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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Victor Ain6 Huber

den körperlichen Ekel hatte er auf seinen Reisen beinahe vollständig über¬
wunden. Ein solcher Mann wird nicht durch Kleinigkeiten gerührt. Dazu
kam seine tiefe Religiosität, die ihn das Kreuz als unerläßliches Erlösnngs-
mittel und die Sünde, die persönliche Schuld als die Grundursache aller
irdischen Übel ansehen ließ. Er hat es denn auch nicht daran fehlen lassen, den
Armen ihren Anteil an der Schuld vorzurücken. Der Pharisäismus der Reichen
freilich, die jenen alle Schuld allein aufbürden wollen, brachte ihn noch mehr
ans, und das Streben der Armen nach Besserung ihrer äußern Lage bezeich¬
nete er als sittliche Pflicht. Auf die spöttische Frage: "Ihr wollt Wohl gar,
die Leute sollen in Sammet und Seide gehen, Kuchen und Braten essen und
in der Kutsche fahren?" antwortete er bloß: "Warum nicht, wenn es ihnen
ihre Mittel erlauben?" Namentlich die Heuchelei der Engländer empörte ihn,
die sich ihres reinen Familienlebens und ihres Wahlspruchs: "Mein Haus ist
meine Burg" rühmten auf Kosten der Millionen, denen sie die Möglichkeit
eines geordneten Familienlebens geraubt hätten, und die das von ihnen an¬
gerichtete Elend grundsätzlich gar nicht sähen. Er eignet sich das Wort eines
englischen Prälaten an: "Redet von Sittlichkeit unter Menschen, die ohne
allen Unterschied der Geschlechter, des Alters, der Verwandtschaft Tag und
Nacht in einem engen Raum eingepfercht sind! Ebenso gut könntet ihr von
Reinlichkeit in einem Schweinstall und von klarem Wasser in einer Senkgrube
sprechen." Eben darum, weil die Übel aus persönlicher Schuld entsprängen,
schienen sie ihm heilbar zu sein. Aber er sah sich doch bald zu zwei Ein¬
schränkungen dieser Auffassung genötigt, deren eine soeben angedeutet worden
ist; er spricht sie einmal in den Worten ans: "Einen rein selbstverschuldeten
Pauperismus oder Kriminalismus, der die relative Mitschuld der Gesellschaft,
des Staats, in mehr oder weniger zahlreichen Vertretern ausschlösse, giebt es
eigentlich gar nicht." Und wenn er andrerseits aus der Erfahrung die Wahr¬
heit des Wortes Christi erkennt, daß derer, die den schmalen Weg gehen, in
allen Zeiten nur wenige sind, so ist doch damit eigentlich schon gesagt, daß
mau notwendige soziale und politische Reformen nicht von einer allgemeinen
religiös-sittliche" Erneuerung des Volkes erwarten dürfe, so wünschenswert
eine solche auch erscheinen möge. Es sind, schreibt er 1844 aus England von
dem dortigen Elend, nicht einzelne Fälle, nicht Hunderttausende, sondern sie
sind millionenweise. "Und was man auch sagen mag, dem ungeheuern Elend
könnte bei den ungeheuern Mitteln der Wenigen ohne große legislatorische
Maßnahmen abgeholfen werden, wenn -- eben nicht die Liebe fehlte."

Obwohl seine Neigung den ältern Lebensformen zugewandt bleibt, ist er
doch in keinem Sinne reaktionär. Er lacht über die Phantasten, die gegen
das Maschinenwesen, das Kapital und den modernen Staat eifern. Ich möchte
Wohl sehen, sagt er einmal, wie es der heutige Staat anfangen wollte, nicht
modern zu sein! Auch das Märchen der guten alten Zeit hat er gründlicher


Victor Ain6 Huber

den körperlichen Ekel hatte er auf seinen Reisen beinahe vollständig über¬
wunden. Ein solcher Mann wird nicht durch Kleinigkeiten gerührt. Dazu
kam seine tiefe Religiosität, die ihn das Kreuz als unerläßliches Erlösnngs-
mittel und die Sünde, die persönliche Schuld als die Grundursache aller
irdischen Übel ansehen ließ. Er hat es denn auch nicht daran fehlen lassen, den
Armen ihren Anteil an der Schuld vorzurücken. Der Pharisäismus der Reichen
freilich, die jenen alle Schuld allein aufbürden wollen, brachte ihn noch mehr
ans, und das Streben der Armen nach Besserung ihrer äußern Lage bezeich¬
nete er als sittliche Pflicht. Auf die spöttische Frage: „Ihr wollt Wohl gar,
die Leute sollen in Sammet und Seide gehen, Kuchen und Braten essen und
in der Kutsche fahren?" antwortete er bloß: „Warum nicht, wenn es ihnen
ihre Mittel erlauben?" Namentlich die Heuchelei der Engländer empörte ihn,
die sich ihres reinen Familienlebens und ihres Wahlspruchs: „Mein Haus ist
meine Burg" rühmten auf Kosten der Millionen, denen sie die Möglichkeit
eines geordneten Familienlebens geraubt hätten, und die das von ihnen an¬
gerichtete Elend grundsätzlich gar nicht sähen. Er eignet sich das Wort eines
englischen Prälaten an: „Redet von Sittlichkeit unter Menschen, die ohne
allen Unterschied der Geschlechter, des Alters, der Verwandtschaft Tag und
Nacht in einem engen Raum eingepfercht sind! Ebenso gut könntet ihr von
Reinlichkeit in einem Schweinstall und von klarem Wasser in einer Senkgrube
sprechen." Eben darum, weil die Übel aus persönlicher Schuld entsprängen,
schienen sie ihm heilbar zu sein. Aber er sah sich doch bald zu zwei Ein¬
schränkungen dieser Auffassung genötigt, deren eine soeben angedeutet worden
ist; er spricht sie einmal in den Worten ans: „Einen rein selbstverschuldeten
Pauperismus oder Kriminalismus, der die relative Mitschuld der Gesellschaft,
des Staats, in mehr oder weniger zahlreichen Vertretern ausschlösse, giebt es
eigentlich gar nicht." Und wenn er andrerseits aus der Erfahrung die Wahr¬
heit des Wortes Christi erkennt, daß derer, die den schmalen Weg gehen, in
allen Zeiten nur wenige sind, so ist doch damit eigentlich schon gesagt, daß
mau notwendige soziale und politische Reformen nicht von einer allgemeinen
religiös-sittliche» Erneuerung des Volkes erwarten dürfe, so wünschenswert
eine solche auch erscheinen möge. Es sind, schreibt er 1844 aus England von
dem dortigen Elend, nicht einzelne Fälle, nicht Hunderttausende, sondern sie
sind millionenweise. „Und was man auch sagen mag, dem ungeheuern Elend
könnte bei den ungeheuern Mitteln der Wenigen ohne große legislatorische
Maßnahmen abgeholfen werden, wenn — eben nicht die Liebe fehlte."

Obwohl seine Neigung den ältern Lebensformen zugewandt bleibt, ist er
doch in keinem Sinne reaktionär. Er lacht über die Phantasten, die gegen
das Maschinenwesen, das Kapital und den modernen Staat eifern. Ich möchte
Wohl sehen, sagt er einmal, wie es der heutige Staat anfangen wollte, nicht
modern zu sein! Auch das Märchen der guten alten Zeit hat er gründlicher


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[0469] Victor Ain6 Huber den körperlichen Ekel hatte er auf seinen Reisen beinahe vollständig über¬ wunden. Ein solcher Mann wird nicht durch Kleinigkeiten gerührt. Dazu kam seine tiefe Religiosität, die ihn das Kreuz als unerläßliches Erlösnngs- mittel und die Sünde, die persönliche Schuld als die Grundursache aller irdischen Übel ansehen ließ. Er hat es denn auch nicht daran fehlen lassen, den Armen ihren Anteil an der Schuld vorzurücken. Der Pharisäismus der Reichen freilich, die jenen alle Schuld allein aufbürden wollen, brachte ihn noch mehr ans, und das Streben der Armen nach Besserung ihrer äußern Lage bezeich¬ nete er als sittliche Pflicht. Auf die spöttische Frage: „Ihr wollt Wohl gar, die Leute sollen in Sammet und Seide gehen, Kuchen und Braten essen und in der Kutsche fahren?" antwortete er bloß: „Warum nicht, wenn es ihnen ihre Mittel erlauben?" Namentlich die Heuchelei der Engländer empörte ihn, die sich ihres reinen Familienlebens und ihres Wahlspruchs: „Mein Haus ist meine Burg" rühmten auf Kosten der Millionen, denen sie die Möglichkeit eines geordneten Familienlebens geraubt hätten, und die das von ihnen an¬ gerichtete Elend grundsätzlich gar nicht sähen. Er eignet sich das Wort eines englischen Prälaten an: „Redet von Sittlichkeit unter Menschen, die ohne allen Unterschied der Geschlechter, des Alters, der Verwandtschaft Tag und Nacht in einem engen Raum eingepfercht sind! Ebenso gut könntet ihr von Reinlichkeit in einem Schweinstall und von klarem Wasser in einer Senkgrube sprechen." Eben darum, weil die Übel aus persönlicher Schuld entsprängen, schienen sie ihm heilbar zu sein. Aber er sah sich doch bald zu zwei Ein¬ schränkungen dieser Auffassung genötigt, deren eine soeben angedeutet worden ist; er spricht sie einmal in den Worten ans: „Einen rein selbstverschuldeten Pauperismus oder Kriminalismus, der die relative Mitschuld der Gesellschaft, des Staats, in mehr oder weniger zahlreichen Vertretern ausschlösse, giebt es eigentlich gar nicht." Und wenn er andrerseits aus der Erfahrung die Wahr¬ heit des Wortes Christi erkennt, daß derer, die den schmalen Weg gehen, in allen Zeiten nur wenige sind, so ist doch damit eigentlich schon gesagt, daß mau notwendige soziale und politische Reformen nicht von einer allgemeinen religiös-sittliche» Erneuerung des Volkes erwarten dürfe, so wünschenswert eine solche auch erscheinen möge. Es sind, schreibt er 1844 aus England von dem dortigen Elend, nicht einzelne Fälle, nicht Hunderttausende, sondern sie sind millionenweise. „Und was man auch sagen mag, dem ungeheuern Elend könnte bei den ungeheuern Mitteln der Wenigen ohne große legislatorische Maßnahmen abgeholfen werden, wenn — eben nicht die Liebe fehlte." Obwohl seine Neigung den ältern Lebensformen zugewandt bleibt, ist er doch in keinem Sinne reaktionär. Er lacht über die Phantasten, die gegen das Maschinenwesen, das Kapital und den modernen Staat eifern. Ich möchte Wohl sehen, sagt er einmal, wie es der heutige Staat anfangen wollte, nicht modern zu sein! Auch das Märchen der guten alten Zeit hat er gründlicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/469>, abgerufen am 12.05.2024.