noch hinzu: Unser Ich erkennt (denkt) uicht allein, nein, es fühlt anch und will. Giebt es einen Naturforscher, der diese Thatsache leugnet? Schwerlich. Wenn es also eine Thatsache ist und die Naturforschung die Aufgabe hat, Thatsachen zu ermitteln, zu beobachten und unter das Gesetz zu bringen, warum macht sie Halt vor der Aufgabe, das Ich eben dieser Untersuchung zu unterwerfen? Bisher lautete die Antwort: Wir untersuchen das Ich deshalb nicht, weil es keine äußere, sondern eine innere Thatsache, eine Thatsache des Bewußtseins ist, die wir nicht mit unsern fünf Sinnen, sondern nur mit dem innern Sinn be¬ obachten können. Heute ist aber dieser Zwang oder diese Bescheidenheit, die sich die Naturforschung auferlegt, nicht mehr angebracht; verzichtet sie noch weiter auf die Untersuchung des einen von zwei gleich wichtigen Teilen der Untersuchung, so unterschreibt sie selbst die BankrvtterMrnng, die man ihr ans dem einen Gebiet mit Unrecht aufhalste. Freilich sagen die Exakten: Es ist das alte Gespenst des Vitalismus, das aus seinem lange verschlossenen Grabe wieder aufersteht, um die Sinne zu verwirren und verhängnisvolle Wahn¬ ideen zu erzeugen. Ich aber sage: Es ist der menschliche Geist selbst, der seine Auf¬ erstehung feiert und sich der Außenwelt gegenüber wieder zur Geltung bringt: es ist das Ich, das sich auf sein Selbstbewußtsein und seine Einheitlichkeit besinnt und sich wieder bewußt wird, daß es etwas mehr ist, als ein Komplex von Ato¬ men, deren Bewegungen durch ihre von der Zeit unabhängigen Zentralkräfte be¬ wirkt werden. Visher hat das Ich, der Egoismus, seine Triumphe in der Außen¬ welt gefeiert und neben den wunderbaren Fortschritten der Kultur Zustände ge¬ schaffen, die die menschliche Gesellschaft an den Rand des Verderbens gebracht haben; das sich nach innen richtende Ich, der Egoismus der Zukunft, wird das Gefühl der Persönlichkeit und der Selbstverantwortlichkeit wieder erstarken und die Seiten des menschlichen Seins wieder aufleben lasten, die im Ringen nach der Beherrschung und Unterwerfung der Natur nur zu sehr in deu Hintergrund gedrängt waren, die Sittlichkeit und den Willen. Möge es der „Wissenschaft" vergönnt sein, an dieser Aufgabe erfolgreich mitzuarbeiten! G

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/427>, abgerufen am 12.05.2024.