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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft

und nicht der Psychologie meente. Der Grund liegt wohl in folgendem.
Erstens hielt er das, was mau früher als Philosophie bezeichnete, die Zu¬
sammenfassung und Verarbeitung des Gesamtwissens einer bestimmten Zeit zu
einem System, für Metaphysik, die er vollkommen und ausnahmslos verwarf;
sodann vermied er den Ausdruck Psychologie, weil mit ihr von alters her der
Begriff der Selbstbeobachtung verbunden und diese Selbstbeobachtung der
exakten Naturforschung stets als die Ursache zahlloser und unvermeidlicher
Irrtümer erschienen ist. Auch ist es bisher den Naturforschern stets leicht
geworden, alle auf Selbstbeobachtung beruhenden Philvpheme als trügerisch
nachzuweisen. Aber sie hat dabei den Fehler begangen, das Kind mit dem
Bade auszuschütten und von Untersuchungen abzusehen, die eine ebenso sichere
thatsächliche Unterlage haben wie die in der äußern Natur beobachteten That¬
sachen. In der That, die Existenz des "Ich," der selbstbewußten, sich selbst
bestimmenden, einheitlichen Persönlichkeit ist mindestens ebenso sicher, wie die
Existenz irgend eines außerhalb des Ichs befindlichen Dinges, ja ohne dies
einheitliche, alles außer ihm befindliche auf sich selbst beziehende und von sich
ausschließende Ich, ohne diese in allem Wechsel beständige Einheit konnte
weder von der Natur, noch von natürlichen Thatsachen, noch von Beob¬
achtung, noch von Induktion und Erkenntnis der Außendinge die Rede sein.

Ich möchte hier eine Stelle aus einer Polemik wiedergebe", die Moritz
Carriere in Ur. 17 der "Zukunft" mit Dubois-Reymond geführt hat, weil
sie den augenblicklichen Stand der Frage sehr gut kennzeichnet. Nachdem
Carriere mit Genugthuung das Wiederaufleben der vitalistischen Ausfassung
festgestellt hat, fährt er fort: "Weit hinaus über die Schüchternheit des ge¬
nannten Neovitalisten (Rindfleisch) geht Bunge, der Professor der physio¬
logischen Chemie in Basel. Dieser eröffnet sein Lehrbuch über seine Wissen¬
schaft mit einer Einleitung, in der er sagt: Wenn die Gegner des Vitalismus
behaupten, daß in den lebenden Wesen durchaus keine andern Faktoren wirk¬
sam seien als die Kräfte und Stoffe der unbelebten Natur, so muß ich diese
Lehre bestreiten. Daß wir an deu lebenden Wesen nichts andres erkennen,
das liegt einfach daran, daß wir zur Beobachtung der belebte" und unbelebten
Natur nur ein und dieselben Sinnesorgane benutzen, die gar nichts andres
perzipiren als einen beschränkten Kreis von Beweguugsvvrgängen. Zu er¬
warten, daß wir mit denselben Sinnen in der belebten Natur etwas andres
entdecke" könnten als in der unbelebten, das wäre allerdings nur Gedanken¬
losigkeit. Aber wir haben zur Beobachtung der belebten Natur einen Sinn
mehr, es ist der innere Sinn zur Beobachtung der Zustände und Vorgänge
des Bewußtseins. Der tiefste, der unmittelbarste Einblick, den wir gewinnen
in unser innerstes Wesen, zeigt uns Qualitäten der verschiedensten Art, zeigt
uns Dinge, die nicht räumlich geordnet sind, zeigt uns Vorgänge, die nichts
mit einem Mechanismus zu thun haben. Daß die physiologische Forschung


Die Wissenschaft

und nicht der Psychologie meente. Der Grund liegt wohl in folgendem.
Erstens hielt er das, was mau früher als Philosophie bezeichnete, die Zu¬
sammenfassung und Verarbeitung des Gesamtwissens einer bestimmten Zeit zu
einem System, für Metaphysik, die er vollkommen und ausnahmslos verwarf;
sodann vermied er den Ausdruck Psychologie, weil mit ihr von alters her der
Begriff der Selbstbeobachtung verbunden und diese Selbstbeobachtung der
exakten Naturforschung stets als die Ursache zahlloser und unvermeidlicher
Irrtümer erschienen ist. Auch ist es bisher den Naturforschern stets leicht
geworden, alle auf Selbstbeobachtung beruhenden Philvpheme als trügerisch
nachzuweisen. Aber sie hat dabei den Fehler begangen, das Kind mit dem
Bade auszuschütten und von Untersuchungen abzusehen, die eine ebenso sichere
thatsächliche Unterlage haben wie die in der äußern Natur beobachteten That¬
sachen. In der That, die Existenz des „Ich," der selbstbewußten, sich selbst
bestimmenden, einheitlichen Persönlichkeit ist mindestens ebenso sicher, wie die
Existenz irgend eines außerhalb des Ichs befindlichen Dinges, ja ohne dies
einheitliche, alles außer ihm befindliche auf sich selbst beziehende und von sich
ausschließende Ich, ohne diese in allem Wechsel beständige Einheit konnte
weder von der Natur, noch von natürlichen Thatsachen, noch von Beob¬
achtung, noch von Induktion und Erkenntnis der Außendinge die Rede sein.

Ich möchte hier eine Stelle aus einer Polemik wiedergebe», die Moritz
Carriere in Ur. 17 der „Zukunft" mit Dubois-Reymond geführt hat, weil
sie den augenblicklichen Stand der Frage sehr gut kennzeichnet. Nachdem
Carriere mit Genugthuung das Wiederaufleben der vitalistischen Ausfassung
festgestellt hat, fährt er fort: „Weit hinaus über die Schüchternheit des ge¬
nannten Neovitalisten (Rindfleisch) geht Bunge, der Professor der physio¬
logischen Chemie in Basel. Dieser eröffnet sein Lehrbuch über seine Wissen¬
schaft mit einer Einleitung, in der er sagt: Wenn die Gegner des Vitalismus
behaupten, daß in den lebenden Wesen durchaus keine andern Faktoren wirk¬
sam seien als die Kräfte und Stoffe der unbelebten Natur, so muß ich diese
Lehre bestreiten. Daß wir an deu lebenden Wesen nichts andres erkennen,
das liegt einfach daran, daß wir zur Beobachtung der belebte» und unbelebten
Natur nur ein und dieselben Sinnesorgane benutzen, die gar nichts andres
perzipiren als einen beschränkten Kreis von Beweguugsvvrgängen. Zu er¬
warten, daß wir mit denselben Sinnen in der belebten Natur etwas andres
entdecke» könnten als in der unbelebten, das wäre allerdings nur Gedanken¬
losigkeit. Aber wir haben zur Beobachtung der belebten Natur einen Sinn
mehr, es ist der innere Sinn zur Beobachtung der Zustände und Vorgänge
des Bewußtseins. Der tiefste, der unmittelbarste Einblick, den wir gewinnen
in unser innerstes Wesen, zeigt uns Qualitäten der verschiedensten Art, zeigt
uns Dinge, die nicht räumlich geordnet sind, zeigt uns Vorgänge, die nichts
mit einem Mechanismus zu thun haben. Daß die physiologische Forschung


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[0426] Die Wissenschaft und nicht der Psychologie meente. Der Grund liegt wohl in folgendem. Erstens hielt er das, was mau früher als Philosophie bezeichnete, die Zu¬ sammenfassung und Verarbeitung des Gesamtwissens einer bestimmten Zeit zu einem System, für Metaphysik, die er vollkommen und ausnahmslos verwarf; sodann vermied er den Ausdruck Psychologie, weil mit ihr von alters her der Begriff der Selbstbeobachtung verbunden und diese Selbstbeobachtung der exakten Naturforschung stets als die Ursache zahlloser und unvermeidlicher Irrtümer erschienen ist. Auch ist es bisher den Naturforschern stets leicht geworden, alle auf Selbstbeobachtung beruhenden Philvpheme als trügerisch nachzuweisen. Aber sie hat dabei den Fehler begangen, das Kind mit dem Bade auszuschütten und von Untersuchungen abzusehen, die eine ebenso sichere thatsächliche Unterlage haben wie die in der äußern Natur beobachteten That¬ sachen. In der That, die Existenz des „Ich," der selbstbewußten, sich selbst bestimmenden, einheitlichen Persönlichkeit ist mindestens ebenso sicher, wie die Existenz irgend eines außerhalb des Ichs befindlichen Dinges, ja ohne dies einheitliche, alles außer ihm befindliche auf sich selbst beziehende und von sich ausschließende Ich, ohne diese in allem Wechsel beständige Einheit konnte weder von der Natur, noch von natürlichen Thatsachen, noch von Beob¬ achtung, noch von Induktion und Erkenntnis der Außendinge die Rede sein. Ich möchte hier eine Stelle aus einer Polemik wiedergebe», die Moritz Carriere in Ur. 17 der „Zukunft" mit Dubois-Reymond geführt hat, weil sie den augenblicklichen Stand der Frage sehr gut kennzeichnet. Nachdem Carriere mit Genugthuung das Wiederaufleben der vitalistischen Ausfassung festgestellt hat, fährt er fort: „Weit hinaus über die Schüchternheit des ge¬ nannten Neovitalisten (Rindfleisch) geht Bunge, der Professor der physio¬ logischen Chemie in Basel. Dieser eröffnet sein Lehrbuch über seine Wissen¬ schaft mit einer Einleitung, in der er sagt: Wenn die Gegner des Vitalismus behaupten, daß in den lebenden Wesen durchaus keine andern Faktoren wirk¬ sam seien als die Kräfte und Stoffe der unbelebten Natur, so muß ich diese Lehre bestreiten. Daß wir an deu lebenden Wesen nichts andres erkennen, das liegt einfach daran, daß wir zur Beobachtung der belebte» und unbelebten Natur nur ein und dieselben Sinnesorgane benutzen, die gar nichts andres perzipiren als einen beschränkten Kreis von Beweguugsvvrgängen. Zu er¬ warten, daß wir mit denselben Sinnen in der belebten Natur etwas andres entdecke» könnten als in der unbelebten, das wäre allerdings nur Gedanken¬ losigkeit. Aber wir haben zur Beobachtung der belebten Natur einen Sinn mehr, es ist der innere Sinn zur Beobachtung der Zustände und Vorgänge des Bewußtseins. Der tiefste, der unmittelbarste Einblick, den wir gewinnen in unser innerstes Wesen, zeigt uns Qualitäten der verschiedensten Art, zeigt uns Dinge, die nicht räumlich geordnet sind, zeigt uns Vorgänge, die nichts mit einem Mechanismus zu thun haben. Daß die physiologische Forschung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/426>, abgerufen am 26.05.2024.