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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Französische Marinelitteratur

Um die Mitte der achtziger Jahre trat eine neue Gruppe von Fachleuten
in der französischen Marinelitteratur auf, die Mins "Zools. Ihr Haupt war
der Admiral Aube, der sich als litterarischen Adjutanten den geistreichen und
geschickten Schriftsteller Gabriel Charmes auserkoren hatte. Aube suchte zu
beweisen, daß die großen Panzerschiffe machtlos gegen schnelle kleine Angreifer,
gegen Torpedoboote und schnelle Kanonenboote seien. Die wichtigste Aufgabe
sah er im Krenzerkrieg; der feindliche Seehandel sollte zerstört werden, und
die feindlichen Küstenstädte, gleichviel ob befestigt oder nicht, sollten beschossen
werden, um die Bevölkerung zu schädigen und einzuschüchtern. Große Anzahl,
Geschwindigkeit und (möglichste) Unsichtbarst forderte er als wichtigste Eigen¬
schaften für die Seestreitkräfte. Dem Geschwaderkampf mit Panzerschiffen müsie
man bei Tage ausweichen; nachts sollten diese Schiffe angegriffen und zerstört
werden.

Aube starb, ehe er seine Ansichten zu festen Lehrsätzen ausbauen konnte.
Seine Jünger aber wuchsen beständig an Zahl und haben jetzt schon manchen
Graubart in ihren Reihen.

In jüngster Zeit haben zwei Seeoffiziere, der Kommandant Z - . . und
H. Montöchant, gemeinschaftlich mehrere Werke verfaßt, von denen das wich¬
tigste IZ88g,i als LtiÄtvgiö vavÄls hier etwas näher betrachtet werden soll. Das
Buch enthält eine ausführliche wissenschaftliche Seekriegskunst im Sinne des
Admirals Aube. In der Einleitung wird zunächst freimütig bekannt, daß Frank-
reich gegen jedes andre Volk mit stärkeren Seehandel einen Kaperkrieg zur
See führen müsse; denn der Kaperkrieg, der ja nur ein von der Kriegs¬
moral erlaubter Seeraub ist, schädigt Frankreichs Wohl nicht. Deshalb hat
Frankreich das Recht und die Pflicht zum eignen Vorteil nach Korsarenart zu
handeln (ä'vere vorssirs). Andre Völker sind über solche Unbarmherzigkeit zu¬
weilen entrüstet; aber sie zögern nicht, selbst herzlos zu handeln, wenn es ihr
Vorteil gebietet. Und ist es denn ein größeres Verbrechen, ein Handelsschiff
des Feindes in den Grund zu bohren, als eins seiner Kriegsschiffe? Der
Pariser Vertrag vom 15. April 1856 wird als ein unumstößliches Zeugnis
für die umständliche Einfalt (LoinpsiMsusö nig-iseriö) der Diplomaten be¬
zeichnet; dieser Vertrag handelt von der angenommnen und der wirklichen
Blockade und von der Abschaffung der Kaperei.

Die Verfasser nennen das Recht die Waffe der Macht, und die Macht
die Bestätigung des Nutzens. Die Geschichte der menschlichen Entwicklung ist
zugleich die Geschichte der größten menschlichen Machtentfaltung. Der Nutzen
wechselt mit den Zeiten, mit den Ländern, mit den Menschen und mit ihren
Sitten. Im Kriege herrscht die Gewalt; im Frieden droht der Mächtige, Ge¬
walt anzuwenden. Mit welchem Rechte hält z. B. England Cypern besetzt und
verwaltet Ägypten?

England fand es 1856 vorteilhaft, die Kaperei durch Vertrüge zu ver-


Französische Marinelitteratur

Um die Mitte der achtziger Jahre trat eine neue Gruppe von Fachleuten
in der französischen Marinelitteratur auf, die Mins «Zools. Ihr Haupt war
der Admiral Aube, der sich als litterarischen Adjutanten den geistreichen und
geschickten Schriftsteller Gabriel Charmes auserkoren hatte. Aube suchte zu
beweisen, daß die großen Panzerschiffe machtlos gegen schnelle kleine Angreifer,
gegen Torpedoboote und schnelle Kanonenboote seien. Die wichtigste Aufgabe
sah er im Krenzerkrieg; der feindliche Seehandel sollte zerstört werden, und
die feindlichen Küstenstädte, gleichviel ob befestigt oder nicht, sollten beschossen
werden, um die Bevölkerung zu schädigen und einzuschüchtern. Große Anzahl,
Geschwindigkeit und (möglichste) Unsichtbarst forderte er als wichtigste Eigen¬
schaften für die Seestreitkräfte. Dem Geschwaderkampf mit Panzerschiffen müsie
man bei Tage ausweichen; nachts sollten diese Schiffe angegriffen und zerstört
werden.

Aube starb, ehe er seine Ansichten zu festen Lehrsätzen ausbauen konnte.
Seine Jünger aber wuchsen beständig an Zahl und haben jetzt schon manchen
Graubart in ihren Reihen.

In jüngster Zeit haben zwei Seeoffiziere, der Kommandant Z - . . und
H. Montöchant, gemeinschaftlich mehrere Werke verfaßt, von denen das wich¬
tigste IZ88g,i als LtiÄtvgiö vavÄls hier etwas näher betrachtet werden soll. Das
Buch enthält eine ausführliche wissenschaftliche Seekriegskunst im Sinne des
Admirals Aube. In der Einleitung wird zunächst freimütig bekannt, daß Frank-
reich gegen jedes andre Volk mit stärkeren Seehandel einen Kaperkrieg zur
See führen müsse; denn der Kaperkrieg, der ja nur ein von der Kriegs¬
moral erlaubter Seeraub ist, schädigt Frankreichs Wohl nicht. Deshalb hat
Frankreich das Recht und die Pflicht zum eignen Vorteil nach Korsarenart zu
handeln (ä'vere vorssirs). Andre Völker sind über solche Unbarmherzigkeit zu¬
weilen entrüstet; aber sie zögern nicht, selbst herzlos zu handeln, wenn es ihr
Vorteil gebietet. Und ist es denn ein größeres Verbrechen, ein Handelsschiff
des Feindes in den Grund zu bohren, als eins seiner Kriegsschiffe? Der
Pariser Vertrag vom 15. April 1856 wird als ein unumstößliches Zeugnis
für die umständliche Einfalt (LoinpsiMsusö nig-iseriö) der Diplomaten be¬
zeichnet; dieser Vertrag handelt von der angenommnen und der wirklichen
Blockade und von der Abschaffung der Kaperei.

Die Verfasser nennen das Recht die Waffe der Macht, und die Macht
die Bestätigung des Nutzens. Die Geschichte der menschlichen Entwicklung ist
zugleich die Geschichte der größten menschlichen Machtentfaltung. Der Nutzen
wechselt mit den Zeiten, mit den Ländern, mit den Menschen und mit ihren
Sitten. Im Kriege herrscht die Gewalt; im Frieden droht der Mächtige, Ge¬
walt anzuwenden. Mit welchem Rechte hält z. B. England Cypern besetzt und
verwaltet Ägypten?

England fand es 1856 vorteilhaft, die Kaperei durch Vertrüge zu ver-


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[0452] Französische Marinelitteratur Um die Mitte der achtziger Jahre trat eine neue Gruppe von Fachleuten in der französischen Marinelitteratur auf, die Mins «Zools. Ihr Haupt war der Admiral Aube, der sich als litterarischen Adjutanten den geistreichen und geschickten Schriftsteller Gabriel Charmes auserkoren hatte. Aube suchte zu beweisen, daß die großen Panzerschiffe machtlos gegen schnelle kleine Angreifer, gegen Torpedoboote und schnelle Kanonenboote seien. Die wichtigste Aufgabe sah er im Krenzerkrieg; der feindliche Seehandel sollte zerstört werden, und die feindlichen Küstenstädte, gleichviel ob befestigt oder nicht, sollten beschossen werden, um die Bevölkerung zu schädigen und einzuschüchtern. Große Anzahl, Geschwindigkeit und (möglichste) Unsichtbarst forderte er als wichtigste Eigen¬ schaften für die Seestreitkräfte. Dem Geschwaderkampf mit Panzerschiffen müsie man bei Tage ausweichen; nachts sollten diese Schiffe angegriffen und zerstört werden. Aube starb, ehe er seine Ansichten zu festen Lehrsätzen ausbauen konnte. Seine Jünger aber wuchsen beständig an Zahl und haben jetzt schon manchen Graubart in ihren Reihen. In jüngster Zeit haben zwei Seeoffiziere, der Kommandant Z - . . und H. Montöchant, gemeinschaftlich mehrere Werke verfaßt, von denen das wich¬ tigste IZ88g,i als LtiÄtvgiö vavÄls hier etwas näher betrachtet werden soll. Das Buch enthält eine ausführliche wissenschaftliche Seekriegskunst im Sinne des Admirals Aube. In der Einleitung wird zunächst freimütig bekannt, daß Frank- reich gegen jedes andre Volk mit stärkeren Seehandel einen Kaperkrieg zur See führen müsse; denn der Kaperkrieg, der ja nur ein von der Kriegs¬ moral erlaubter Seeraub ist, schädigt Frankreichs Wohl nicht. Deshalb hat Frankreich das Recht und die Pflicht zum eignen Vorteil nach Korsarenart zu handeln (ä'vere vorssirs). Andre Völker sind über solche Unbarmherzigkeit zu¬ weilen entrüstet; aber sie zögern nicht, selbst herzlos zu handeln, wenn es ihr Vorteil gebietet. Und ist es denn ein größeres Verbrechen, ein Handelsschiff des Feindes in den Grund zu bohren, als eins seiner Kriegsschiffe? Der Pariser Vertrag vom 15. April 1856 wird als ein unumstößliches Zeugnis für die umständliche Einfalt (LoinpsiMsusö nig-iseriö) der Diplomaten be¬ zeichnet; dieser Vertrag handelt von der angenommnen und der wirklichen Blockade und von der Abschaffung der Kaperei. Die Verfasser nennen das Recht die Waffe der Macht, und die Macht die Bestätigung des Nutzens. Die Geschichte der menschlichen Entwicklung ist zugleich die Geschichte der größten menschlichen Machtentfaltung. Der Nutzen wechselt mit den Zeiten, mit den Ländern, mit den Menschen und mit ihren Sitten. Im Kriege herrscht die Gewalt; im Frieden droht der Mächtige, Ge¬ walt anzuwenden. Mit welchem Rechte hält z. B. England Cypern besetzt und verwaltet Ägypten? England fand es 1856 vorteilhaft, die Kaperei durch Vertrüge zu ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/452>, abgerufen am 11.05.2024.