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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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gangen ist. Die Voraussetzung der "Martinsklause" ist, daß zu Anfang des
zwölften Jahrhunderts Grafin Adelheid von Sulzbach auf dem Sterbebett ein
Gelübde ihrer Mutter erfüllt und dem Orden des heiligen Augustinus ein
großes Land geschenkt hat, das in stundenweiter Ferne von der Salzaburg
liegt. Als die Ordensbrüder zu Raiteubuch Umfrage halten, erfahren sie, "das
sei eine wilde und rauhe Gegend, von finstern, pfadlosen Wäldern bedeckt, um¬
schlossen von riesigen Bergen; wohl bringe der Sommer schöne Zeiten über das
Thal, doch unerträglich sei der Winter mit seinen Stürmen, seinem grimmigen
Frost und seinem alles erstickenden Schnee. Die wilden Tiere, Wölfe, Bären,
Sauen und Luchse, seien hier so zahlreich, wie im ebnen Land die Ziegen und
Schafe, und bewohnt sei das unwirtliche Land nur von ein paar hundert
Menschen, armseligen Hirten, Jägern und Fischern, die im zähen Kampfe mit
der rauhen Natur ein kümmerliches Leben fristeten, halb noch versunken in
der Nacht des Heidentums; über diese Menschen herrsche mit grausamer Strenge
ein Ministeriell der Grafen von Sulzbach, Herr Waze vom Falkenstein, der
zu der Botschaft, daß die seinem freien Schalten überlassene Landmark an das
Kloster gefallen wäre, hellauf gelacht hätte: Sie sollen nur kommen, die schwarzen
Kutten, und sollen mir nehmen, was mein ist!" Die Darstellung dieser Zu¬
stände und des allmählichen Sieges der geistlichen Gewalt verkörpert Gang-
hofer in dem Streit Eberweins, des ersten Propsts, gegen den gefürchteten
Zwingherrn Waze und dessen mißratne Söhne.

Die Vertrautheit des Erzählers mit dem Boden, auf dem seine Geschichte
spielt, und die natürliche Einfachheit der Gesetze, unter denen die ersten An¬
fänge des Kulturlebens zwischen diesen Bergen gestanden haben müssen, er¬
leichtert es, das Bild einer so weit zurück liegenden Zeit und so fremdartiger
Verhältnisse deutlich zu machen und uns nahe zu bringen. Auch gelingt es
Ganghofer in einigen glücklichen Episoden des Romans, der Abgeschiedenheit
dieses Weltwinkels und der Rauheit und Dürftigkeit der Zustände ein paar
eigentümliche poetische Motive abzugewinnen. Das eigentümlichste und er¬
greifendste ist der Konflikt zwischen dem greisen Lentpriester der Ramsau Hilti-
schalk und dem Propst Eberwein. Der arme Priester, der seit einem Halb-
jahrhundert dem Thale zum Segen gereicht und seit vierzig Jahren nichts
von der Außenwelt vernommen hat, lebt mit dem inzwischen gleichfalls zur
Greisin gewordnen Weibe seiner Jugend ohne Ahnung, daß seit Jahrzehnten
Papst Gregors strenges Gebot allen Priestern der Christenheit die Ehelosig¬
keit geboten und die noch verheirateten von ihren Frauen getrennt hat. Aus
Propst Eberweins Munde vernimmt er die Nachricht und seine Verdammung
zugleich, und die Trostlosigkeit des greisen Gottesmannes und der tragische
Untergang des aus seinem Idyll in den Weltwirbel zurückgerissenen Paares
wirken tief rührend. Mit poetischer Wahrheit läßt der Dichter dieses Geschick
Hiltischcilks zum Wendepunkt in Eberweins Innenleben werden -- der Propst


gangen ist. Die Voraussetzung der „Martinsklause" ist, daß zu Anfang des
zwölften Jahrhunderts Grafin Adelheid von Sulzbach auf dem Sterbebett ein
Gelübde ihrer Mutter erfüllt und dem Orden des heiligen Augustinus ein
großes Land geschenkt hat, das in stundenweiter Ferne von der Salzaburg
liegt. Als die Ordensbrüder zu Raiteubuch Umfrage halten, erfahren sie, „das
sei eine wilde und rauhe Gegend, von finstern, pfadlosen Wäldern bedeckt, um¬
schlossen von riesigen Bergen; wohl bringe der Sommer schöne Zeiten über das
Thal, doch unerträglich sei der Winter mit seinen Stürmen, seinem grimmigen
Frost und seinem alles erstickenden Schnee. Die wilden Tiere, Wölfe, Bären,
Sauen und Luchse, seien hier so zahlreich, wie im ebnen Land die Ziegen und
Schafe, und bewohnt sei das unwirtliche Land nur von ein paar hundert
Menschen, armseligen Hirten, Jägern und Fischern, die im zähen Kampfe mit
der rauhen Natur ein kümmerliches Leben fristeten, halb noch versunken in
der Nacht des Heidentums; über diese Menschen herrsche mit grausamer Strenge
ein Ministeriell der Grafen von Sulzbach, Herr Waze vom Falkenstein, der
zu der Botschaft, daß die seinem freien Schalten überlassene Landmark an das
Kloster gefallen wäre, hellauf gelacht hätte: Sie sollen nur kommen, die schwarzen
Kutten, und sollen mir nehmen, was mein ist!" Die Darstellung dieser Zu¬
stände und des allmählichen Sieges der geistlichen Gewalt verkörpert Gang-
hofer in dem Streit Eberweins, des ersten Propsts, gegen den gefürchteten
Zwingherrn Waze und dessen mißratne Söhne.

Die Vertrautheit des Erzählers mit dem Boden, auf dem seine Geschichte
spielt, und die natürliche Einfachheit der Gesetze, unter denen die ersten An¬
fänge des Kulturlebens zwischen diesen Bergen gestanden haben müssen, er¬
leichtert es, das Bild einer so weit zurück liegenden Zeit und so fremdartiger
Verhältnisse deutlich zu machen und uns nahe zu bringen. Auch gelingt es
Ganghofer in einigen glücklichen Episoden des Romans, der Abgeschiedenheit
dieses Weltwinkels und der Rauheit und Dürftigkeit der Zustände ein paar
eigentümliche poetische Motive abzugewinnen. Das eigentümlichste und er¬
greifendste ist der Konflikt zwischen dem greisen Lentpriester der Ramsau Hilti-
schalk und dem Propst Eberwein. Der arme Priester, der seit einem Halb-
jahrhundert dem Thale zum Segen gereicht und seit vierzig Jahren nichts
von der Außenwelt vernommen hat, lebt mit dem inzwischen gleichfalls zur
Greisin gewordnen Weibe seiner Jugend ohne Ahnung, daß seit Jahrzehnten
Papst Gregors strenges Gebot allen Priestern der Christenheit die Ehelosig¬
keit geboten und die noch verheirateten von ihren Frauen getrennt hat. Aus
Propst Eberweins Munde vernimmt er die Nachricht und seine Verdammung
zugleich, und die Trostlosigkeit des greisen Gottesmannes und der tragische
Untergang des aus seinem Idyll in den Weltwirbel zurückgerissenen Paares
wirken tief rührend. Mit poetischer Wahrheit läßt der Dichter dieses Geschick
Hiltischcilks zum Wendepunkt in Eberweins Innenleben werden — der Propst


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[0429] gangen ist. Die Voraussetzung der „Martinsklause" ist, daß zu Anfang des zwölften Jahrhunderts Grafin Adelheid von Sulzbach auf dem Sterbebett ein Gelübde ihrer Mutter erfüllt und dem Orden des heiligen Augustinus ein großes Land geschenkt hat, das in stundenweiter Ferne von der Salzaburg liegt. Als die Ordensbrüder zu Raiteubuch Umfrage halten, erfahren sie, „das sei eine wilde und rauhe Gegend, von finstern, pfadlosen Wäldern bedeckt, um¬ schlossen von riesigen Bergen; wohl bringe der Sommer schöne Zeiten über das Thal, doch unerträglich sei der Winter mit seinen Stürmen, seinem grimmigen Frost und seinem alles erstickenden Schnee. Die wilden Tiere, Wölfe, Bären, Sauen und Luchse, seien hier so zahlreich, wie im ebnen Land die Ziegen und Schafe, und bewohnt sei das unwirtliche Land nur von ein paar hundert Menschen, armseligen Hirten, Jägern und Fischern, die im zähen Kampfe mit der rauhen Natur ein kümmerliches Leben fristeten, halb noch versunken in der Nacht des Heidentums; über diese Menschen herrsche mit grausamer Strenge ein Ministeriell der Grafen von Sulzbach, Herr Waze vom Falkenstein, der zu der Botschaft, daß die seinem freien Schalten überlassene Landmark an das Kloster gefallen wäre, hellauf gelacht hätte: Sie sollen nur kommen, die schwarzen Kutten, und sollen mir nehmen, was mein ist!" Die Darstellung dieser Zu¬ stände und des allmählichen Sieges der geistlichen Gewalt verkörpert Gang- hofer in dem Streit Eberweins, des ersten Propsts, gegen den gefürchteten Zwingherrn Waze und dessen mißratne Söhne. Die Vertrautheit des Erzählers mit dem Boden, auf dem seine Geschichte spielt, und die natürliche Einfachheit der Gesetze, unter denen die ersten An¬ fänge des Kulturlebens zwischen diesen Bergen gestanden haben müssen, er¬ leichtert es, das Bild einer so weit zurück liegenden Zeit und so fremdartiger Verhältnisse deutlich zu machen und uns nahe zu bringen. Auch gelingt es Ganghofer in einigen glücklichen Episoden des Romans, der Abgeschiedenheit dieses Weltwinkels und der Rauheit und Dürftigkeit der Zustände ein paar eigentümliche poetische Motive abzugewinnen. Das eigentümlichste und er¬ greifendste ist der Konflikt zwischen dem greisen Lentpriester der Ramsau Hilti- schalk und dem Propst Eberwein. Der arme Priester, der seit einem Halb- jahrhundert dem Thale zum Segen gereicht und seit vierzig Jahren nichts von der Außenwelt vernommen hat, lebt mit dem inzwischen gleichfalls zur Greisin gewordnen Weibe seiner Jugend ohne Ahnung, daß seit Jahrzehnten Papst Gregors strenges Gebot allen Priestern der Christenheit die Ehelosig¬ keit geboten und die noch verheirateten von ihren Frauen getrennt hat. Aus Propst Eberweins Munde vernimmt er die Nachricht und seine Verdammung zugleich, und die Trostlosigkeit des greisen Gottesmannes und der tragische Untergang des aus seinem Idyll in den Weltwirbel zurückgerissenen Paares wirken tief rührend. Mit poetischer Wahrheit läßt der Dichter dieses Geschick Hiltischcilks zum Wendepunkt in Eberweins Innenleben werden — der Propst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/429>, abgerufen am 11.05.2024.